Die Neuankommende ist zögernd eingetreten, hat leise «Hallo» gesagt.
Es war für sie eine Überwindung, über die Schwelle zu treten.
Ihre Motivation: Vielleicht Anschluss an christliche Studierende finden. Immerhin studiert sie seit einigen Semestern Theologie. Die junge Frau fühlt sich aus diversen Augenwinkeln gemustert. Oder bildet sie sich das bloss ein?
Alle im Raum scheinen einander zu kennen, nur sie kennt keinen.
Was will die da?
Man wirft sich vielsagende Blicke und Andeutungen zu, über kirchliche Interna, die Uni, dieses und jenes. Und lacht. Vieles bleibt für sie kryptisch. Obwohl es keiner ausspricht, scheint die ganze Zeit über die Frage fett im Raum zu hängen:
«Was will denn die da?»
Sie wird nicht wieder kommen. Seit sie die Türschwelle überschritten hat, sinnt sie auf Flucht – und fühlt sich, wieder auf der Strasse, wie eine, die noch einmal davongekommen ist. Die aber auch – wieder einmal – sozial versagt hat.
Introvertierte Beklommenheit
Die gute Nachricht: Introvertierte Beklommenheit und Hyperawareness legen sich in der Regel mit den Jahren.
Was allerdings bleibt: Erschöpfungszustände nach längerer Zeit in Gesellschaft.
Egal ob Party oder Ausflug mit Kolleg:innen: Hinterher brauchen Introvertierte oft einen Tag oder mehr zur Regeneration.
Party-Smalltalk kann sogar eine regelrechte Tortur sein. Viele Introvertierte wissen buchstäblich nicht, was sie in solchen Situationen sagen sollen.
Die Aufschrift auf Funny T-Shirts trifft es gut.
«Introverts Unite! We’re Here. We’re uncomfortable. And we want to go home.»
(Introvertierte vereinigt euch! Wir sind hier. Wir fühlen uns unwohl. Und wir wollen nach Hause gehen.)
Gut gemeinte Rat-Schläge
Dass sie eher still und zurückhaltend sind, wird ihnen in einer extravertierten Gesellschaft häufig als Persönlichkeitsdefizit, soziales Desinteresse oder gar als psychische Störung ausgelegt. Entsprechend wird nicht mit Ratschlägen gespart:
«Sei doch nicht so schüchtern!»
«Geh mehr aus dir heraus.»
«Trau dich, es wird sicher lustig!»
«Du stehst dir selbst im Weg.»
Stille Leute
Langsam – Hallelujah! – setzt sich aber eine Einsicht durch:
Introvertiertsein ist keine Störung, sondern einfach eine Persönlichkeitsdisposition.
Und zwar keine seltene. Zwischen 30 bis 50 Prozent sind laut Schätzungen introvertiert.
Man merkt es halt kaum: Weil Introvertierte nun mal gern im Hintergrund bleiben. 😉
Ein wesentlicher Unterschied: Während Extravertierte – salopp gesagt – ihre «Batterien» in Gemeinschaft aufladen, schöpfen Introvertierte aus ihrem Inneren Kraft. Extravertierte sind Gemeinschafts- und Freundschaftszentriert. Introvertierte schätzen ebenfalls Freundschaften, aber dosieren Begegnungen und legen ihren Fokus stark auf Gedanken und Gefühle.
Der Hang zur Innerlichkeit macht Introvertierte überdurchschnittlich empfänglich für Religion und Spiritualität.
Introvert-friendly Church
Kirche ist in weiten Teilen eine Welt der Extravertiertheit.
Zunehmend aber berücksichtigen Gemeinden und Institutionen die besonderen Bedürfnisse und Potenziale Introvertierter. Sie kommen den Leisen und Bedachtsamen engegen
- indem in Gottesdienste bewusst Momente der Stille und Kontemplation eingebaut werden.
- ruhige Orte und Rückzugsräume eingerichtet werden; das können Gebetsräume, Gärten oder gemütliche Plätze in der Bibliothek sein.
- Eine Möglichkeit für Engagement, das den Stärken Introvertierter entspricht, sind Schreibarbeiten oder Organisationsaufgaben hinter den Kulissen.
Inklusion der Eigenbrötler
Menschen mit introvertierter Disposition fühlen sich ausgeschlossen, wenn als das Wesentliche des Glaubens und der Liturgie die Gemeinschaft herausgestrichen wird. Sie denken dann:
«O.k, da gehöre ich nicht dazu. Ich bin womöglich kein richtiger Christ.»
Ihre Erfahrung ist nämlich eine andere. Sie erleben tiefe spirituelle Momente, wenn es ringsum ruhig ist. Das kann auch in Gemeinschaft sein, aber eher im Schweigen: bei Retreats zum Beispiel.
Stille Leute wollen dazugehören, nur eben anders.
Wenn sie nach einer Veranstaltung nicht noch zum Apéro mitkommen, dann nicht unbedingt aus Missfallen oder Desinteresse.
Sie brauchen wahrscheinlich nach dem Erlebten und Gehörten schlicht eine Pause.
Influencer-Pastoren
In der Pfarrschaft ist die psychische Disposition der Introvertiertheit sogar überdurchschnittlich häufig anzutreffen. Dabei verlangt gerade dieses Amt einen hohen sozialen Einsatz.
Der Pfarrer oder die Pfarrerin, so jedenfalls die Erwartung, soll möglichst rund um die Uhr ansprechbar sein.
Das gilt erst recht in unsere Socia-Media-Zeit, wo das Influencer-Pastorentum zum Ideal geworden ist.
Für Introvertierte ist das keine geringe Herausforderung. Und nicht selten eine Überforderung.
War Jesus introvertiert?
Einiges spricht dafür, dass auch Jesus eine eher introvertierte Persönlichkeit war. Laut den biblischen Erzählungen bewegte er sich in der Öffentlichkeit so, wie Introvertierte es tun:
Auftauchen, eine Rede halten – und sich zurückziehen: in eine kleine Gruppe enger Vertrauter oder ins Alleinsein.
Gerade weil sie gut allein sein können, können Introvertierte – so paradox das klingen mag – eine Bereicherung für die Gemeinschaft sein. Dietrich Bonhoeffer wusste das, wenn er feststellte:
«Wer nicht allein sein kann, hüte sich vor der Gemeinschaft.»
Links:
Selbsttest: Bin ich eher introvertiert oder extravertiert?
Blogbeitrag von Johanna Di Blasi: War Jesus Sinnfluencer?
Fotos: Recreation of Christ based on the Shroud of Turin, 2024, Wikimedia Commons