Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 7 Minuten

I Der Zwang zum Glück

»Wie lange, HERR! Willst du mich ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Angesicht vor mir? Wie lange soll ich Sorgen tragen in meiner Seele, Kummer in meinem Herzen, Tag für Tag? Wie lange noch soll mein Feind sich über mich erheben?« (Psalm 13,2-3)

 

Das gönn ich mir!

Ein Satz aus einem Interview mit Dieter Meyer hat mich vor einigen Jahren völlig von der Seite erwischt und ist mir seither in Erinnerung geblieben. Die Zeitschrift, deren Namen mir nicht mehr einfallen will, hat besagten Mann aus dem Schweizer Kult-Duo »Yello« portraitiert. Meyer ist ein erfrischend eigenwilliger Kerl, ein Lebenskünstler der gediegenen Art. Er gehört gewissermassen zu den Erfindern der Technomusik, hat legendäre Sound-Samples geschaffen, die noch heute rege rezikliert werden – und lebt zur Zeit in Argentinien, wo er  Rinder züchtet und Wein anbaut. Vom Journalisten wurde er gefragt, welchen Luxus er sich – Hand aufs Herz – leisten würde. Meyers Antwort:

»Ich leiste mir den Luxus, ab und zu richtig unglücklich zu sein.«

Dieses Statement steht in unserer Zeit eigenartig quer in der Landschaft, es ist eine Provokation, eine Unverschämtheit. Denn wir leben in einer geradezu glücksbesessenen Kultur.

Unsere glücksbesessene Gegenwart

Jeder einigermassen aufgeschlossene Teilnehmer der Gesellschaft postet heute seine freudestrahlenden Selfies auf Instagramm, tanzt der Öffentlichkeit auf TicToc etwas vor oder teilt seine tollsten Momente auf Facebook mit der Welt: Die ausgelassene Party mit all den Freunden, die schon fast nicht mehr aufs Foto passen, der Spass in den Traumferien, die freudenstrahlende Familie (dass es für anständige Familienbilder zumal mit kleinen Kindern meist stählerne Nerven und ein paar Duzend Anläufe benötigt, braucht man ja nicht zu dokumentieren…):

Je glücklicher das digital gespiegelte Leben aussieht, desto besser.

Überhaupt ist »glücklich« ein Synonym für »attraktiv« geworden. Wohlmeinende Ratgeber für Partnerschaftsinserate und Tinder-Profile raten dazu, sich als humorvoll zu beschreiben und die eigene Lebensfreude herauszustellen: »Man muss Ihrer Selbstvorstellung abspüren, dass Sie mit sich zufrieden sind und Spass am Leben haben!« Sonst wird das mit dem Partner oder der Partnerin natürlich nichts.

Wer will schon mit einem miesepetrigen Zitronenlutscher zusammen sein, der das Leben nicht zu feiern weiss?

Sogar im Job ist eine positive Lebenseinstellung gefragter als je zuvor. In Hilfestellungen zum Verfassen von Bewerbungen wird viel Wert auf die Ausstrahlung gelegt. »Zeigen Sie, dass Sie nicht nur fachliche Kompetenzen mitbringen, sondern auch Freude an der Arbeit haben und von der Vision der Firma begeistert sind!« Vorbei die Zeiten, in denen sich eine Apothekerin einfach mit Medikamenten, ein Verkäufer mit seinen Produkten, eine Informatikerin mit Computern gut auskennen musste – heute müssen sie dabei auch noch Glückshormone ausschütten, um auf dem Arbeitsmarkt wirklich zu punkten.

Unglücklichsein hat sein Recht

Es besteht mit anderen Worten ein erheblicher Druck im öffentlichen und privaten Leben, sich als lebensfroh und von positiven Gefühlen beflügelt zu zeigen. Wir werden gewissermassen darauf trainiert, unserer Existenz soviel Glück wie irgend möglich abzuringen – oder es nötigenfalls vorzugeben: »Fake it ‘till you make it«!

Wer sich hier das Recht herausnimmt, unglücklich zu sein, gefährdet das Mantra, das uns von Kindesbeinen an eingeflüstert wurde und das unser postmodernes Lebensgefühl trägt: »Das Wichtigste im Leben ist, glücklich zu werden. Nur ein glückliches Leben ist ein gelungenes, erstrebenswertes, gutes Leben!«

Aber ist das auch wahr?

Gibt es nicht ausgesprochen oberflächliche, selbstgefällige und ignorante Personen, die sich vielleicht als »glücklich« erfahren, deren Leben deshalb aber keineswegs als nachahmenswert erscheint?

Und gibt es nicht viele Menschen, die ein unbestritten sinnerfülltes, tiefgründiges und hingebungsvolles Leben führen, ohne dass sie dieses unbedingt als »glücklich« beschreiben würden?

Ist Unglücklichsein nicht oft die einzige angemessene Reaktion auf bestimmte Erfahrungen und Zustände unseres Lebens?

Sprachlich kann »Unglück« ja bezeichnenderweise beides meinen: Das, was uns schicksalhaft widerfährt, und das, was dieses Widerfahrnis (berechtigertweise) in unserem Befinden auslöst: wir erleben Unglück(sschläge) und empfinden Unglück(sgefühle). Damit sei nicht gesagt, dass man sein Unglück zelebrieren, die Not zur Tugend erklären und im Schwermut schwelgen müsste – wohl aber, dass es keine Schande ist, auch mal richtig unglücklich zu sein und keinen Spass mehr am Leben zu haben. (Und natürlich gilt das auch dann, wenn es keine »äusserlich« feststellbaren Gründe für unser Unglücklichsein sein gibt, sondern wenn uns etwa der Schatten einer Depression einholt und jede Lebensfreude austreibt.)

Klagepsalmen als vergessenes Genre

Ich halte den Realismus der Bibel an dieser Stelle für ausgesprochen hilfreich und heilsam.

Man sollte sich gerade angesichts der Glücksverliebtheit unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft immer mal wieder auf der Zunge zergehen lassen, dass von den 150 Psalmen, die uns als »Gebetsbuch der Bibel« (Bonhoeffer) überliefert sind, nicht weniger als die Hälfte ins Genre der sogenannten »Klagepsalmen« fallen.

Da tritt der einzelne Mensch oder auch die ganze Gemeinschaft (in Solidarität mit den Zerbrochenen unter ihnen) vor Gott, um ihr so richtig das Leid zu klagen. Hier wird kein Blatt vor den Mund genommen – die himmelschreiende Einsamkeit von Menschen, ihre Gefühle der Gottverlassenheit, ihre abgrundtiefe Verzweiflung am Leben kommt ungeschminkt zur Sprache. Auch vor Anschuldigungen Gottes wird keinesfalls zurückgeschreckt (vgl. etwa den eindrücklichen Psalm 13): Sie (oder er) scheint damit ganz gut zurechtzukommen.

In den Klagepsalmen erschliesst sich eine Dimension des Gebetes, eine Art und Weise, sich zu Gott ins Verhältnis zu setzen, die in den meisten kirchlichen Liturgien unserer Zeit wenig Platz hat – schon gar nicht in hochreligiösen, freikirchlichen Gottesdiensten. Da geht es zwar zuweilen sehr emotional zu und her – aber das Spektrum der durch die Worshipsongs aufgerufenen Gefühle beschränkt sich auf die präsentablen Emotionen wie Ergriffenheit, Freude, Begeisterung: Zerschlagenheit, Grimm und Klage sind da meist nicht hoch im Kurs.

Dabei birgt gerade der Ausdruck dieser »negativen« Gefühle grosse Kraft. Die Klagepsalmen sind Psychotherapie lange vor Freud und Jung, Seelsorge ohne Stundenhonorar, und viel mehr als das:

Sie sind eben als biblisch überlieferte »Vorzeigegebete« ein kräftiger Zuspruch Gottes, dass seine Gegenwart das Unglück und die Klage von Menschen aushält, ja dass diese mit ihrer Zerschlagenheit und Lebensmüdigkeit bei Gott genau am richtigen Ort sind.

Kirche als Ort ohne Glückszwang

Kirche könnte ein Ort sein, der diesen Zuspruch vermittelt. Oder besser: verkörpert. Denn natürlich begegnet Menschen diese Art der unglücksverträglichen Gegenwart Gottes oft in Gestalt anderer Menschen, welche bereit und befreit sind, auch das Unglücklichsein des Gegenübers zu (er-)tragen.

Aber wieviele Freundschaften, wieviele Ehen, wieviele Gemeinschaften halten es noch aus, dass jemand tiefunglücklich sein kann, ohne dass die Person gleich bearbeitet, mit Ratschlägen und Postkartenweisheiten »beglückt« oder durch den Hinweis auf die Wichtigkeit professioneller Hilfe vom Leib gehalten wird?

Es wäre fatal, wenn ausgerechnet die Kirche – etwa unter Verweis auf die immerwährende Freude des Evangeliums oder im Namen eines theologisch verbrämten positiven Denkens – ins Mantra unserer Zeit einstimmen und das Glück zum Kennzeichen und Massstab wahren Christseins erklären würde. Vielmehr könnte sie zu einer Gemeinschaft werden, in der auch die Glücklosen und Unglücklichen ein Zuhause finden, weil sie merken: Hier muss ich nicht strahlen wie ein Atomkraftwerk, hier kann ich ohne schlechtes Gewissen mit meiner Zerschlagenheit ankommen – und vielleicht sogar mit anderen klagend vor Gott treten.

Denn das sollte klar sein:

Wer klagt, ist zwar nicht mehr glücklich – sie oder er ist deswegen aber noch lange nicht hoffnungslos.

Wer wirklich keine Hoffnung mehr hat, klagt auch nicht mehr. Denn in der Klage drücken sich noch immer entschiedene Hoffnungen aus: die Hoffnung auf Verständnis und Anteilnahme, die Hoffnung auf eine Wendung des Schicksals, auf die Besserung der eigenen Situation – nicht zuletzt aber auch die Hoffnung, dass Gottes Gegenwart sowohl tiefer geht als meine Not als auch über sie hinausführt. Warum sonst sollte man sich zu Gott flüchten in seinem Unglück? Es verwundert darum kaum, dass die meisten Klagepsalmen der Bibel nach einem langen Weg der Anschuldigung, des Unverständnisses, der Tränen und Hilferufe doch noch zu neuem Lebensmut zurückfinden.

 

Photo by bruce mars on Unsplash

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3 Kommentare zu „I Der Zwang zum Glück“

  1. Danke Manuel für diese Authentizität! Du hast das geschrieben was viele sich nicht einmal zu denken trauen! Erlauben wir uns einfach alle mal wieder echt zu ein und richtig glücklich in unserem Unglück zu sein!

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