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War Jesus Sinnfluencer?

«Follow me!» Laut Überlieferung hat der christliche Religionsstifter auf Schritt und Tritt Follower gesammelt: am Jordanufer, am See Genezareth, in Galiläa, Samarien oder in der römisch besetzten Hauptstadt Jerusalem. Heute beträgt seine Followerzahl 2,5 Milliarden Menschen, rund 30 Prozent der Weltbevölkerung. Der überwiegende Teil der Christ*innen lebt heute in der Südhemisphäre.

Die Bibel ist in mehr als 3000 Sprachen und Dialekte übersetzt worden und wird weltweit jährlich schätzungsweise 40 Millionen Mal gedruckt. Jesus-Filme gehören zu den erfolgreichsten Filmen überhaupt. Die App der 2020 gestarteten Multi-Season Show «The Chosen» wird fast im Sekundentakt heruntergeladen. Mit zehn Millionen Dollar von mehr als 19 000 Unterstützern ist die weltweit gestreamte Serie das bislang erfolgreichste Crowdfunding-Filmprojekt.

Die Frage scheint nahezuliegen: Ist Jesus das grösste Marketing-Genie aller Zeiten, gewissermaßen der Grossmeister des Influencer-Marketings? Für mit Marketingpraktiken weniger Vertraute kurz zur Erklärung: Influencer mag wie eine Krankheit klingen, gemeint aber sind Leute, die Konsumprodukte bewerben. Als Influencer, von englisch: ‹to influence›, also ‹beeinflussen›, werden seit den 2000er-Jahren Personen bezeichnet, die basierend auf hoher Credibility in sozialen Netzwerken als Träger für Werbung und Vermarktung fungieren.

Für die Konsumgüterindustrie ist es selbstverständlich fantastisch, wenn Konsumenten sich mit Marken identifizieren und zudem so konditioniert sind, dass sie sich von sich aus als Werbeträger zur Verfügung stellen. Manche Lifestyle-YouTuber generieren mit Schmink- oder Shoppingtipps zig Millionen Follower. Ihre Videos sind reichweitenstärker als herkömmliche Werbung und Influencer-Marketing wirkt authentischer als Auftritte von Schauspielern.

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Christliche Influencer heißen Jess Conte, John Christ, Li Marie, Lisa und Lena oder Jana Highholder. Sie sind jung, telegen, Student*innen, Baseballstars, Comedians oder Nachwuchs-Pastor*innen und von Glaubensgewissheit durchdrungen.

Mit Vlogs und Selfies bezeugen sie ihre Jesu-Anhängerschaft und haben als christliche ‹Sinnfluencer› (Influencer plus Sinn) in digitalen Buchläden be Sinn als Produkt im Angebot, das sie gern mit anderen teilen möchten.

Die Erfolge der neuen Jesus-Jünger sind teils enorm, an Neidern fehlt es nicht, eine neutrale Beobachterposition scheint unmöglich. Entweder ist man Fan oder irritiert: z.B. wie unumwunden Glaube zum Hochglanzprodukt gestylt wird; wie berechnend scheinbare Offenheit eingesetzt wird; wie gespielt Authentizität wirkt; wie selbstverständlich Klickraten als Beleg dafür genommen werden, in den Fussstapfen des «Superinfluencers» aus Nazareth zu stehen. Das kann einem schon die Zehnnägel aufrollen.

Der Ausdruck «Privatoffenbarung» erhält in der digitalen Ära eine vollkommen neue Bedeutung.

Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt blicken in einer aktuellen soziologischen Untersuchung auf Influencer als «wichtigste Sozialfigur des digitalen Zeitalters». «In der Abstiegsgesellschaft scheinen noch einmal Aufstiegsträume wahr zu werden, der Spätkapitalismus hübscht sein Gesicht mit Filtern und Photoshop auf, mit einer revolutionären Form der Werbung komplettieren Instagrammer und YouTuber das Geschäftsmodell des kommerziellen Internets.»

Bei aller medialen Avanciertheit gehören zur Influencer-Matrix laut Nymoen/Schmitt, deren Buch «Influencer. Die Ideologie der Werbekörper» in Kürze erscheint, Konsumfixierung, Klischeeverhaftung und rigide Normen. Das Phänomen leiste einem «konservativen Backlash» Vorschub.

Manche Influencer-Stars führen ein Leben im Schaufenster wie der Protagonist der «Truman Show». Im Unterschied zur Hollywood-Figur ziehen sie das Private aber freiwillig ins grelle Scheinwerferlicht.

Der Ausdruck «Privatoffenbarung» erhält in der digitalen Ära eine vollkommen neue Bedeutung. Gerade protestantische Religiosität war traditionell stark ins Private verlagert.

Das hatte viel mit dem seinerzeitigen Medienumbruch zu tun: dem Beginn der Gutenberggalaxis, mit dem Leitmedium Buch, was die stille und einsame Lektüre förderte und damit eine für den Protestantismus typische Verinnerlichung. Unter den Bedingungen des digitalen Medienumbruchs, insbesondere durch die Sozialen Medien und dem von ihnen entfachten Authentizitäts-Wettstreit, erodiert das geschützte Private.

Während einige der digitalen Jesus-Jünger in eigener Mission auf Instagram, Facebook, YouTube, TikTok, Twitter oder Snapchat unterwegs sind, agiert eine wachsende Zahl im Auftrag von in Strukturkrisen steckende Kirchen. YouTuber werden als christliche Outreacher und Beteiligungsagent*innen in den sozialmedialen Raum entsandt, um digitale Missionswege zu erschließen, Kirche insgesamt zu verjüngen und ihre Fundamente in die Zukunft hinein zu sichern.

Coolen Content abonnieren – und die Welt ein Stück besser machen

Es sind Expeditionen ins Ungewisse und Mysteriöse, denn die Formel für Erfolg oder Misserfolg in der Netzwelt wurde bislang nicht gefunden. Eine christliche Influencerin aus Australien (Jess Conte) knackte die Millionenrate an Abonnenten mit einem viralen Video aus der Küche, das einen Posaune blasenden Mann zeigt und einen Sohn, der im Takt das Backrohr öffnet und zuknallt. Ein Baseballstar malte sich Bibelstellen ins Gesicht (Phil 4,13; John 3,16). Seine Fans machten es nach, teils ohne zu begreifen, was die Kürzel überhaupt bedeuten.

Im deutschsprachigen Raum setzt die Evangelische Kirche Deutschland (EKD) mit ihrem 2020 gestarteten Content-Netzwerk Yeet (ein Internetslangwort, das Überraschung ausdrückt), das  Kanäle wie «Jana glaubt» oder «Theresa liebt» enthält, gezielt auf christliche Influencer und Alltagstuchfühlung. Ausgerechnet den reichweitenintensiven Kanal von Jana Highholder stellte die EKD kürzlich ein. Offiziell kam das überraschende Aus für «Jana glaubt» wegen Corona-bedingter Sparmaßnahmen.

Ein Eklat hatte zuvor das Image der Medizinstudentin allerdings angekratzt. Die evangelikal sozialisierte Influencerin hatte am Weltfrauentag Sympathien für ein konservatives weibliches Rollenbild geäußert. Es folgten ein Shitstorm und Zweifel, ob die Influencerin ein geeignetes EKD-Sprachrohr sei. Hier ließen sich ein gewünschter authentischer Selbstausdruck für die neuen kirchlichen Botschafter*innen und ein Bemühen, dass die «kirchliche Marke» erkennbar bleibt, offenbar nicht miteinander in Einklang bringen.

Gewissermaßen auf der anderen Seite von Jana steht das queere Duo von «Anders Amen», das ebenfalls auf der Yeet-Plattform sendet. Das sympathische Pastorinnenpaar, das seit kurzem auch ein Baby hat und ins Bild setzt, hat ebenfalls überdurchschnittlich viele Follower. Und löst sowohl nach Innen wie auch nach Außen Irritationen aus.

Manche mögen mit der Botschaft einverstanden sein, aber weniger mit der exhibitionistischen Form einer Reality-Soap-Opera. Auf dem Blog «Orthodoxes Forum» fühlen sich Kommentatoren durch «Anders Amen» in ihrer Sichtweise bestätigt, die deutschen Protestanten hätten die Spiritualität endgültig der weltlichen Moral und ‹Ideologie› von Gender&Queer geopfert. Zum Teil brechen sich homophobe und misogyne Affekte Bahn.

Hier wird zwar eine alte Spannung zwischen eher schöpfungstheologisch und eher eschatologisch orientierten Christ*innen sichtbar, aber die Zeichen sind unübersehbar geworden, dass Soziale Medien eine Verschärfung dieser Spannung begünstigen. Es ist wohl kein Zufall, dass der von Teilen der Evangelikalen unterstützte politische Superinfluencer Trump (seit dem Sturm aufs Kapitol bei Twitter gesperrt) als gesellschaftlicher Superspalter agi(ti)erte.

Digitale Gärten und christliche Salons

Wenn man sich Jesus neue Jünger ansieht, die mit «Native Advertising» um die knappe Ressource Aufmerksamkeit konkurrieren, könnte man zum Schluss gelangen, der Meister selbst sei eine Art Sinnfluencer gewesen. Auch er hat ein öffentliches Leben geführt, allerdings erst ab dem Alter von 33 Jahren.

Auch er besass Charisma. Aber weder scheint er seine Target Group (Fischer, Zöllner, Prostituierte) nach Marketinggesichtspunkten ausgewählt zu haben noch spricht sein früher Tod am Kreuz dafür, dass Reichweite und Frequenz für ihn oberste Priorität hatten.

Dass Jesus überhaupt in einen Topf mit Influencern geworfen wird, zeugt vom verbreiteten Glauben an die Macht von ‹Fame› und die Schwierigkeiten, überhaupt noch anders zu denken als vermarktungslogisch. Jesus aber hat niemandem etwas verkauft. Auch beeinflusste er Menschen nicht, so wie es NLP, Werbespots oder Stars machen, sondern er befreite umgekehrt von Beeinflussungen – machte frei. Jesus war Anti-Influencer.

Ein Alternativmodell zum Influencertum ist das Community-Modell. Auch hier geht es darum, mit christlicher Stimme im pluriversen Kosmos Sozialer Medien hörbar zu sein: aber weder als Bauchredner von Institutionen und Konfessionen noch mit dem Ziel, als Individuum Starruhm zu erlangen, weder mit cool verpackten Gewissheiten noch mit Entblössungen, sondern mit verdichteten Fragen.

Auf diese Weise kann ebenfalls Bindung entstehen, aber eher in der Form anziehender digitaler Gärten, wärmender Lagerfeuer oder christlicher Salons und Akademien.

 

Photo by Ben White on Unsplash

4 Kommentare zu „War Jesus Sinnfluencer?“

  1. Warum sollte nicht beides ein Weg zum Ausprobieren sein – sowohl digitale Medien als Influencer möglichst gut nutzen, als auch digitale Gärten aufbauen und Lagerfeuer anzünden? Worauf es ankommt, ist Inhalt, Motivation und, ja, Authentizität.

  2. Danke für die schönen Kommentare! Das RefLab selbst ist ein Beispiel für das Community-Modell! Wir pflanzen, jäten und giessen gemeinsam mit Euch den Garten! 🙂

  3. „Digitale Gärten“, was für ein wunderbarer Ausdruck der bei mir sofort Resonanz auslöst. Und die ‚Sinn-fluencer“? Warum nicht. Jesus hat gesagt dass Gott sich sogar aus Steinen Kinder Abrahams erwecken kann. Kurz gefolgt vom Hinweis auf Bäume die gute, oder keine gute Frucht hervorbringen. Wenn ein Mensch beginnt, über Jesus und seine Botschaft nachzudenken wegen einem Sinn-fluencer, nur zu. Bazare mit umhäkelten Kleiderbügeln sind out.

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