Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 8 Minuten

Taylor, die Gebenedeite

Ein Mittwochmorgen im Juli. Um Punkt 10 Uhr klicke ich immer wieder auf den Refresh Button. Im Büro sind schon 25 Grad. Ich habe mich für den Vorverkauf registriert. Dann habe ich einen Code zugeschickt bekommen. Davor wurde ausgelost, wer am Vorverkauf teilnehmen darf. Das ganze Prozedere hat bereits mehrere Wochen gedauert. Jetzt sitze ich vor meinem Laptop, klicke auf den Refresh Button und hoffe darauf, dass das Glück mir hold ist.

Taylor all over

Tickets für die Konzerte von Taylor Swift sind weltweit binnen weniger Minuten ausverkauft. Sie wurde jüngst in die Liste der Milliardär*innen aufgenommen. Tageszeitungen stellen Mitarbeitende ein, die einzig und allein für die Berichterstattung über Taylor Swift zuständig sind. Aufgrund eines Taylor-Swift-Konzertes zeichnete der Seismograf in Seattle ein leichtes Erdbeben in der Stadt auf.

Für ihre derzeitige «Era’s Tour» hat sie ein halbes Jahr gezieltes Sporttraining absolviert, um knapp 3 Stunden auf der Bühne performen zu können. Das «Times Magazine» wählte Taylor Swift zur Person des Jahres. Aufgrund von Gerüchten um ihre Beteiligung am US-Wahlkampf wird Swift zum Gegenstand politischer Diskussionen.

«Sometimes I feel like everybody is a sexy baby, and I’m a monster on the hill/ Too big to hang out, slowly lurching toward your favorite city, pierced through the heart, but never killed»

Besonders in ihrem letzten Album Midnights thematisiert sie ein verzerrtes Bild auf das Selbst, sowie Persönlichkeitsmuster wie Narzissmus und Selbstsabotage. Taylor Swifts Selbstwahrnehmung könnte nicht unpassender anmuten angesichts ihrer Präsenz und ihres Erfolges.

Sie rauscht derzeit mit Überschallgeschwindigkeit von einem Stadionspektakel zum nächsten Footballevent, flimmert in Paillettenkleidern über Kinoleinwände und nimmt dabei noch diverse neue Tonträger- und Tourrekorde mit. Neuerdings wird ihr sogar zugetraut, ausschlaggebend für den Ausgang der US-Wahl zu sein.

Sie ist allgegenwärtig, mindestens. Und das Bekenntnis der eigenen Unzulänglichkeiten bringt ihr dazu auch noch mehrere Millionen Dollar Gewinn ein.

Taylor, she knows me

Die Diskrepanz könnte nicht grösser sein, und trotzdem: Meistens habe ich das Gefühl, von Taylor gekannt zu werden. Als würde sie wissen, wie es ist, eine 33-jährige Frau zu sein, die permanent das Gefühl hat, ihr Leben nicht auf die Reihe zu bekommen. Ich vermute Taylor kennt mich nicht.

Taylor Swifts Songs vermitteln Verbundenheit, begleiten ihre Fans sie doch mittlerweile durch verschiedene Lebensabschnitte. Sie schreibt über Liebe und Liebeskummer, über Ängste und Hoffnungen. Darüber, wie es ist, schon am Anfang zu wissen, es geht nicht gut aus.

«In Taylor Swifts Songs erkennen wir uns selbst, das, was wir erleben und fühlen. Taylor Swift erzählt Geschichten, die wie Wunderkerzen funkeln. […] Vielleicht fühlen sich ihre Leistungen so nahbar an, weil Swift ein weibliches Idol ist, das, anders als ihre Vorgängerinnen, nicht betont rebellisch auftritt (Madonna), drogensüchtig ist (Janis Joplin, Amy Winehouse) oder im Schatten eines mächtigen Mannes steht (viele). Sie ist einfach Taylor Swift.» (Mascha Stanzel)

Ihre Themen sind auch meine Themen. Ihre Texte sind meine Gedanken. Zumindest kann ich mir das einreden. Natürlich bin ich mir der Strategie dahinter bewusst. Trotzdem: Taylor findet Worte für Gefühle, die ich erst noch einordnen muss. Sie ist mir einen Schritt voraus, damit ich mich besser verstehe. Zumindest fühlt es sich manchmal so an.

Saint Taylor

Taylor scheint authentisch in ihrem Taylor Swift zu sein. Und damit dann doch wieder irgendwie besonders. Sie ist eine «Heilige der Authentizität». Und zwar wortwörtlich. Sie inszeniert sich besonders menschlich und bleibt dabei trotzdem noch vorbild- oder beispielhaft.

Während Heilige innerhalb der christlichen Kirchen als Vorbilder verehrt werden, nimmt Taylor Swift neben anderen Superstars für viele Menschen diese Rolle ein.

Strenge Glaubenstreue gilt mittlerweile immer weniger als Mass der Dinge. Man assoziiert Frömmigkeit mit Engstirnigkeit und Intoleranz, Unentspanntheit. Besonders authentisch, besonders menschlich, ist besonders vorbildhaft. Sinnfluencer*innen manifestieren ihre Lebensweisheiten nach ihren Yoga Sessions. Und Taylor singt in ihren Songs von dem, was wahr und richtig ist.

«Authentizität wirkt als Unterscheidungsmerkmal. Sie fragt nach einem bestimmten Sein. Nach dem Sein von Einzelnen. Dabei geht es gerade nicht ums Allgemeine oder Große-Ganze. Vielmehr kreist der Prozess des Authentisch‑Werdens um das Besondere, das ganz Eigene, Singuläre.» (Volker Demuth)

Wir fühlen uns nicht schlecht mit ihr. Da ist kein moralischer Kompass, an dem man scheitert, weil wir nicht all das tun, was die wirklich guten Menschen eben tun sollten. Wir verharren mit uns selbst unter unserer Taylor-Decke und, wie man bei mir zuhause sagen würde, begöschern uns dafür, dass wir es eben nur so gut machen, wie es gerade geht.

Sie ist keine Heilige, die sich opfert. Sie nutzt ihre Erfahrungen zu unserem Wohl und ihrem Wohlstand.

Taylor Swift ist eine Heilige, die wir verdienen. Die uns in unserer Selbstbezogenheit warm umarmt. Auf dem Olymp des Mit-sich-selbst-Seins, des Werdens, der Frage, wer sie ist, ist sie angekommen. Vielleicht ist Taylor deshalb so verehrungswürdig für uns. Eine Selbstbezogenheit, die dem Wohle aller dient. Oder zumindest dem Wohlgefühl.

Taylor and her music

Ihre Musik hat dabei eine kathartische Funktion. Ich höre ihr zu, wie sie leidet, weint, unglücklich ist, all das sehr authentisch, und fühle mich dadurch zumindest ein klein wenig weniger unglücklich. Auch sie externalisiert ihre Gedanken.

«Never take advice from someone whos falling apart».

Sie thematisiert in nicht wenigen Songs ihre Vulnerabilität, ihr Leiden, ihre persönlichen Probleme und Schwierigkeiten. Dadurch vollzieht sie gewissermassen ein stellvertretendes Leiden. Ihr Liebeskummer ist stellvertretend für die vielen gebrochenen Herzen ihrer Fans weltweit.

Mein Leiden wird durch ihr Leiden bedeutsam. Das Martyrium der Taylor Swift.

Auf Instagram werden Taylor Swifts Texte mit Versen der Bibel verglichen. Nicht ganz unpassend. Beim Hören bin ich wie eine Psalm-Betende, die sich die Worte eines Beters leiht, die vor vielen Jahrhunderten geschrieben wurden.  Ich lege mich in ihre Worte hinein und fülle sie mit meinen ganz persönlichen Erfahrungen und Gedanken.

«Taylor Swifts Musik ist wie eine superleichte, superflauschige, schmutzabweisende Polyesterdecke. Man kuschelt sich rein, zieht sie sich über den Kopf, weiß nicht mehr, wo oben und wo unten ist – und hat ein Weltgefühl. Ein Weltgefühl und ein Gefühl des Bei-sich-Seins, wie man es von klassischen Gesamtkunstwerken her kennt. Nur dass die Taylor-Decke mehr Tageslicht durchlässt als etwa die Richard-Wagner-Decke, mehr Restwirklichkeit, was nicht stört, weder die Musik noch die Wirklichkeit. Man koexistiert, und weiß natürlich, dass Polyester nicht der edelste Stoff ist.» (Christine Lemke-Matwey)

She knows me not

Diese starke Wechselseitigkeit, die ich empfinde, ist ein Marker für die parasozialen Beziehungen, die viele Fans zu ihren Idolen pflegen. Auch wenn die Fans für die Künstler*innen ein vages Kollektiv bleiben, empfinden Fans eine besonders starke persönliche Nähe zu ihren Vorbildern.

Dabei bleibt unklar, was Social-Media-Performance ist und wie viel «echtes Leben» die Künstler*innen mit den Fans teilen.

Wie viel Taylor Swift wirklich authentisch Taylor Swift ist, weiss vermutlich Taylor Swift selbst nicht mehr.

Auch in der Heiligenverehrung handelt es sich um parasoziale Beziehungen. Die heilige Person wird angerufen, angebetet in dem Wunsch nach Erhörung. Durch die Anbetung erhofft sich der oder die Betende eine gegenseitige Interaktion. Das persönliche Leid, die privaten Gedanken werden im Gebet externalisiert und an die heilige Person adressiert und damit auch auf diese übertragen.

Taylor hat für die Fans, die sie besonders viel bei Spotify gehört haben, ein persönliches Video aufgenommen. Wenn ich mir meinen Spotify-Jahresrückblick anschaue, winkt mir eine strahlende Taylor zu und bedankt sich für meine Loyalität.

No Saint

«Früher hat man sich von Reliquienverehrung Heilung versprochen. Heute haben wir aber keine Heilungsprobleme mehr, sondern eher ein Geltungsproblem.» (Drange)

Sie profitiert davon, mir das Gefühl zu geben, ich sei wichtig. Und beides macht sie in besonderem Ausmass. Allein am Vorverkauf teilnehmen zu dürfen, vermittelt ein Gefühl von Erwählung. Natürlich ist sie keine Heilige. Sie ist ganz bei sich. Taylor ist Taylor ist Taylor. Mein Fan Sein ist ihr zunutze. Sie hat sich nicht dem verschrieben, ein guter Mensch zu sein.

Taylor Swift singt in ihrem Song The Archer:

«I’ve been the archer/ I’ve been the prey/ Who could ever leave me, darling?/ But who could stay?» Ich bin der Schütze. Ich bin die Beute. Wer könnte mich jemals verlassen? Und wer würde bleiben?

Sie scheint wohl beides zu sein, Schütze und Beute. Ich sehe ihr dabei zu und tue so, als hätte ich Taylor Swift verstanden. Dabei habe ich vermutlich lediglich verstanden, welchen Effekt sie auf mich hat. Ein Ticket für das Taylor Swift Konzert habe ich übrigens dann doch noch ergattert.

 

Foto: Laura Allen @unsplash

Der Hype um die Authentizitaet, Volker Demuth: https://www.deutschlandfunk.de/der-hype-um-die-authentizitaet-100.html

Tay Tay ist Tay Tay, Mascha Stanzel: https://www.zeit.de/2023/54/taylor-swift-popmusik-erfolg-frauen

Person of the Year, Christine Lemke-Matwey: https://www.zeit.de/2023/53/taylor-swift-musik-beziehung-rekorde

Taylor Swift is the Person of the Year, Sam Lansky: https://time.com/6342806/person-of-the-year-2023-taylor-swift/

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