In den letzten zwei Jahren der Pandemie haben wir viel gelernt und mussten das Gelernte zugleich unmittelbar anwenden. Wir erlernten und mussten einschätzen – vielleicht zum ersten Mal oder in einem neuen Bereich – wer oder was als vertrauenswürdige Quelle gilt, wie man Daten interpretiert und wen man als Expert:in erachtet. Nicht zuletzt durften/mussten/wollten wir mit diesem Gelernten entscheiden, welche Massnahmen wir zu streng oder zu lasch fanden, zu früh oder zu spät kamen oder welche wir als richtig oder falsch sahen.
Unangenehme Faktenkriege
Oft genug mündeten diese Auseinandersetzungen in Diskussionen, in denen es darum ging zu beweisen, weshalb unsere Sicht die Richtige war – jedenfalls in meinem Umfeld.
Wir verloren uns gefühlt in unangenehmen Faktenkriegen, in denen wir uns gegenseitig beweisen wollten, weshalb unsere Sicht die einzig richtige war.
Selten kam es vor, dass jemand nachhakte und die Sicht des Gegenübers aufrichtig und empathisch verstehen wollte. Ebenso selten war es, dass jemand sagte: «Ich weiss das nicht» oder «Da muss ich mich noch genauer oder nochmals informieren».
Dass nun jemand wie Carolin Emcke kommt und ein Buch namens «Für den Zweifel» veröffentlicht, empfinde ich als Wohltat. Sie ist – jedenfalls für mich – eine der spannendsten Intellektuellen aus dem deutschsprachigen Raum. Vor etwa einem Jahr stellte ich ihr Corona-Journal vor.
Lieber einmal mehr zweifeln
In «Für den Zweifel» wird sie in fünf Gesprächen vom Literaturprofessor Thomas Strässle interviewt. Die Gespräche befassen sich unter anderem mit den Themen Körper, Krankheit, aber auch Krieg. Grob gesagt habe ich aus dem Buch das folgende Plädoyer mitgenommen: «Lasst uns Räume finden und Räume schaffen».
Räume, um präzise hinzuschauen, um überhaupt zu erfahren, welches Probleme in unserer Gesellschaft sind und wo und wie sie sich zeigen.
Aber auch Räume, um ungeklärte Fragen, Ungewissheiten und Zweifel zuzulassen und in denen nicht immer auf alles eindeutige und klare Antworten gefunden werden können oder müssen.
Emcke betont darüber hinaus, wie wichtig es ist herauszufinden, in welchen Räumen – öffentlich wie privat – wir Meinungen austauschen und überhaupt Meinungen bilden. Denn wenn wir verlernen zu diskutieren und keine gemeinsame Grundlage dafür finden, was Fakten sind oder wohin wir als Gesellschaft wollen, fehlen sowohl Diskussionsgrundlagen als auch Handlungsrichtungen.
Aktuelle Spannungen zu Ende denken
Ich möchte am liebsten schreien und gleichzeitig erleichtert aufatmen. Endlich, denke ich: Endlich eine, die ausspricht, dass es keine sinnvolle Strategie ist, stahlhart und in einem Selbstbewusstsein zu argumentieren, weil es nicht immer der eigenen Gewissheit entspricht.
Endlich eine, die die gesellschaftlichen Spannungen benennt und warnend dazu aufruft, diese Spannungen wahrzunehmen und vor allem ernst zu nehmen.
Endlich eine, die in einer Deutlichkeit und Klarheit formuliert, wohin diese Spannungen führen können: zu einer Demokratie, die vor lauter Geschrei unfähig wird, solidarisch und unbürokratisch zu handeln und in der sich die verschiedenen Parteien gegenseitig aufreiben und sabotieren.
Das Buch bietet natürlich keine Patentlösungen dafür, wie wir alle ab sofort konstruktiv miteinander diskutieren und gemeinsame gesellschaftlich-demokratische Stossrichtungen finden können. Aber was ich aus den abgedruckten Gesprächen mitnehme und Carolin Emcke aus einigen Jahren Engagement im interreligiösen Dialog beipflichte, ist, dass viel damit getan ist, wenn gezielt Räume gesucht oder geschaffen werden: Räume für menschliche Begegnungen und Meinungsaustausch oder Räume, in denen überhaupt Meinungen gebildet werden können.
Es ist so wichtig, dass Begegnungen oder Momente geschaffen werden, in denen Fragen offen besprochen werden dürfen und es keine Tabus gibt. Das müssen keine fancy Diskussionsforen sein. Es reicht, wenn man in der eigenen Familie, bei Freund*innen, im Sport, bei der Arbeit oder an der Kasse im Supermarkt beginnt. Uns vom RefLab ist es jedenfalls ein Herzensanliegen, ein solcher Raum zu sein.
Carolin Emcke: Für den Zweifel. Gespräche mit Thomas Strässle, Kampa Verlag, 2022.
2 Gedanken zu „Mehr Räume für Zweifel schaffen“
Wenn man sich dessen bewusst ist, dass Sinneswahrnehmungen nicht «unmittelbar» zu verstehen sind, sondern Hilfsmittel zu Konstruktion sinnvoller Verstehenszusammenhänge, kann man dankbar sein für Hinweise auf Manipulationen oder Fake News, auch weil bzw. sofern sie dazu anspornen können, Sorge zu tragen für vertrauenswürdige Umstände, bzw. entsprechende gesellschaftliche und politische Voraussetzungen zu schaffen. Gerade auch weil wir selber immer wieder dazu neigen, ins Dogmatische zurückzufallen, bin ich sehr froh um solche Foren und Beiträge, die einen offenen und kritischen Meinungsaustausch fördern.
Liebe Corinne
Vielen Dank für den Kommentar. Ja, da stimme ich zu: Immerhin dasd Fake News und alternative Fakten bewirkt.
Herzlich, Fabienne Iff