Dein digitales Lagerfeuer
Dein digitales Lagerfeuer

Anleitung für Ostern

«Hallo. Ich lebe noch. Die Schmerzen in der Brust sind weniger. Der Blutdruck geht nicht runter. EKG ist auffällig. Bin schlapp.»

Die Nachricht hat mein Vater um 23:24 Uhr geschickt. Davor und danach weitere Nachrichten in der Familiengruppe von meiner Mutter und meinen Schwestern.

Ich schlafe zu dem Zeitpunkt bereits.

Heute ist Ostern, mache etwas Österliches! Gehe in ein Krankenhaus. Vielleicht besuchst du dort jemanden. Oder deine Oma, die in dem Alterszentrum im Nachbarort wohnt. Begib dich an einen Ort, wo es ums Überleben geht. Wie sehen die Gesichter der Menschen aus?

Überleben

01:25 Uhr: «Herzinfarkt bestätigt. Morgen früh OP. Drückt bitte alle die Daumen, Mama.»

05:52 Uhr: «Nacht gut überstanden. Gegen 08:00 Uhr ist die OP. Melde mich, wenn es etwas Neues gibt, Mama.»

Das ist die erste Nachricht, die ich lese, als ich gegen halb 7 aufwache. Ich wasche mein Gesicht, streife mir Hose und Pullover über. Ein kurzes Telefonat mit den Schwestern, nein sie wissen auch nichts, Mama melde sich bestimmt.

Weil ich nicht weiss, was ich machen soll, fahre ich zur Arbeit. Ich habe keine Erfahrungen mit solchen Situationen. Und ich bin 1000km von meiner Familie entfernt. Also informiere ich meine Kolleg*innen und sitze den Rest des Vormittags am Schreibtisch. Klicke auf Websites. Tippe ein paar Sätze. Lösche sie wieder. Koche mir etwas heisses Wasser auf.

Der Mensch hat verschiedenste Überlebensmechanismen entwickelt. Sie sind ausgeklügelt. Zunächst erfolgt

«[…] eine Orientierungsreaktion als Reaktion auf unerwartete und potentiell bedrohliche Reize, einen Zustand der Mobilisation in Form von Kampf oder Flucht, wenn sich der Reiz tatsächlich als Bedrohung herausstellt und einen Zustand der Immobilisation in Form von Erstarrung oder Totstellen […] wenn die Bedrohung als so übermächtig eingeschätzt wird, dass Kampf und Flucht aussichtslos erscheinen.»

Wir sterben nicht so leicht. Der Körper ist darauf ausgelegt zu leben, die vielen kleine Rädchen, die Blutströme, die kontrahierenden Muskeln, das pumpende Herz, jede kleine Nervenfaser, die sich immer wieder erneuernden Hautzellen. Das alles lebt. Bewegt sich, will wachsen und pumpen und fühlen und verarbeiten. Sterben ist die letzte Option.

Im Büro müssen Briefe bestückt werden. Zettel sortieren und schauen, dass jeweils eins und eins zusammen in einen Umschlag, und dann Zehnerhäufchen machen. Gute Arbeit. Briefe in Umschläge schieben: Brief in Umschlag, Brief in Umschlag, Brief in Umschlag.

In der dritten Klasse wurde mir ein Zahn ausgeschlagen, mit 14 hatte ich eine Zerrung der Halsmuskulatur, mit 30 eine Depression, dazu diverse Liebeskummer inklusive Nervenzusammenbruch. Habe ich alles überlebt.

Als die Briefe bestückt sind, fahre ich heim. Um 11:08 Uhr kommt die Nachricht: OP gut überstanden, Mama. Mit 32 hatte mein Vater einen Herzinfarkt. Haben wir beide überlebt. Gut so.

Was hast du überlebt?

Unvollständig

Nicht alles, was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Manches überleben wir nur. Und manchmal muss das reichen. Denke ich noch in Erinnerung an diese Tage und den emotionalen Zustand, in dem ich war.

Mein Vater fährt jetzt wieder mehr Fahrrad. Ich wollte immer einen Motorrad-Führerschein machen. Steht zumindest auch auf der Liste, die gerade vor mir liegt. Darauf stehen noch weitere Dinge: Einen Gedichtband veröffentlichen. Auf einer Insel leben. Heiraten.

Erstelle eine Liste mit 25 Dingen, Ziele, Herausforderungen, Sachen, die du noch machen willst.

So weit, so gut. Jakobsweg pilgern. Musik produzieren. Eine Sauna besitzen. Nochmal etwas studieren. Diese Frage, wann ich eigentlich zufrieden, fertig, vollständig bin, geistert in meinem Kopf herum, als ich Mühe habe, auf 25 Dinge zu kommen, die ich noch machen/erreichen/fertig haben möchte.

Ich weiss, das diese Listen Quatsch sind. Denn neben den Dingen, die ich gerne erleben würde, stehen die Dinge, die ich überlebt habe, die irgendwie viel wichtiger sind und waren. Die vielen Morgen danach und Neuanfänge. Die Momente, die sich angefühlt haben wie eine Auferstehung, ein kleines Osterwunder. Und die Dinge mit denen ich lebe, jeden Tag.

Und jetzt wie wirkliche Aufgabe: Reduziere deine Liste auf 5 Dinge.

Vor zwei Jahren hat mich die Band Herrenmagazin mit ihren Texten in meiner Anleitung in den Karfreitag begleitet. Heute höre ich sie an Ostersonntag mit der Auferstehung im Kopf.

«Jetzt wo ich alles habe, was ich heimlich immer wollte, zerreiben mich die Tage, die Vergangenheit hat mich eingeholt, da ist immer eine Unruhe, die zerrt und an mir reisst und die mir erklären will, was ich längst schon weiss. Ich bin und bleibe ein Fragment.»

Ich ahne, dass meine Liste nicht erfüllt sein wird, wenn ich sterbe. Ich weiss nicht, ob mein Vater eine solche Liste hat, aber er hat immerhin einen Motorrad-Führerschein.

Der Mensch bleibt unvollständig – Jesus auch. Irgendetwas bleibt von unserem, von seinem Leben zurück, das Werk ist unfertig. Nicht alle haben ihn nochmal gesehen, nach Ostern. Nichts ist vollbracht – das war nur unsere Hoffnung. Gott mutet uns und ihrem Sohn ein unfertiges Leben zu. Und eine unfertige Auferstehung.

Auch das Osterfest bleibt unvollständig. Ein paar Eier bleiben immer ungefunden. Wir feiern, ohne dass das Versprechen gänzlich eingelöst wurde. Und auf meiner Liste kann ich von den 25 Dingen bisher auch nur Eines abhaken.

Geblendet

Suche die Sonne, richte dich nach ihr aus. Bist du geblendet? Setze dir eine Sonnenbrille auf und mache ein Foto von dir. Kannst du in deinem Gesicht sehen, wie du dich fühlst?

Heute ist Ostersonntag und die Sonne scheint ziemlich perfekt in mein Wohnzimmer. Wenn ich das Fenster ganz aufmache und mich dann im 90°-Winkel dazu auf meinen Fellteppich lege, kann ich mich bräunen, ohne vor die Tür zu müssen. Ich blicke kurz in die Sonne und schliesse die Augen. Ich lasse mich gerne blenden.

Vor mir zeichnet sich ein leuchtender Ball ab, die Ränder etwas verschwommen. Das Bild glimmt vor meinen Augen. Es ist ein rot-schwarzes Rauschen. Keine festen Konturen, nur eine Form, die sich abzeichnet und gleich wieder in ein Rauschen übergeht.

Im Licht ist alles zu sehen. Zumindest das, was ich zeigen will. Denn ich stelle mich ins rechte Licht, habe gelernt zu inszenieren und das Schöne zu beleuchten. Die Schatten spare ich aus, die trage ich in mir. Ich kann gut so tun als ob.

Lies Arezu Weitholz. In ihrem Roman «Hotel Paraiso» schreibt sie:

«Betrete ich ein besonders schönes Hotel oder Restaurant, denkt ein winziger Teil von mir jedes Mal: Eigentlich gehörst du hier gar nicht her. Eigentlich ist das nicht deine Welt. Du bist ein Aufschneider, ein Möchtegern. Mach, dass du Land gewinnst. Ich gebe dann vor, eine Spionin zu sein oder wenigsten eine Schauspielerin. Ich überlege mir vorher, mit welcher Stimme ich spreche, was ich anziehe, welche Handtasche ich mitnehme, immerhin ist Foie gras nicht das gleiche wie Leberwurst.»

Wie oft hat Jesus sich wohl als Hochstapler gefühlt? Und wusste er, wie es weitergeht?

Auf meinem Fellteppich durchleuchtet mich die Auferstehung, ich mache mich transparent. Mit meinem Hochstapler-Dasein. Meine Schatten liegen offen im warmem Licht.

Ostern blendet mich mit einem Versprechen. Von einer Erscheinung, die mir erzählt, dass mein Leben über dieses irdische Stolpern und Stümpern, über Listen und Herzinfarkte hinausgeht. Dieses Licht lasse ich mir nicht nehmen. Ostern heisst so tun als ob. Als hätte ich noch eine zweite Chance. So leben, als ob ich auferstehen werde. Zumindest will ich das glauben.

 

 

RefLab Autorin Janna Horstmann hat ausgehend von ihren Anleitungen das Buch “Ein gefühltes Jahr” geschrieben. Weitere Informationen dazu findet ihr auch auf der Seite des Verlags. Es erscheint am 28.04.25 und ist in allen Buchläden bestellbar.

Foto @unsplash

Herrenmagazin: Fragment, vom Album:

Zu den menschlichen Überlebensmechanismen: Adriana Burgstaller, Selbstverteidigung (mit der Methode von IMPACT SelbstSicherheit, Zürich) als therapiebegleitendes Angebot im Gebiet der Psychotraumatologie

Alle Beiträge zu «Anleitung für…»

1 Gedanke zu „Anleitung für Ostern“

  1. Ich gebe es gleich zu, diese folgenden Zeilen werden (eher) kein Kommentar. Und außerdem eine glatte Themaverfehlung.
    Und außerdem war, Liebe Janna, deine Anleitung für Ostern, dein “Fluten mit glimmenden Hoffnungsmomenten” (war das Ende der Serie nicht schon der Beitrag von Evelyne am 17. April?) ein wunderbarer Ostertext.
    Also nutze ich deinen Beitrag um einen ganz anderen Blick auf Ostern und auf die Tage zuvor zu werfen – Sprungbretterschleichung könnten man das auch nennen!
    Obwohl ich – katholisch sozialisiert – schon viele Kar-und Ostertage erfahren und erleben durfte, habe ich dieses Jahr 2025 einen neuen Blick auf die biblischen Schilderungen erfahren. Diese Erfahrung machen mich gerade zu einem Aktivisten, der zwischen Übermut und Demut hin-und-her schwangt.
    Also Spot an für meine erste Begegnung in diesen Tagen (und die vielleicht so überraschend kam, wie es die Nachrichten in der Familiengruppe für dich waren. Nur eben mit weniger weitreichender Bedeutung).:
    Da war eine Reportage in 3Sat über ein Projekt eines inklusiven Chors mit der Schweizer Schauspielerin Susanne Kunz. Ich bin Mitten in Folge drei gestolpert und habe die Einübung eines Lieds gehört, dass später noch eine Rolle spielen wird.
    In einem Interview mit Susanne Kunz, die ja den 40 Sänger*innen eine Konzertreife nahe bringen wollte, hat sie unter anderem folgende Sätze über ihre Rolle geäußert: “Als Coach musste ich lernen, abzuwägen, wie viel ich fordern kann….Ich …ermutigte sie Versagensängste zu überwinden…Ich überforderte sie manchmal bewusst in den Proben…Ich musste mein Tempo drosseln und Vertrauen aufbauen – in mein Gegenüber genauso wie in mich selbst.”
    Passender Spot zwei auf den persönlichen Weg hin zu Ostern und zu meiner (noch gar nicht dargelegten) Forderung: Am Dienstag hatten wir Bibelarbeit über Das Gebet in Getsemani (Markus 14,32-42). Dabei haben wir uns auch in die drei Jünger Petrus, Jakobus und Johannes versetzt, die Jesus in den Garten begleitet haben und über das “wachet und betet” doch tatsächlich eingeschlafen sind. “Konntest du nicht einmal eine Stunde wach bleiben?” scharfe, direkte Worte die Simon Petrus sich da anhören musste. Und dieser Vorgang wiederholt sich ja noch zwei Mal.
    Wir als kleine, theologisch nicht mit allen “Wassern gewaschen” und auch nicht mit den letzten Feinheiten dieser Texte vertraut, hatten große Sympathie mit den Jüngern. Wenn man sich alleine die Texte zwischen dem Einzug in Jerusalem und der Verhaftung ansieht, so “flutete Jesus” seine Anhänger*innen mit Gleichnissen und Ereignissen, die jede für sich eine längere Reflexion bedurft hätten.
    Aber irgendwie gehen die Tempi zwischen Jesus und seinen Jüngern und die ihm folgenden Frauen auseinander. (So wie da die organisierte Hektik eines Krankenhausbetriebs vorherrscht und an einem anderen Ort die unorganisierte Ruhe des Briefe bestücken und zu Zehnerhäufchen aufstapeln aufeinandertreffen).
    Das die Jünger erst dieses eindrückliche “Letzte Mahl” mit den Einsetzungsworten gehört haben und sich nur wenig später im dunkeln Garten von Getsemani wiederfanden – wer mag ihnen die Müdigkeit und Überforderung verdenken!?
    “Ich musste mein Tempo drosseln und Vertrauen aufbauen” Wie gerne hätte ich mir gewünscht, dass sich Jesus im Blick auf seine Gefolgschaft diesen Gedanken zulassen kann. Aber er muss weiter – nicht in einen OP Saal oder seine Bucket-List auf fünf Dinge kürzen, sondern nur noch diesen einen irdischen Weg gehen. Da also Müdigkeit und Überforderung und dort tiefer Schmerz und ein “dem Kreuz entgegen gehen”.
    Spot drei an. Wieder auf den frühen Karsamstag Morgen und die 3Sat-Reportage mit dem insieme Chor und ihrem Weg zum großen Auftritt im KKL von Luzern.
    Das angesprochene Lied, bei deren Probe ich den Fernseher eingeschaltet habe, war der Song “The River of Dreams” von Billie Joel
    “Mitten in der Nacht fange ich an zu schlafwandeln von den Bergen der Hoffnung hin zum tiefen Fluss. Vermutlich suche ich nach irgendetwas, nach etwas heiligem, das ich verloren habe” heißt es da in der deutschen Übersetzung.
    Und jetzt ist da plötzlich der brennende Gedanke: da fehlt was in der Kar-und Osterliturgie!
    Dieser Karsamstag braucht eine eigenständige Liturgie. Etwas kleines, aber ganz eigenes! (Und ja, das zu fordern ist irgendwie abgehoben und vielleicht auch selbstverliebt, aber ich glaube “wir” alle haben da etwas nicht richtig zu schätzen gelernt!!!)
    “Die Zeugenschaft als grundlegendes Fundament der Auferstehungsbotschaft” – das ist Spot vier und ein Originalsatz des örtlichen Pfarrers in der Predigt des Ostersonntag.
    Klar, die Jünger und die Frauen am Grab: Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus und Salome, sie kommen schon auch vor.
    Aber fast alle Spotstrahler sind auf den Leidensweg und die Erlösungsbotschaft, auf Jesus selbst gerichtet. Und ja, das ist Tradition und das ist auch der Kern von Ostern!
    Aber seht doch einmal ein paar Minuten am Karsamstag auf die Jünger und die Frauen!
    Keine große, pompöse Liturgie wie in der Osternacht.
    Eine kleine Liturgie die den Zeugen gewidmet ist, nur ein paar Minuten! Vielleicht um die Mittagszeit des Karsamstag? Und vielleicht braucht es auch nicht die Kirche als Begegnungsort, sondern nur einen (digitalen) Raum den wir uns als Christen am Karsamstag einräumen um den Zeugen eine Anerkennung zukommen zu lassen!?!
    “Mitten in der Nacht fange ich an zu schlafwandeln…Ich habe nach etwas gesucht, das aus meiner Seele herausgenommen wurde. Etwas das ich nie verlieren wollte, das jemand gestohlen hat…jetzt bin ich müde und mag nicht mehr laufen.”
    Ich denke gerade, Billie Joel hat diese Zeilen genau dafür geschrieben – das wir endlich den Frauen und Männern ein paar Augenblicke widmen. Angeblich waren sie verängstigt und sind auseinander gegangen – so höre ich es seit vielen Jahren in den Ostergottesdiensten.
    Die Spoken Word Künstlerin und Theologien und Menschenfreundin Jasmin Brückner hat in ihrem intensiven Stück “Tahlequah” gefordert: “Ich will Trauerkollektive und Wehklagenräume, in denen Menschen schreien und weinen und schweigen und fragen können. Ich will Menschen die tragen und zuhören und mitgehen…”
    Und ich glaube, auch Jasmin Brückner hat Worte/ Gedanken für die Nachfolgenden gefunden.
    Niemand kann und will Ostern umdeuten, Jesus, dem Kreuz und dem leeren Grab etwas von seiner Wucht, seiner Bedeutung nehme.
    Niemand kann vor die Tage von Jerusalem, vor den Herzinfarkt, vor dem eingetretenen Veränderungen im Leben zurück.
    Aber wir können neue Blickwinkel, neue Räume zulassen und aufschließen.
    Und ja, vielleicht ist auch ein Zehnerstapel Einladungskarten für die neue Karsamstagsliturgie 2026 schon am entstehen. Und vielleicht können wir uns mit Maria und Jakobus, mit Thomas und Salome in ein Trauerkollektiv einlassen: “Ich bin mir nicht sicher darüber, ob es ein Leben danach gibt. Ich bin weiss Gott nie ein vergeistigter Mensch gewesen. Vom Feuer getauft, wate ich in den Fluss hinein der durch das versprochene Land fließt”

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Das RefLab-Team prüft alle Kommentare auf Spam, bevor sie freigeschaltet werden. Dein Kommentar ist deswegen nicht sofort nach dem Abschicken sichtbar, insbesondere, falls du am Abend oder am Wochenende postest.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox