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Pumpen statt «Pumpkin Spice»: Der neue Trend «Winter Arc»

Es klingt zunächst nach einem paganen Ritual, das hier popularisiert und kommerzialisiert wird, wie in vergangenen Jahren die Raunächte oder Samhain: «Winter Arc» (deutsch etwa: «Winter-Lichtbogen»).

Trend aus der Fitness-Szene

Der Trend stammt zwar vermutlich aus der Fitness-Szene, erfährt jedoch dank TikTok in den letzten Tagen breite Aufmerksamkeit weit über die Gyms hinaus. Auf LinkedIn wird «Winter Arc» als Möglichkeit propagiert, Ziele zu stecken und zu verfolgen. Auch die junge katholische Theologin Lisa Quarch macht auf ihrem Instagram-Account auf den Trend aufmerksam:

«Statt den Winter nur als dunkle und mühsame Zeit zu sehen, nehmen wir ihn bewusst in die Hand und gestalten ihn positiv», schreibt sie und teilt ihre Vorsätze für die nächsten drei Monate.

Statt sich mit Naturzyklen zu verbinden, die in den Wintermonaten Ruhe, Rückzug und Innehalten nahelegen, wird «Winter Arc» jedoch als eine Zeit der erhöhten Disziplin definiert, strenger Routinen und Fokus auf klar definierte Ziele.

Quarch: «Der ‘Winter Arc’ steht dafür, den Winter als Phase der Selbstentwicklung und Selbstfürsorge zu reclaimen, in der man sich mental und körperlich stärkt.»

Sich selbst verbessern anstatt die Welt

Etwas «reclaimen», «zurückerobern» zu wollen, zeigt das Bedürfnis der Generation Z nach Kontrolle angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt.

Während die einen zu Aktivist:innen geworden sind, verbessern die anderen statt die Welt sich selbst.

Pumpen statt pumpkin spice, Disziplin statt Erntedank. Ablenkungen sollen eliminiert werden, so verzichten manche sogar auf Social Media oder Dating – man geht in den «ghost mode». Es hat etwas Militärisches, wenn junge Menschen sich den Schädel rasieren, um sich nicht um die Frisur kümmern zu müssen, und macht die angestrebte Selbstdisziplin und Härte auch gegen aussen sichtbar.

Kein gänzlich neues Phänomen, scheint es: Vor allem Frauen haben angesichts von Bevormundung und Hilflosigkeit den eigenen Körper immer wieder als einzigen Bereich erkannt, Einfluss zu nehmen – häufig nicht in gesunder Form.

Vorsätze und Ziele: Oktober ist der neue Januar

Doch während auch frühere Selbstoptimierungs-Trends wie «journaling» (Tagebuchschreiben zwecks Selbsterforschung) oder «habit tracking» (Gewohnheiten dokumentieren) eher junge Frauen angesprochen haben, ist «Winter Arc» gender-unabhängig.

Junge Männer zeigen auf TikTok, wie sie einen Vertrag mit sich selbst unterschreiben, um nach drei Monaten im Gym im nächsten Jahr als eine neue Version ihrer selbst wieder in die Öffentlichkeit zu treten. Zum «Winter arc» gehören in der Fitness-Szene selbstgesetzte Regeln wie 5x wöchentlich Krafttraining, sehr früh aufstehen und den Tag mit einer kalten Dusche beginnen, bewusste und funktionale Ernährung.

Härte, Selbstdisziplin, mind over body.

Der definierte Start- und Endpunkt dieser Phase setzt Energie frei, der hashtagtaugliche Name motiviert, die eigenen Ziele zu teilen und «accountable» zu bleiben. Das eigene Leben ist längst zur dramaturgischen Inszenierung geworden, in der man sich von «era» zu «era» (Taylor Swift) weiterentwickelt und dabei selber Regie führt.

Rauhnächte waren mal – Oktober ist der neue Januar.

Anstatt erst im neuen Jahr mit Zielen und neuer Disziplin zu beginnen, ist man dann bereits weit fortgeschritten in deren Verwirklichung. Man hebt sich ab von der Masse:

«Die meisten Menschen nutzen den Winter als eine Zeit des Rückzugs. (…) Aber nicht du», schreibt die Website Gymgeneration.

Der Weg zum Glück im 21. Jahrhundert

Unseren Vorfahren diente Spätsommer und Herbst dazu, Vorräte für den Winter zu sammeln und Winterspeck zu entwickeln. Nun werden bei «Winter Arc» die Muskeln gestählt und mentale Stärke trainiert.

Auch eine Form von Überleben – angepasst an heutige Verhältnisse, die nicht Nahrungsmittelvorräte, sondern psychische Resilienz erfordern.

Man möchte den TikTokern schreiben, doch nicht so hart mit sich zu sein. Sich warm einzukuscheln, Zeit mit guten Freund:innen und Familie zu verbringen oder mit einem Buch. Doch das würde die angespannte Weltsituation und die enorm gewachsenen Ansprüche des Aufwachsens in einer digitalisierten Welt verharmlosen.

Trends wie «habit tracking» oder «Winter Arc» reagieren auf reale Herausforderungen, indem sie Kontrolle verleihen – zumindest über das, was man selbst kontrollieren kann.

Auch ist Selbstoptimierung nichts Neues oder per se Negatives.

Um nur zwei Beispiele aus der Philosophiegeschichte und Theologie zu nennen:

Schon Aristoteles erkannte die Arbeit an sich selbst (er nannte dies «Tugenden») als Weg zum Glück, zum höchsten Gut.

Parallel dazu kennt Christentum die «Heiligung», die Ausrichtung des Lebens an göttlichen Massstäben. Ziel ist eine grössere Nähe zu Gott – was gemäss Thomas von Aquin, der stark auf Aristoteles aufbaute, das letzte und vollkommene Glück bedeutet.

Disziplin ist nur Mittel zum Zweck

Selbstdisziplin per se wie bei «Habit tracking», wo in einem schönen Bullet Journal oder in einer App Häkchen gesetzt und damit die Erreichung eines Zwischenziels Dopaminausschüttungen zur Folge hat, mögen kurzfristig tatsächlich glücklich machen. Und dass Bewegung auch für die psychische Gesundheit unverzichtbar ist, soll nicht bestritten werden.

Der zentrale Punkt ist aber:

Disziplin, Strategien zum Umgang mit Herausforderungen sind in einem ausbalancierten Leben nicht Zweck, sondern Mittel.

Beziehungen sind nicht – wie in den radikalen Formen von «Winter Arc» – Ablenkungen, sondern sinnstiftend und lebensnotwendig. Eine gute Selbstwahrnehmung, bewusst gesetzte Prioritäten und die Fähigkeit, Ziele zu erreichen, sind wichtig, aber nicht selbst das höchste Gut.

Vielmehr dienen sie dazu, das zu fördern, was dem Leben Sinn gibt: tragende Beziehungen, Selbstwirksamkeit und Aufmerksamkeit für besondere Momente.

Indem «Winter Arc» auf Social Media propagiert und dokumentiert wird, werden vermeintlich zwar ebenfalls Beziehungen aktiviert – man fühlt mich mit diesen Zielen in einer Gemeinschaft, weniger allein. Tatsächlich kann auf Social Media Verbundenheit entstehen und können Beziehungen geknüpft werden. Doch gilt viel öfter:

«We don’t have a village, we only have a public.»

So wird Martín Prechtel von Ritualgestalter Casper ter Kuile zitiert. In der Form des «Winter Arc»-Trends fehlt die für Beziehungen nötige Nahbarkeit und Verletzlichkeit. Es geht letztendlich darum, stärker und härter zu sein als die anderen.

Eine andere Wintergeschichte

Ein Buch fällt mir ein, das ich kürzlich als Hörbuch gehört habe: «Zwei alte Frauen» von Velma Wallis.

Eine Gruppe von Nomaden in Alaska stösst im Winter an die Grenzen ihrer Ressourcen und der Anführer beschliesst in der Not, die beiden ältesten Frauen, die man als verzichtbar wahrnimmt, zurückzulassen.

Mit nur wenig Hab und Gut bleiben die beiden über 80-Jährigen alleine, dem Kältetod und wilden Tieren ausgesetzt. Sie geben jedoch nicht kampflos auf. Sondern sie erinnern sich an Überlebensstrategien, die sie im Laufe der Zeit gelernt haben, aber als alte Frauen unter dem Schutz der Gruppe nicht mehr anwenden mussten. Sie jagen Hasen, machen sich auf einen Marsch zu einer geschützten Lagerstätte und überleben den Winter.

Am Ende des Buches werden sie von ihrer Gruppe wieder gefunden. Die Autorin macht jedoch kein kitschiges Happy End daraus, sondern erzählt, wie die Veränderungen sich auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen niederschlagen.

Die Frauen sind in ihrem «Winter Arc» körperlich und psychisch stärker geworden.

Sie haben ihren eigenen Wert und den Wert des Lebens an sich neu erkannt. Dies wird auch von ihrer Grossfamilie realisiert und respektiert.

So bedeutend in diesem Prozess wie der starke Wille der beiden Alten ist jedoch, dass sie nicht alleine sind. Mal ermutigt die eine die andere, mal umgekehrt. Ohne die Freundschaft, die sich zwischen ihnen entwickelt hat, hätten sie den Winter nicht überlebt.

 

Johanna Di Blasi: «Gott zwischen Pixeln: Spiritualität im digitalen Raum»

Bild: Getty Images/Unsplash+

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