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 Lesedauer: 4 Minuten

Heiliger oder Peiniger?

San Patrignano ist eines der grössten Rehab-Zentren für Drogenabhängige in Europa. Gegründet wurde das Zentrum Ende der 70er Jahren von Vincenzo Muccioli auf dem Landgut seiner Familie und nur ein paar Kilometer von Rimini entfernt.

Die italienischen Städten wurden damals von Heroin, Kokain und LSD überschwemmt, die Jugend wurde von der Drogenwelle am stärksten betroffen.

Der Staat und die Gesellschaft konnten mit der Wucht des Phänomens nicht umgehen und versagten. Die Drogensüchtigen wurden in den Spitälern oft nicht aufgenommen, die spezialisierten Kliniken waren von der Menge der Patienten überfordert, die Politiker schauten weg, unzählige Familien verschuldeten sich der Drogen wegen und fühlten sich von den politischen Institutionen im Stich gelassen.

SanPa

Genau an dieser Stelle griff Vincenzo Muccioli als Retter in der Not ein und nahm 1978 die ersten Drogenabhängigen auf. Anfangs war San Patrignano lediglich eine visionäre Idee in einem Bauernhaus mit Stall und ein paar Baracken rundherum. Die aktuelle Netflix-Miniserie «SanPa: Die Sünden des Retters» spielt hinter die Kulissen dieser Gemeinschaft.

SanPa steht abgekürzt für San Patrignano, ist aber gleichzeitig auch eine Anspielung auf «San Padre», heiliger (Gründer-)Vater. Vincenzo Muccioli war die treibende Kraft des Projektes, eine charismatische aber auch zwielichtige Figur, 1.90 Meter gross und 120 kg schwer, mit der Stimme eines Baritons und einer Vorliebe für reinrassige Pferde und Hunde.

Der Macher

Vincenzo Muccioli packte gerne an und erweiterte die Anlage im Verlauf der 80er Jahren. Auf dem «Zenit» nahm das Zentrum fast 3’000 Drogensüchtige auf und beschäftigte sie auf dem Landgut. Denn die Ausübung einer sinnvollen Arbeit war für die soziale Rehabilitation und die Rückkehr in die Gesellschaft zentral.

Die Drogenabhängigen, die vor der Aufnahme manchmal wochenlang vor den Toren von San Patrignano auf einen Platz warten mussten, konnten anschliessend in unterschiedlichen Ressorts arbeiten: auf dem Bau, in der Küche, in der lithographischen Abteilung, in der Metzgerei, auf dem Land, bei den Tieren, in der Textilfabrik oder der Informatik. Die Gemeinschaft war autark und verlangte von den Betroffenen kein Geld. Die Stiftung wurde zunächst von Spenden und mehrheitlich von der Moratti-Familie finanziell unterstützt, eine italienische Unternehmer-Dynastie, die insbesondere mit Erdöl-Raffinerien reich geworden ist.

Licht und Dunkelheit

Tausende Menschen wurden in San Patrignano erfolgreich behandelt, viele erhielten dort eine berufliche Ausbildung.

In der Blütezeit wurde Vincenzo Muccioli von den Drogenabhängigen, deren zahlreichen Familienmitglieder und von Politiker*innen wegen seines Erfolgs wie ein Heiliger verehrt.

Fernseh- und Radioanstalten scharten sich um die Gemeinschaft, berichteten über das Märchen von Patrignano und lobten Muccioli, seine Angestellten und die unzähligen Freiwilligen, die täglich für die Gesundheit der Aufgenommenen leidenschaftlich kämpften.

Einzelne therapeutischen Methoden und ihre Folgen wurden aber im Verlauf der Zeit kritisiert und kontrovers diskutiert.

Die Drogenabhängigen wurden in manchen Fällen tagelang in Ketten gefangen gehalten, wie Tiere im Stall oder in Hundehütten eingesperrt, damit sie tatsächlich den Entzug schafften.

Wer aus San Patrignano floh, wurde von den Sicherheitsleuten wieder aufgesammelt und in der Anlage von einer Mentorin oder einem Mentor strenger beaufsichtigt. Ab dem Jahr 1980 wurden diese fragwürdigen Methoden auch in zwei Prozesse angeprangert.

In der Dokumentation kommen sowohl Protagonisten als Zeugen zu Wort, damit man sich unvoreingenommen ein persönliches Bild über Vincenzo Muccioli und die Gemeinschaft machen kann. Sie ist wie ein Drama in 5 Teile aufgebaut.

Am Schluss bleiben verschiedene Fragen unbeantwortet: Waren die strengen Methoden gerechtfertigt? Profitierte der Gründer finanziell von der Gemeinschaft? Wurden die Drogenabhängigen psychisch und physisch misshandelt? Hätten einige der Betroffenen für diese Netflix-Serie heute überhaupt noch Zeugnis ablegen können oder wären sie schon lange an den Folgen ihres Drogenkonsums gestorben?

Für viele Menschen war San Patrignano ein Segen, andere Betroffene tragen die seelischen Narben der fragwürdigen Methoden noch in sich.

San Patrignano materialiserte in den 80er Jahren Paradies, Hölle und Fegefeuer auf wenigen Hektaren Land.

 

Bild Vincenzo Muccioli: ANSA (Wikipedia)

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