Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 3 Minuten

Mein Wort des Jahres [1]: Entwicklungs-grosszügigkeit

Ein junges Wort, das gerade erst dabei ist, sich in den kollektiven Wortschatz zu sprechen. Wenn es einen Lexikoneintrag hätte, könnte der in etwa so lauten:

«Entwicklungsgrosszügigkeit bezeichnet eine Grundhaltung, die unser Verhalten in allen drei Beziehungssphären bestimmt: zur Natur/Kultur, den Mitmenschen und sich selbst. Als empathische Geistes- oder Herzenshaltung kann sie weder verfügt noch eingefordert werden. Sie gedeiht dort, wo Menschen sie einander frei gönnen, zusprechen und ermöglichen. Entwicklungsgrosszügigkeit gehört in die Kategorie der weichen Zukunftsfähigkeiten.»

Was ein lexikalischer Eintrag kaum rüberbringt, ist die Sehnsucht, die mein Wort des Jahres anzupft.

Die Bremse für  (Selbst)Verurteilung

Zu lange habe ich vom erhabenen Standpunkt aus auf andere und ihr Verhalten geschaut und entsprechend geurteilt. Zu gnadenlos meinte ich zu wissen, was und wie die Welt sein muss, und dass sie es eigentlich schon lange sein sollte.

Ich will jetzt endlich ein entwicklungsgrosszügiger Mensch werden! Und mit diesem ungeduldigen Satz wird augenzwinkernd klar:

Schnell ist es vorbei mit der Weitherzigkeit in Sachen Entfaltung, wenn sie sich nicht dem eigenen Selbst zuwendet.

Entwicklungsgrosszügigkeit heisst im Selbstbezug: Ich muss jetzt noch nicht das sein und können, was ich einmal sein und können werde. Ich muss noch nicht mal genau wissen, zu was ich mich noch entfalten könnte. Ich spiele, probiere, riskiere, fehle, korrigiere, scheitere und fang wo nötig noch mal von vorne an.

Zeitgeschenk zum Reifwerden

Und wenn das alles nichts werden will, dann lasse ich von mir selbst und genehmige mir eine Prise Potenzialfreiheit.

Die schönsten Entfaltungsprozesse passieren, wenn wir uns in Ruhe lassen und in der Zwischenzeit darauf hoffen, eines Tages von der eigenen Gereiftheit überrascht zu werden.

Oft genug kann ich die vorangehenden Sätze selbst nicht glauben. Sie werden wahr im Zuspruch von aussen.

Mein Wort des Jahres versammelt ein herrliche Schar von Menschen, deren Vorschusswohlwollen ich viel verdanke.

Welche Zukunft wohl auf unsere Kultur wartet, wenn wir einander Raum und Zeit zu wachsen gewähren?

Sog der Zukunft

Entwicklungsgrosszügigkeit baut persönlichen Stress ab, befreit aus sozialen Steigerungs- und Beschleunigungszwängen und lässt Eskalationsspiralen ins Leere laufen. Bis ins Kleinklein des Alltags probiere ich sie aus, als stille Beifahrerin etwa. Es funktioniert: Ich bewege mich gelassener und nachhaltiger durch den Strassenverkehr.

Im Gegensatz zum Entwicklungsdruck speisst sich die Entwicklungsgrosszügigkeit nicht aus einem Mangel, sondern aus einem Überschuss an Leben.

Sie ist sogar mehr als Potenzialentfaltung. Denn in ihrer Höchstform erahnt sie eine Art zu leben, die kaum aus den Gegebenheiten extrapoliert werden kann, sondern aus der Zukunft bei uns ankommt (Adventus).

Eine göttliche Eigenschaft?

Ich glaube, dass selbst meine vierte Beziehungssphäre – der Glaube an Gott – von Entwicklungsgrosszügigkeit bestimmt ist. Die Schöpferin ermächtigt ihre Geschöpfe, in eigener und passender Weise zu etwas zu werden, das für Gott selbst offen ist.

Wäre es da nicht angezeigt, auch Gott eine ihm eigene Entwicklungsgrosszügigkeit zuzugestehen? Nicht wegen eines Defizits an Göttlichkeit, sondern weil er in seinem Weltverhältnis anscheinend auch noch nicht da ist, wo er mal sein wird.

Die Erfinderin meines Jahresbestwortes ist höchstwahrscheinlich die Hamburger Zeitgeist Forscherin Kirstine Fratz. Spontan hat sie mir ihre Definition zugesendet:

«Entwicklungsgrosszügigkeit hält den offenen Blick für das, was im Werden ist, und senkt ihn nicht für das, wie es sein sollte.»

Photo by Kama Tulkibayeva on unsplash

Alle Beiträge zu «Mein Wort des Jahres»

4 Kommentare zu „Mein Wort des Jahres [1]: Entwicklungs-grosszügigkeit“

  1. Lieber Andreas, es liegt sicherlich nicht nur an Ähnlichkeiten zwischen uns beiden, dass Dein Wort des Jahres bei mir fast die gleichen Reaktionen ausgelöst hat. Es hat bestimmt auch mit eben dieser – vom Heiligen Geist inspirierten? – Wort-Schöpfung zu tun. Damit hat, wenn Du mich fragst, eine göttliche Qualität eine für derzeit lebende, in der deutschen Sprache sozialisierte Menschen eine wahrnehmbare, nämlich sprachliche Gestalt angenommen. Ist „Entwicklungsgrosszügigkeit“ nicht genau der liebevolle, stets verzeihende, fördernde Blick, der aus göttlicher Allgegenwart, Allwissenheit und All-Liebe erhellend und erwärmend auf uns in Zeit und Raum und Materie wandernde Menschen strahlt? Ist das nicht ein geradezu göttlich-mütterlicher Blick, so ähnlich wie menschliche Mütter (und hoffentlich auch Väter) zuversichtlich, liebevoll und entwicklungsgrosszügig auf das allmähliche Gehenlernen, Sprechenlernen usw. ihrer Kinder schauen? Danke an die Zeitgeist Forscherin und Wort Schöpferin Kirstine Fratz für diese wunderbare Inspiration! Zurecht von Dir, Andreas, zum „Wort des Jahres“ gekrönt!

    1. Lieber Claudio, danke für diese schöne Würdigung von Sprache überhaupt. Worte als Gabe des Geistes Gottes! Da hört man die ruach wirklich hauchen, flüstern und durch die Kehle strömen, in jedem Sprechen der Menschen. Und ich wünsche dem Wort „Entwicklungsgrosszügigkeit“, dass es für viele Menschen eine kreative Bezeichnung von etwas wird, wofür sie selbst bisher noch kein Wort hatten. Ja, noch mehr, dass im Sinne eines performativen Sprechaktes das geschieht, was das Wort bezeichnet, wenn Menschen es aussprechen. Ich ahne mit Dir, dass dann etwas Göttliches geschieht, weil wir ihm nach oder mit ihm sprechen, mit ihm liebevoll, weitherzig und wohlwollend die Welt, unsere Nächsten und auch uns selbst anschauen.

  2. Lieber Andreas,

    mein Wort des Jahres ist ‚Seinheilig‘.

    Das ist das Gegenteil von ‚Scheinheilig‘. Das ist mein persönlicher Weg vom ‚Schein‘ zum ‚Sein‘. Zulange haben wir manchmal eine ‚fromme Show‘ gespielt und wir waren ‚Scheinheilig‘. Nun ist die Zeit gekommen um ehrlich zu werden und ‚Seinheilig‘ zu sein.
    Jesus Christus war auch ‚Seinheilig‘. Das können wir auch schon an seinen ‚Ich bin‘ – Worten ablesen (siehe im Anhang).
    Es waren keine ‚alle sollen mich halten für Worte!‘, sondern seine Existenz als Mensch und Gott.
    Deshalb ist mein Wort des Jahres ‚SeinHeilig‘.

    Anhang:
    Joh 6,35 EU: „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.“ (nochmals in Vers 48)
    Joh 8,12 EU: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“
    Joh 10,9 EU: „Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden.“
    Joh 10,11 EU: „Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.“
    Joh 11,25 f. EU: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.“
    Joh 14,6 EU: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.“
    Joh 15,1 EU: „Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weingärtner.“

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox

RefLab-Newsletter
Podcasts, Blogs und Videos, alle 2 Wochen
Blog-Updates
nur Blogartikel, alle 2 bis 3 Tage