Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 7 Minuten

V Zitate (nicht) für den Kühlschrank

Ein Rückblick auf die Blogserie

Die Suche nach dem persönlichen Lebensglück, nach John Locke »the pursuit of happiness«, hat es als Grundrecht sogar in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 geschafft. Es wird vorausgesetzt, dass es im Leben darum geht, sein Glück zu verfolgen, und dass nur ein Mensch, der bei dieser Suche auch Erfolg hat, ein gelungenes, gutes Leben führt. In einer Serie von drei Blogbeiträgen habe ich versucht, diese Obsession unserer Zeit mit dem Glücklichsein kritisch zu hinterfragen und im Gegenzug das Recht und die Freiheit stark zu machen, auch einmal unglücklich zu sein.

Dabei wurde zunächst deutlich, dass uns das Leben viele Erfahrungen zumutet, auf welche wir nur mit Unglücklichsein angemessen reagieren. Die »positive Seite« am Verlust eines Kindes, an einer Krebserkrankung oder dem Zerbruch einer Beziehung zu suchen, ist eine Übung, der man sich nicht ohne Schaden an der eigenen seelischen Integrität unterzieht. Hilfreicher und befreiender ist hier ein Weg, den uns die biblischen Psalmen weisen. Er führt die Unglücklichen in die explizite und unverblümte Klage vor Gott. Die zahlreichen »Klagepsalmen der Gemeinde« (und nicht nur des Einzelnen) inspirieren uns, auch die heutige Kirche zu einem Ort werden zu lassen, an dem Menschen ohne schlechtes Gewissen und ohne hohle Ermunterungen zum Optimismus auch einmal unglücklich sein können.

Überhaupt hat sich beim näheren Nachdenken gezeigt, dass das gesellschaftlich verbreitete Mantra des »positiven Denkens« eine ausgesprochen gnadenlose Rückseite hat: Menschen, welche die Kraft für hoffnungsvolle Gedanken und erwartungsfrohe Gefühle nicht mehr aufbringen – vielleicht weil sie vom Schicksal besonders bitter erwischt oder von einer Depression heimgesucht wurden –, werden für ihr Unglück auch noch selbst verantwortlich gemacht. Ein solches »Evangelium für die Starken« war nicht die Botschaft von Jesus Christus, und es solche auch nicht diejenige christlicher Kirchen sein. Vielmehr können sich Christ*innen an die Herausforderung der Bergpredigt erinnern, nicht das eigene Glück ins Zentrum zu stellen, sondern für etwas Grösseres, Bedeutsameres zu leben. Dass sich ausgerechnet dann das Glück als Nebenwirkung immer wieder einstellt, gehört auch zu den paradoxen Erkenntnissen moderner Glückforschung.

Trotzdem sollte man den Glauben aber nicht als Weg zum dauerhaften Glück verkaufen. Solche Werbeversprechungen des Christentums werden mit ziemlicher Sicherheit enttäuscht – und sie unterbieten letztlich auch das, was den Glauben zutiefst ausmacht. Die Jünger*innen Jesu sind ihm nachgefolgt, obwohl er ihnen ausgesprochen ernüchternde Aussichten gemacht hat. Offenbar war ihnen klar, dass unser Leben mehr ist als die Summe unserer Glücksmomente – und dass es gerade zu den Freiheiten des Evangeliums gehört, auch einmal unglücklich sein zu dürfen.

Literaturhinweise

Zur Vorbereitung auf diese Blogreihe habe ich ausgiebig Literatur beigezogen. Manche der konsultierten Titel braucht man wirklich nicht zu kennen, andere eignen sich aber zur Vertiefung des Themas ausserordentlich. Für Leser*innen, welche mit der Frage nach dem (Un-)Glück des Lebens und der Ambivalenz positiver Psychologie noch etwas weiter unterwegs sein wollen, empfehle ich hier einige Bücher.

Barbara Ehrenreich: Smile or Die. Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt, Verlag Antje Kunstmann, München 2010 (= Barbara Ehrenreich: Bright-Sided. How the Relentless Promotion of Positive Thinking Has Undermined America, Metropolitan Books, New York 2009).

Ein aussergewöhnlich spannendes und ehrliches Buch, in dem die gefeierte amerikanische Journalistin Barbara Ehrenreich den doppelten Boden gängiger Ansätze des »positiven Denkens« aufdeckt. Sie bringt entsprechende Einflüsse auch in den christlichen Kirchen zur Sprache und zeigt, wie eng die Wirtschaftskrise von 2007 mit der fehlenden Bereitschaft zusammenhing, negative Gedanken zuzulassen und darauf zu reagieren. Dass die Alternative zum positiven Denken nicht in schierer Verzweiflung, sondern in einer möglichst realistischen Selbsteinschätzung besteht, macht die Autorin im Schlusskapitel deutlich.

Todd Kashdan & Robert Biswas-Diener: The Power of Negative Emotion. How Anger, Guilt and Self Doubt are Essential to Success and Fulfillment, Oneworld Publications, London 2015.

Der Titel dieses (nicht auf Deutsch erhältlichen) Buches ist Programm: Zwei renommierte Psychologen zeigen auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Glücksverliebtheit, wie wichtig und weiterführend sogenannte »negative« Emotionen im menschlichen Leben sind. So führen sie vor, wie Ärger die Kreativität von Menschen fördert, wie aus Schuldgefühlen Anstösse zur Veränderung erwachsen, wie sehr Selbstzweifel Menschen zu besseren Leistungen führen können usw. Das Buch ist allgemeinverständlich und äusserst engagiert geschrieben.

Arnold Retzer: Miese Stimmung. Eine Streitschrift gegen positives Denken, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2013.

Der Arzt und Psychologe Arnold Retzer setzt mit diesem Buch zu einer »Streitschrift gegen positives Denken« an – und zeigt nicht nur die desaströsen Folgen eines konsequent gelebten Optimismus auf (»Wir hoffen uns zu Tode…«), sondern bietet auch hilfreiche Ausführungen zum Krankheitsbild der Depression und zum Umgang mit Betroffenen.

Günter Scheich: »Positives Denken« macht krank?! Vom Schwindel mit gefährlichen Erfolgsversprechen, Dr. Scheich Verlag, Oelde 2013.

Auch hier schreibt ein Arzt und Psychotherapeut erfrischend unverblümt über die negativen Folgen eines ideologisch verstandenen »positiven Denkens«. Das Buch eignet sich auch hervorragend als Einführung zu den Ideen und Vertretern des positiven Denkens. Darüber hinaus stellt der Autor zahlreiche Fallbeispiele aus seiner therapeutischen Praxis dar und führt an verschiedenen Krankheitsbildern vor, woran »positives Denken« scheitert – und welche Behandlung angemessen und zielführend wäre.

Zitatenschatz

Wilhelm Schmid: Unglücklich sein. Eine Ermutigung, Insel Verlag, Berlin 2012.

Das kleinste Büchlein erhält hier den grössten Raum – es handelt sich um einen Essay des Philosophen und Publizisten Wilhelm Schmid, der sich auch in zahlreichen weiteren (und umfangreicheren) Büchern mit Fragen der Lebensführung und des (Un-)Glücks beschäftigt hat. In diesem Band ermutigt Schmid seine Leser*innen, sich nicht auf das Glücklichsein zu versteifen, sondern auch Unglück, Unzufriedenheit und Melancholie als Teil der »Fülle des Lebens« anzuerkennen. Die überschaubare und sehr frisch verfasste Schrift (100 Seiten im Kleinformat) bietet so viele bemerkenswerte Zitate, dass ich diese Blogserie mit einer Zitatenlese daraus beenden möchte. Hier sind sie also – die Zitate zur Frage nach dem Glück, die sich (nicht) für den Kühlschrank eignen:

»Dass es im Leben allein um Glück gehe, ist eine Märchenerzählung derer, die den schwindenden Sinn im modernen Leben durch Glück ersetzen wollen, aber damit ist es definitiv überfordert.« (11)

»Momente und Zeiten des Glücks sind sinnvoll, um sich vom Unglücklichsein zu erholen, aber es ist unsinnig, sie auf Dauer haben zu wollen, denn ewig fortdauern können sie nicht.« (27)

»Glückliche Menschen in einer glücklichen Gesellschaft begeben sich in grosse Gefahr: Ihre Zufriedenheit steht der immer wieder erforderlichen Unruhe über die Verhältnisse im Weg, niemand kann das wirklich wollen. […] Es ist nicht die Bestimmung des Menschen, immer nur zufrieden zu sein, sonst sässe er noch immer auf den Bäumen.« (37, 38)

»Ein grosser Teil dessen, was in der Geschichte der Menschheit an Bewundernswertem zustande gebracht worden ist, ging nicht aus Zufriedenheit hervor. Die Zufriedenheit als Lebensziel wird heillos überschätzt. Unzufriedenheit ist der Ansporn zu neuen Taten, das ist dem Menschsein eigen.« (39)

»Mit aller Macht die positive Sichtweise aufrechtzuerhalten, laugt Menschen aus, mit dem Resultat, noch wütender positiv zu denken. […] Aber was hilft es, Trost darin zu finden, die Dinge so zu sehen, wie sie nicht sind?« (42)

»Nicht alles kann beliebig gedeutet werden. Gläser sind nicht immer nur halb voll oder halb leer, sondern gelegentlich auch ganz leer.« (43)

»Eine differenzierte Lebenskunst besteht darin, die Dinge gelegentlich positiv zu sehen und sich dennoch negative Dinge vorbehaltlos klarzumachen.« (45)

»Melancholie ist eine Art und Weise des menschlichen Seins, eine Seinsweise der Seele, die wesentlich zur Existenz des Menschen gehört, ohne dass dies in irgendeiner Weise als krankhaft gelten könnte.« (51)

»Depressiv macht auch, dass offenbar nur Idioten in dieser Welt unterwegs sind und lediglich das eigene Ich zweifelsfrei davon ausgenommen ist.« (53)

»Ein Gutteil der Musik quer durch die Zeiten, von den antiken Gesängen der Sappho bis zu modernen Popsongs, besteht aus Stücken eines kunstvoll komponierten Traurigseins.« (76)

»Glück ist, in Zeiten des Unglücklichseins Menschen zu kennen, mit denen über alles geredet werden kann.« (81)

»Das Diesseits weigert sich hartnächig, zum Paradies zu werden. Das Ausmass der Hoffnungen, die Menschen in ihr Glück setzen, definiert die Fallhöhe, die erfahrbar wird, wenn alle Anstrengungen vergeblich sind, individuell und gesellschaftlich. […] Beim Rückblick künftiger Zeiten auf die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhundert wird die Verwunderung gross sein: Wie konnte die Menschen in einer Zeit der astronomischen Staatsverschuldungen und irrwitzigen Finanzkrisen so sehr mit ihrem persönlichen Glück beschäftigt sein? Hatten sie keine andern Sorgen? Aber sie wandten sich dem Glück zu, weil sie andere Sorgen hatten.« (92)

Alle Beiträge zu «Die Freiheit zum Unglücklichsein»

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