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Masken der Angst

Neulich bei einem Besuch im Berliner Stadtmuseum hat mich der mittelalterliche Pestarzt gefesselt. Es handelt sich um die Rekonstruktion eines Ganzkörperschutzanzuges mit passenden Handschuhen, einem Stock und einer Schnabelmaske mit verglasten Augen. Im ersten Moment hielt ich das Ausstellungsstück für ein Karnevalskostüm oder ein SM-Outfit. Die Schnabelmaske liess Pestärzte wie Krähen aus einer Fabel aussehen. Es muss unheimlich gewirkt haben, wenn sie durch Strassen zogen und erst recht, wenn sie in ein Zimmer eintraten. Wahrscheinlich wäre ich als Patient bei dem Anblick der Ärzte vor Schreck gestorben.

Der rüsselartige Fortsatz hat eine rationale Erklärung, die gleichzeitig irrational erscheint. Rationalität und Irrationalität lassen sich, wenn Angst im Spiel ist, nur schwer auseinander halten. In der Schnabelspitze der Schutzmasken der Pestärzte steckten Säckchen mit duftenden Medizinkräutern und Essenzen, die üblichen Hausmittel gegen diffuse Bedrohung: Wacholder, Amber, Zitronenmelisse, Grüne Minze, Kampfer, Gewürznelken, Myrrhe, Rosen oder Styrax. Davon versprach man sich offenbar Schutz gegen tödliche Ansteckung.

Die bizarre Maskerade erschien mir bei meinem Museumsbesuch vor wenigen Monaten ungemein weit entfernt: ein Relikt aus einer anderen Zeit, in der sich Märchen, Medizin und Mythen verschränkten. Ich lächelte ein wenig über den Aberglauben mittelalterlicher Menschen, machte ein Handyfoto und ging weiter.

Unheimlicher als der ‚medico della peste‘

Vor wenigen Tagen begegnete wir der Pestarzt überraschend wieder: in einem TV-Beitrag über die Sperrung von sieben norditalienischen Städten und den vorzeitig abgebrochenen Karneval in Venedig. Bilder von bunten Karnevalsfiguren wurden eingeblendet. Ein Sprecher sagte:

„Die unheimlichste Maske beim diesjährigen Karneval war nicht die des ‚medico della peste‘, sondern die Atemschutzmasken, mit denen sich Touristen gegen eine Ansteckung mit dem Coronavirus zu schützen versuchten.“

Die drastischen Quarantänemassnahmen in Norditalien liessen an eines der bedeutendsten literarischen Werke des Landes denken: Giovanni Boccaccios „Decamerone“. Hier begeben sich zehn junge Menschen in der Hoffnung, der Pest zu entkommen, in einer Villa nahe Florenz in freiwillige Quarantäne und erzählen sich hundert unterhaltsame Novellen. Ablenkung als bewährtes Mittel gegen ‚Traurigkeit‘ und ‚trüben Gedanken‘.

Noch voriges Jahr habe ich mit meiner taiwanesischen Freundin über asiatische Touristen gelacht, die mit Chirurgenmasken herumlaufen. Sie meinte achselzuckend:

„Das hilft vielleicht gegen deren Angst, aber natürlich bringt es nichts.“

Inzwischen klebt in der Apotheke bei uns ums Eck ein Zettel mit der Aufschrift: „Atemschutzmasken ausverkauft!“ Noch bevor das Virus auf die Stadt übergesprungen ist, ist die Angstepidemie losgebrochen. „Ein bisschen irrational“, meint der Apotheker, „und unverhältnismässig, an Influenza sterben weitaus mehr Menschen“.

Wuhan-Apokalypse und Emergency Design

Im chinesischen Wuhan basteln verzweifelte Menschen inzwischen DIY-Schutzanzüge und Masken. Sie stülpen PET-Flaschen längst oder quer über den Kopf, was sie aussehen lässt wie Fische im Glas. Manche bauen zusätzlich kleinere Flaschen, in denen Taschentücher stecken, als Respirationshilfe ein. „The 4 horseman of Wuhan apocalpyse“ ist das Foto einer bizarren Maske betitelt, das in Sozialen Netzwerken kursiert. Das Schutzbedürfnis kreiert Sicherheitsdesign, das an historische afrikanische Masken, apokalyptische Reiter oder Hollywood-Figuren wie Darth Vader erinnert.

Emergency Design haarscharf an der Grenze zur Komik? Ein Karikaturist des frühen 19. Jahrhunderts machte sich über einen Menschen lustig, der „mit allen Präservativen“ gegen die damals grassierende Cholera ankämpft. Eine Gummihaut, darüber ein Pechpflaster und mehrere Hüllen Flanell, auf der Herzgrube ein kupferner Teller, auf der Brust ein Sandsack, in den Ohren Kampfer, vor der Nase ein Riechfläschchen, in der rechten Hand ein Wacholderstrauch, in der linken ein Akazienbaum und auf dem Kopf eine Suppenterrine – „so versehen und so ausgerüstet ist man sicher die Cholera – am Ersten zu bekommen“.

Die psychophysische Dimension wird oft unterschätzt

Vorsichtsmassnahmen gegen unkalkulierbare Gefahren mögen hilflos und gleichzeitig übertrieben erscheinen. Anders sieht es aus, wenn man die psychische und seelische Komponente mitbedenkt. Dem mittelalterlichen Pestarzt mag es die Duftpackung in der Schnabelmaske erleichtert haben, überhaupt den Mut zu fassen, in Zimmer einzutreten, in denen es nach Tod roch.

Ähnliche Effekte mögen Objekte aus dem afrikanisch-schamanistischen Zusammenhang gehabt haben, die die ältere Ethnologie als ‚Fetische‘ bezeichnete. In sogenannte ‚Nkisi‘ wurden von Medizinkundigen kraftaktivierende Substanzen (bilongo) eingearbeitet: bestimmte Kräuter und Essenzen als Verbindungsmittel zu Schutzgeistern (bansimbi) und Ahnen. Die psychophysische Dimension vermeintlich ‚primitiver‘ Heilrituale ist in der Forschung lange Zeit unterbelichtet geblieben.

Angesichts von Epidemien oder Pandemien merken wir, dass wir ständig im Austausch mit anderen Menschen sind und wie mühsam es ist, Kontakt und Berührung zu verhindern. Schutzvorkehrungen wie Masken lassen sich neu in den Blick nehmen, wenn man sie als psychophysische Infektionspräservative betrachtet.

Meine Flügel wurden zerquetscht

Auch unser europäischer Karneval ist vielschichtiger und abgründiger als es scheinen mag. In das taumelnde Fest sozialer Nähe ist das Wissen um Kontaktgefahren und den ‘mitten im Leben‘ mittanzenden Tod eingewoben. „Su lang mer noch am Lääve sin“, heisst es in einem beliebten Kölner Karnevalslied, das beim Kneipenkarneval ekstatisch gesungen wird. Ich habe vor ein paar Jahren selbst mitgesungen. Ich ging als Engel. Ein Fehler. Meine Flügel wurden in dem überfüllten Lokal, in dem sich Körper an Körper drängte, zerquetscht.

Tragischerweise fiel die Corona-Inkubationsphase mit dem diesjährigen Karneval zusammen. Infizierte haben sich nachweislich in den Trubel geworfen. In früheren Jahrhunderten haben Menschen in Unkenntnis von Ansteckungsquellen auf den Ausbruch von Epidemien mit Messen und Bittprozessionen reagiert, was jeweils zu sprunghaften Infektionsanstiegen geführt hat.

Die Hafenstadt Venedig, in der täglich Schiffe aus aller Welt anlegten, war besonders exponiert. Allein die Pest brach dort mehr als zwanzigmal aus. Kein Wunder, dass der ‚medico della peste‘ oder auch ‚Schnabeldoktor‘ neben dem Capitano und Harlekin zu einer Standardmaske im Karneval geworden ist. Dass diese Figur, die mit zutiefst belastenden Erfahrungen in Zusammenhang steht, im Karneval mittanzen darf, ist Ausdruck erfolgreicher Traumabewältigung.

 

Bild: Manfred Gräfe (Figur); Kristina Weiss (Kostüm), Pestarzt, Rekonstruktion, © Stadtmuseum Berlin, Foto: Michael Setzpfandt, Berlin.

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