Dieses Jahr habe ich etwas gelernt, das ich bisher für ein absolutes Mysterium hielt, ein Hobby für ganz wenige Eingeweihte: Pilze bestimmen.
Die ersten essbaren Pilze, die ich selber fand, waren Schopftintlinge. Hohe, weisse Hüte mit feinen Schuppen wie Birkenrinde, die sich ablöst. Zu dritt standen sie direkt am Wegrand, als ich sie auf einer Wanderung sichtete. Zum Glück war ich mit einem pilzkundigen Paar unterwegs, das mir zu meinem Erstaunen sagte, ich könne die Pilze mitnehmen und zu Hause in die Pfanne werfen.
Meine Sammellust war geweckt.
Und mit besagtem befreundetem Paar erlebte ich im Herbst sogar einen Tag regelrechter «Mushroom Madness»: Wir fanden Riesenboviste (ergaben superleckere panierte Steaks), Champignons und Reizker (fürs Pilzragout), Parasolpilze (die Hüte in Ei angebraten) und einige Steinpilze (in Scheiben geschnitten und eingefroren). Ein mehrgängiges Abendessen folgte, zu dem wir spontan noch Freund:innen einluden, weil wir die fast 3 Kilo Pilze nicht alleine bewältigen konnten.
Pilzjahr 2022
An jenem Herbsttag standen wir über eineinhalb Stunden bei der Pilzkontrolle an. Der warme und feuchte Oktober sorgte für derart reiche Pilzernten, dass sogar langjährige Kontrolleur:innen sagten, so etwas hätten sie noch nie erlebt. 2022 war also nicht nur für mich ein besonderes Pilzjahr.
Mittlerweile erkenne ich einige Pilzarten selbständig. Doch kein Fund freut mich so sehr wie der Schopftintling. Obwohl er nicht mal als besonders aromatischer Speisepilz gilt.
Schopftintlinge haben nicht nur eine sehr fragile Konsistenz: Nach dem Wachsen sind sie nur sehr kurz geniessbar, schnell werden sie vom unteren Rand her schwarz und zerfliessen. Dafür kann man sie fast nicht verwechseln.
Schopftintlinge vermitteln mir das Gefühl, verbunden zu sein mit dem Grossen Ganzen. Zum Beispiel Mitte November, als ich alleine mein wöchentliches Aarebad nahm und beim Umziehen mitten auf der Wiese neben dem Fluss einen einzelnen hohen, weissen Hut sah.
Ich habe das Gefühl, mit jedem Schopftintling winkt Gott mir zu.
Ich winke zurück und sage «hallo». Manchmal halte ich sogar aus dem Zugfenster heraus Ausschau, ob ich von Weitem an Wald- und Wiesenrändern einen solchen Himmelsgruss sehe.
Alles wird gut
Den Fund, bei dem mir dieser Gruss so richtig gut tat, machte ich nach einer hyperstressigen Autofahrt in den Ferien. Wir hatten uns mit unserem nicht geländetauglichen Auto auf einen kaum ausgebauten Waldweg verirrt. Ich klammerte mich die ganzen 30 Minuten, bis wir wieder eine Strasse erreichten, an den Griff der Autotür und betete, dass wir mitten im Nirgendwo keine Panne hätten.
Bei der anschliessenden Verschnaufpause an einem Feldrand machte mein Freund mit der Drohne Aufnahmen der wunderschönen Landschaft, als eine wütende Bäuerin in ihrem Cinquecento anbrauste. Sie drohte uns mit einer Klage, umkreiste wie eine wütende Wespe unser Auto und machte mit dem Handy Fotos. Halbwegs schaffte ich es, sie zu beruhigen.
Als wir schliesslich beim angesteuerten Campingplatz ankamen, war der Empfang geschlossen und die Barriere unten. Ich war endgültig fertig mit den Nerven.
An der Tür des Restaurants neben dem Camping klebte ein Sticker:
«Détachez-vous, tout va bien se passer» («Entspannen Sie sich, alles wird gut»).
Der Wirt gab mir den Code für die Barriere, das sei kein Problem, wir könnten uns dann morgen offiziell anmelden.
Im Halbdunkel stellten wir endlich unser Zelt auf und warfen den Gaskocher fürs Abendessen an. Und im Augenwinkel sah ich ein paar Meter weiter entfernt etwas weiss leuchten. Ich wusste sofort, worum es sich handelte. Mein müdes Herz hüpfte. Ich sammelte die frischen Schopftintlinge ein und schnitt sie direkt ins köchelnde Risotto.
Ein Gruss vom Himmel: «Tout va bien se passer.»
Mein RefLab-Video «Menschen sind wie Pilze»
Bild: Katya Ross/Unsplash
2 Gedanken zu „Mein Wort des Jahres [5]: Schopftintling“
Eine Himmelssicht auf die Schopftinlinge, auf meine stundenlangen Exkursionen mit meinem Vater (dem Pilzkontrolleur) im Wald. Ja, Schopftinlinge, diese Schönheiten hatten wir auch in unserem Korb. Und in meinen Lebens-Korb habe ich die Ehrfurcht vor der Vollkommenheit der Pilze und der Natur mitgenommen. Danke, liebe Evelyne, für diese unerwarteten Erinnerungen. Herzlich, Pia
Liebe Pia, dieser Kommentar hat mein Herz gleich erwärmt 🙂 Das sind wunderschöne Erinnerungen, danke, dass du sie mit mir geteilt hast. Alles Liebe! Evelyne