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 Lesedauer: 10 Minuten

Megatrend «Manifestieren» – Knapp verfehlt oder ganz daneben?

Wahrheitsmomente

Die Welt der sozialen Medien hat einen beschleunigten Weg zum Erfolg entdeckt: Die Praxis des «Manifestierens» zieht weite Kreise und vermag besonders Jugendliche zu begeistern. In diesem Beitrag möchte ich einen eingehenderen Blick auf die Wahrheitsmomente und Grenzen der Überzeugungen werfen, die von Vertreterinnen und Trainern dieser Methode gehegt werden.

Grundsätzlich bin ich ja der Meinung:

Es gibt Dinge, die sind so falsch, dass noch nicht einmal ihr Gegenteil richtig ist. Und es reizt mich, die hinter dem Trend des «Manifestierens» steckende Philosophie in diese Kategorie einzuteilen.

Wohlwollender könnte man aber durchaus festhalten, dass dieser neuste Social-Media-Trend immerhin auf Halbwahrheiten beruht.

Sehr gut lässt sich anhand dieses Megatrends darum demonstrieren, dass auch berechtigte Beobachtungen und Schlussfolgerungen in Schieflage geraden, wenn sie verabsolutiert und gegen Kritik immunisiert werden. Ideologien leben meist nicht von der platten Lüge, sondern von der Isolation und Übertreibung legitimer Einsichten.

Das Trügerische und Gefährliche am Manifestieren ist gerade, dass es für viele eine gewisse Anfangsplausibilität in Anspruch nehmen kann:

Wir wissen um die Macht unserer Gedanken und kennen den Einfluss unserer Einstellung auf unsere Wahrnehmung und den Verlauf der Dinge aus alltäglicher Erfahrung.

Kognitive Verzerrungen

Diese Zusammenhänge sind auch psychologisch eingehend erforscht. So ist ein ganzes Repertoire sogenannter «kognitiver Verzerrungen» bekannt, denen Menschen vielfach erliegen. Damit sind verschiedenartige menschliche Neigungen gemeint, sich hinsichtlich der Objektivität seiner Wahrnehmungen und Erinnerungen strategisch zu täuschen.

Prominent unter ihnen ist die sogenannte «Confirmation Bias» – die zutiefst menschliche Angewohnheit also, Informationen so zu verarbeiten, dass sie unsere eigenen Überzeugungen bestätigen. Zahlreiche kognitive Verzerrungen lassen sich als Varianten dieses «Bestätigungsfehlers» (so der deutsche Ausdruck) deuten: wir nehmen Informationen bereitwilliger auf, wenn sie bekräftigen, was wir ohnehin erwartet und geglaubt haben – oder in den Worten eines berühmten talmudischen Sprichwortes:

«Wir sehen die Dinge nicht wie sie sind, sondern wir sehen sie, wie wir sind.»

Auch wenn wir meinen, die Welt so zu wahrzunehmen, wie sie wirklich ist, und uns an die Dinge so zu erinnern, wie sie wirklich vorgefallen sind, spielen uns unsere Vorurteile und Erwartungen ständig Streiche.

Unsere Sinneseindrücke sind eben mitnichten «neutral», sondern werden von unseren subjektiven Überzeugungen, unseren Glaubenssätzen und weltanschaulichen Vorentscheidungen mitgeformt. Uns «widerfahren» Beobachtungen nicht einfach, sondern wir «machen» sie, wie es die deutsche Sprache entlarvend ehrlich ausdrückt.

Fragwürdige Selbstwahrnehmung

Im Blick auf den Manifestations-Trend lässt sich auf diesem Hintergrund festhalten:

Wenn Menschen so entschieden an ihren Erfolg glauben wollen und ihre steilen Erwartungen gebetsmühlenartig wiederholen, dann sind sie kognitionspsychologisch prädisponiert, entsprechende Wahrnehmungen zu machen.

Das ist natürlich nichts Neues: Schon die scheinbar erstaunliche Eintretenswahrscheinlichkeit von Horoskopen beruht auf diesen Effekten: Wer morgens mit der Verheissung aufsteht, aufgrund der aktuellen Sternenkonstellation eine interessante Person kennen zu lernen, wird Menschen mit geschärften Sinnen wahrnehmen und sich besser an denkwürdige Begegnungen erinnern können. Selbst wenn man auch sonst jeden zweiten Tag jemand einigermassen Interessantes kennen lernt: am Tag des horoskopischen Zuspruchs wird man mit grösserer Wahrscheinlichkeit eine solche Erfahrung registrieren und sie als Bestätigung der Voraussage verstehen.

Dieser Mechanismus spielt zweifellos auch bei den Erfolgsgeschichten der Manifestations-Community eine entscheidende Rolle. Deren übersteigerte Erfolgserwartungen und permanente Selbstvergewisserungen führen allerdings nicht nur zu einer optimistischeren Wahrnehmung des eigenen Lebens, sondern zu veritablen Selbsttäuschungen:

In einer wissenschaftlichen Studie wurde nachgewiesen, dass Menschen, die an Manifestation glauben, eine voreingenommene, verzerrte Selbstwahrnehmung aufweisen: «Sie halten sich tendenziell für erfolgreicher als sie es eigentlich – bezogen auf messbare Faktoren wie Einkommen oder Bildungsniveau – sind», fasst ein Artikel im National Geographic das Ergebnis dieser Studie zusammen.

Selbsterfüllende Prophetien

Anhänger des Manifestations-Trends werden sich jetzt natürlich dagegen wehren, die Erfolge ihrer Methode einfach auf eine Wahrnehmungsverzerrungen zu reduzieren – und sie haben Recht.

Es gibt klare Indizien dafür, dass Menschen mit positiven Erfolgserwartungen das Gute nicht nur bewusster wahrnehmen (und sich damit selber täuschen), sondern dass sie mit ihrer Haltung das Gute in einem gewissen Sinne auch tatsächlich hervorrufen.

Das gilt besonders dort, wo das Eintreten eines Ereignisses stark vom Selbstbewusstsein und der Zuversicht des Protagonisten abhängig ist – ein klassisches Beispiel dafür ist das Bewerbungsgespräch:

Es ist unmittelbar einsichtig, dass eine Kandidatin bessere Chancen auf eine Jobzusage hat, wenn sie sich selbst für kompetent hält und das Interview in der Gewissheit führt, für diese Tätigkeit wie geschaffen zu sein – und dass ein Kandidat, der an sich selbst und am Wohlwollen des Arbeitgebers von vornherein zweifelt, mit grösserer Wahrscheinlichkeit eine Absage einfährt.

Unsere Erwartungshaltungen wirken in gewisser Weise selbsterfüllend: Wir packen Aufgaben beherzter an und begegnen Menschen mit mehr Mut und Freiheit, wenn wir uns etwas zutrauen und einen positiven Ausgang erwarten.

Erstaunliche Kräfte

Auch diese Effekte sind inzwischen hervorragend erforscht. Besonders beeindruckend sind die unter dem Begriff «Placebo-Effekte» bekannt gewordenen Phänomene: Hier geht es um Scheinmedikamente (oder sogar Scheinoperationen), die rein medizinisch-pharmazeutisch keinerlei Wirkung auf den Schmerz oder Krankheitsverlauf des Patienten haben, aber dennoch eine positive Veränderung des Schmerzpegels und Gesundheitszustandes hervorrufen.

Die auslösenden Faktoren und Wirkungsweisen von Placebos sind nicht restlos geklärt, aber es steht ausser Zweifel, dass die positive Erwartungshaltung der Probanden gegenüber der Wirksamkeit ihrer Behandlung eine entscheidende Rolle spielt:

Das Zutrauen in das verabreichte «Medikament» und der Glaube an die baldige Genesung scheint Selbstheilungskräfte des Körpers aktivieren oder schmerzlindernde Endorphine freisetzen zu können.

Auf jeden Fall demonstriert der «Placebo-Effekt» in zugespitzter Weise die beeindruckenden Auswirkungen unserer Gedanken und Gefühle – man könnte auch sagen: unseres Mindsets oder Geistes – auf unser Verhalten und sogar auf physiologische Vorgänge. Vergleichbare Resultate sind übrigens durch Autosuggestion, Selbsthypnose und autogenes Training erzielt worden – Verfahren, die sich schon in den 1970er und 1980er Jahren grosser Beliebtheit erfreuten.

Wirksamkeitsgrenzen

Mit einem «universalen Anziehungsgesetz» haben sämtliche beschriebenen Effekte freilich ebenso wenig zu tun wie mit hochfrequentierten Schwingungen, quantenphysikalischen Resonanzvorgängen und anderen esoterisch-pseudowissenschaftlichen Erklärungen für die Wirksamkeit des Manifestierens.

Es handelt sich um kognitionspsychologische und psychosoziale Mechanismen, die nachvollziehbar und oft aus eigener Erfahrung bekannt sind – und deren Wirksamkeit dann doch auch enge Grenzen gesetzt sind:

Wo die Einsicht in die Kraft unserer Gedanken zur Allmachtsfantasie aufgebläht wird, der sich die ganze Realität unterwerfen muss, dort wurde nicht nur der Boden der Wissenschaft, sondern auch jeglicher Verstand längst zurückgelassen.

Denn natürlich können auch erstaunlich selbstbewusste und erwartungsfrohe Menschen bei Bewerbungsgesprächen nicht immer überzeugen, und selbstverständlich verlassen auch Menschen, die von ihrer einwandfreien Gesundheit fest überzeugt sind, die Arztpraxis zuweilen mit einer niederschmetternden Diagnose. Und selbst wer völlig siegesgewiss ein neues Business in Angriff nimmt, wird nicht immer mit Erfolg belohnt.

Unser Leben ist kein Single-Player-Game: Es gibt unzählige Mitspieler, die den Verlauf der Ereignisse mitbestimmen, und eine unüberschaubare Zahl systemischer, gesellschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Zusammenhänge, die unser Schicksal beeinflussen.

Manifestierend in den Ruin

Darüber hinaus kann es sein, dass die im Zuge des Manifestierens gepflegte Erwartungshaltung und Siegesgewissheit nicht nur unerfüllt bleibt, sondern für den eigenen Misserfolg sogar verantwortlich ist.

Es braucht wenig Fantasie, um sich auszumalen, dass Menschen eine Arbeitsstelle oder einen Partner gerade deshalb nicht kriegen, weil sie übertrieben selbstsicher und siegesgewiss aufgetreten sind – und dabei einen arroganten, unsympathischen, ungerechtfertigt anspruchsvollen Eindruck hinterliessen.

Und nachweislich gehen Menschen, die ihren Erfolg manifestierend bereits vorwegnehmen, grössere und zuweilen unvernünftige finanzielle Risiken ein – eben weil sie denken, sie wären zweifelsfrei auf der Überholspur. Manifestations-Praktiker sind laut einer aktuellen Studie dann auch besonders empfänglich für zweifelhafte Angebote, die schnellen Reichtum versprechen und letztlich in den Ruin führen: «Eine extreme Manifestationsüberzeugung birgt das Risiko von überstürzten Entscheidungen, unrealistischen Zielen und falschen Hoffnungen», lautet das Fazit des Forscherteams.

Misserfolg, Unglück und Schaden nicht trotz, sondern gerade wegen der Praxis des Manifestierens!

(Die Wissenschafts-Journalistin Barbara Ehrenreich hat in ihrer Untersuchung mit dem Titel «Smile or Die. Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt» schlüssig nachgewiesen, dass ein unrealistischer Optimismus im Umgang mit Finanzgeschäften in den USA zu einem verantwortungslosen Investitionsverhalten und damit zum weltweiten Finanzcrash von 2008 geführt hat – ich habe darauf in einem früheren Blogbeitrag bereits hingewiesen.)

Toxische Positivität

Und selbst wenn das Manifestieren (noch) keine derartigen negativen Konsequenzen mit sich bringt: die damit einhergehende Fixierung auf positive Gedanken und Erfolgserwartungen wird unter dem Stichwort «Toxische Positivität» längst breit diskutiert.

Zahlreiche Untersuchungen widmen sich den psychisch und physisch schädigenden Auswirkungen der systematischen Unterdrückung negativer Gedanken und negativ gewerteter Emotionen wie Wut, Traurigkeit, Scham und Angst.

«Toxic Positivity: Wie wir uns von dem Druck befreien, immer glücklich sein zu müssen»;«The positive side of negative emotions»; und sogar «The Power of Negative Emotion: How Anger, Guilt, and Self Doubt are Essential to Success and Fulfillment» – so lauten die Titel nur einiger der Publikationen, die mit der Idee aufräumen, ein gutes Leben liesse sich durch strategisches Abblenden negativer Gedanken und Gefühle erreichen.

Aber eigentlich braucht es keine wissenschaftlichen Studien, um nachzuvollziehen, dass es nicht gesund sein kann, sich in eine Wolke von Affirmationen zu hüllen und jegliche Negativität von sich zu weisen.

Toxische Positivität wird dann auch als «dysfunktionaler Umgang mit Emotionen»beschrieben, welcher wichtige Wahrnehmungen und Reaktionen des Körpers sowie der Seele ignoriert und letztlich zur Realitätsverleugnung führt. Denn ganz offensichtlich wirft das Leben Dinge auf uns, die unausweichlich und mit gutem Recht negative Gedanken und Gefühle in uns auslösen – und es wäre töricht, nicht auf sie zu hören.

Latente Unbarmherzigkeit

Daran lässt sich ein noch viel schwerwiegenderes Problem anschliessen:

In der Philosophie des Manifestierens scheint eine mindestens latente Unbarmherzigkeit gegenüber Opfern von Misserfolg und Schicksalsschlägen mitverbaut zu sein.

Die Logik ist unbestechlich: Wenn dem Manifestierenden beruflicher Erfolg und privates Glück, Wohlstand und Gesundheit und überhaupt jedes erdenkliche Segnung des Universums zur Verfügung stehen – dann sind diejenigen, die diese Güter nicht erlangen, doch irgendwie selber schuld: Sie haben ihr optimales Leben nicht ausreichend visualisiert, negative Erwartungshaltungen nicht konsequent aus ihrem Kopf verbannt oder irgendeinen entscheidenden Schritt in der Technik des Manifestierens vernachlässigt…

Schon in der Literatur zum «Positiven Denken» ist diese Form des Victim-Blaming oft mit den Händen zu greifen. Rhonda Byrne etwa ist überzeugt, dass jede Krankheit durch die Nutzung des Anziehungsgesetzes kurierbar ist, und sie führt die Armut in der Weltbevölkerung ganz unverhohlen auf die mangelnde Einsicht der Betroffenen in den Mechanismus des Universums zurück.

All diese Folgerungen kehren im Zuge des Manifestations-Trends wieder – und sie sind in aller Entschiedenheit nicht nur als irrtümlich, sondern als grausam und dehumanisierend zurückzuweisen.

Pessimismus ist auch keine Lösung

Was bleibt nach dieser Tour d’Horizon durch die Wahrheitsmomente und Wirkungsgrenzen des Manifestierens? Augenzwinkernd habe ich eingangs bemerkt, dass dieser Trend auf Überzeugungen beruht, die so falsch sind, dass nicht einmal ihr Gegenteil richtig ist. Und tatsächlich besteht der Ausweg aus einer übersteigerten, toxisch-positiven Erwartungshaltung gewiss nicht darin, stattdessen konsequent mit dem Schlechtesten zu rechnen und sich in einer Spirale negativer Gedanken und Gefühle zu verlieren: Pessimismus ist auch keine Lösung.

Ein gesunder Weg führt vielmehr über die schonungslose Anerkenntnis negativer Gedanken und die ernsthafte Auseinandersetzung mit unangenehmen Gefühlen wie Trauer, Schmerz, Zorn, Scham und dergleichen.

Anders als beim Manifestieren handelt es sich hierbei nicht um einen individualistischen Prozess, den man vor dem Spiegel mit sich selbst aushandelt, sondern immer auch um ein gemeinschaftliches Unterfangen:

Wir brauchen Freunde und Vertrauenspersonen, zuweilen auch professionelle Hilfe, um mit den Unwägbarkeiten des Lebens und den Untiefen unserer Seele zurechtzukommen.

Dabei hilft das Zugeständnis an sich selbst, nicht immer glücklich und erfolgreich sein zu müssen. Die ungebrochenen Glücksverheissungen und Erfolgsfantasien nach dem Vorbild des «American Dream» mögen kurzfristige Begeisterung auslösen – nachhaltig realistisch sind sie nicht.

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