«Ich hatte gerade einen Eindruck* (Erklärung im nächsten Abschnitt) für dich», sagt die junge Frau mir gegenüber, «darf ich ihn dir weitergeben?» Triggeralarm. Was kommt jetzt? Entweder, sie sagt etwas, was sehr beliebig ist oder überhaupt nicht zutrifft. Oder sie trifft einen Nerv und ihre Worte berühren mich, vielleicht mehr und emotionaler, als mir lieb ist. Weil wir vorher schon miteinander im Gespräch waren, sie mir sympathisch ist und ich mich der Situation gewachsen fühle, nicke ich. Doch innerlich verschränke ich die Arme und trete einen Schritt zurück.
*Ein «Eindruck» ist ein Gedanke in Worten oder Bildern, den jemand in Bezug auf eine Situation oder Person hat, dessen Ursprung er/sie Gott zuschreibt und den er/sie den betreffenden Personen mitteilt. Meistens handelt es sich dabei um ermutigende Worte und nicht um konkrete Handlungsanweisungen oder angebliche Zukunftsvoraussagen.
Ruhig blickt mich mein Gegenüber an und sagt dann drei Sätze. Die Worte der jungen Frau drücken ein liebevolles Gottesbild aus, enthalten eine ermutigende Metapher und sind so allgemein, dass ich damit erst mal wenig anfangen kann. Erleichtert bedanke ich mich.
Früher Teil davon, heute freundschaftliche Distanz
Die «Explo Days», eine zweitägige Konferenz der Organisation «Campus für Christus», sind der erste Anlass nach Jahren, an dem ich wieder einmal voll in die evangelikale* Kultur eintauche. «Eindrücke», Anbetungsmusik, gemeinsames Gebet, bei dem Menschen bei geschlossenen Augen ihre Hände in die Luft strecken – ich bin in einer Freikirche aufgewachsen und kenne all das gut. Aber ich lebe den Glauben an Gott heute nicht mehr auf diese Art.
*Eine mögliche Definition von «evangelikal» ist das «Bebbington-Quadrilateral» (David Bebbington, 1989):
- Evangelikale Christ:innen glauben, dass es eine «Bekehrung» zu Jesus Christus braucht.
- Ihr Glaube zeigt sich in missionarischen Aktivitäten (Verkündigung des Christentums sowie Einsatz zum Wohl anderer Menschen).
- Sie halten die Bibel für göttlich inspiriert und massgeblich in allen Lebensfragen.
- Sie verstehen die Kreuzigung von Jesus Christus als die entscheidende Tat Gottes, um sich mit der Menschheit zu versöhnen.
Nach einem Bruch mit dieser Ausprägung des christlichen Glaubens und einer Neuorientierung einige Jahre später bezeichne ich mich als «post-evangelikal». Ich bin spirituell in der reformierten Kirche angekommen. Dass ich mich hier wohler fühle, hat damit zu tun, dass diese Konfession theologisch pluraler und tendenziell nüchterner ist. Drei Beispiele: Die letzten Worte der Predigt werden nicht mit feinen Pianoklängen untermalt, um Emotionen zu schüren, wodurch sich viele manipuliert fühlen. Man liest die Bibel nicht mit der Erwartung, in jedem Text eine persönliche Anrede von Gott zu finden, sondern als Buch, das auch Spannungen und historisch zu verortende Aussagen enthält. Und: Nicht-Christ:innen werden nicht in erster Linie als «VIPs»* gesehen, sondern als ebenbürtige Mitmenschen mit Stärken und Schwächen, deren Glauben von aussen nicht beurteilbar ist.
*«VIP» («Very Important Person») ist ein moderner evangelikaler Ausdruck für eine Person im eigenen Umfeld, die nicht («noch nicht») an Jesus Christus glaubt. Diesen Menschen die Sinnhaftigkeit eines Lebens im Glauben an Gott zu vermitteln, ist ein zentraler Aspekt des evangelikalen Christentums. Denn Atheist:innen, Agnostiker:innen und Andersgläubige verbringen nach dem Tod eine Ewigkeit in Trostlosigkeit, fern von Gott – so die Überzeugung.
Die «Explo Days», eine zweitägige Konferenz der Organisation «Campus für Christus», sind also der erste Anlass nach Jahren, an dem ich wieder einmal voll in diese Kultur eintauche. Obwohl mir die evangelikale Welt ein Stück weit fremd geworden ist, glaube ich, in den letzten Jahren hier Bewegungen entdeckt zu haben, die ich interessiert mitverfolge. Es scheint mir, dass mancherorts theologisch eine Horizonterweiterung geschieht, und ich möchte sehen, ob da was dran ist.
Ich habe mich als Medienvertreterin akkreditiert und meine Beziehung zur Organisation und zu diesem Anlass für mich im Vorfeld als «freundschaftliche Distanz» definiert. Ich merke, wie froh ich um den Medien-Badge bin, den ich gut sichtbar um den Hals trage. Und die OP-Maske, die mir ein Stück Anonymität schenkt. Beides erlaubt mir, mich von den knapp 600 Teilnehmenden erst mal etwas zu distanzieren, denn ich stecke sie eher in die evangelikal-konservative Schublade.
Die Plätze für Journalist:innen sind am Rand – aber in der ersten Reihe. Ich komme etwas zu spät an, aber als beim gemeinsamen Gebet nach der Begrüssung alle die Augen schliessen und die Köpfe neigen, schleiche ich mich nach vorne und setze mich.
Ich möchte laut «Preach it!» rufen
Ich bin etwas nervös. Die Musikinstrumente auf der Bühne zeigen an, dass vermutlich Worship* auf dem Programm steht. Ich werde nicht mit den anderen aufstehen und ekstatisch mitsingen. Erstens habe ich mich dabei noch nie wohl gefühlt, und zweitens ist Musik nicht unbedingt mein spiritueller Zugang. Werde ich die einzige sein, die sitzen bleibt? Und was mache ich dann – beobachten? Leise mitsingen, wenn ich die Texte mag? Im Takt der Musik mit den Füssen wippen?
*«Worship» (deutsch: «Lobpreis») ist kirchliche Popmusik. Die Texte sind entweder ein an Gott gerichtetes Gebet, oder es werden darin Charakterzüge Gottes besungen. Beispiele: «How Great is Our God», «10’000 Reasons (Bless the Lord)», «Vater, ich danke dir».
Nach dem ersten Referat, das der Gesamtleiter von «Campus» hält, Andreas «Boppi» Boppart, atme ich auf. Er kritisiert, dass die christliche Gemeinde das Evangelium zugespitzt habe, sodass es nicht mehr greifbar sei und sogar Menschen verletze. Es gehe nicht nur um das jenseitige Seelenheil der Mitmenschen, sondern auch um den Einsatz für soziale Gerechtigkeit. In konservativen Kreisen werde ersteres zu sehr betont, in liberalen zweiteres.
«Wir predigen Christus und üben Verrat an der Liebe!», sagt «Boppi», und ich möchte am liebsten laut «Amen!» und «Preach it!» rufen.
Ich spüre, dass ich freier atme, dass das eine Theologie ist, der ich zustimmen kann. In einer kurzen Pause wird darüber diskutiert. Ich lausche der Unterhaltung dreier junger Menschen, die sagen, dass «Liebe» nicht gleichbedeutend sei wie «Toleranz», «zum Beispiel bei Homosexualität». Bam, die Schublade fällt mit einem Knall zu.
Theologische und emotionale Achterbahnfahrt
Diese emotionale und theologische Achterbahnfahrt zieht sich durch das gesamte Wochenende. Inspirierende Referate und Begegnungen mit weitherzigen Menschen wechseln sich ab mit konservativen Glaubens- und Weltbildern. Ich bleibe beim Worship sitzen, singe aber einzelne Liedtexte gerne und aus persönlicher Überzeugung mit. Ich freue mich an der Wertschätzung von Musik, Spoken Word und Tanz. Dann wieder ärgere ich mich über die allgemeine Heteronormativität und frage mich, warum der Typ Macho-Prediger, der dreimal erwähnen muss, dass seine Frau wunderschön ist, an solchen Events immer noch eine Plattform erhält. Und als an einer Stelle tatsächlich der Begriff «Unbekehrte» fällt, zucke ich innerlich zusammen.
Am schwierigsten auszuhalten ist die Gruppendynamik. Einmal bittet eine Referentin das Publikum, aufzustehen. Als sie uns auffordert, die Arme mit nach oben geöffneten Handflächen auszustrecken, damit wir den Heiligen Geist empfangen*, setze ich mich wieder. Ich empfinde diese «verordnete Offenheit» und die damit zusammenhängende Anweisung zu einer bestimmten Körperhaltung als übergriffig.
Abgrenzung als spirituelle Self Care wird in diesen Kreisen nicht gestärkt.
Mehr als einmal werden bewusst Emotionen geschürt und ich weiss aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, wenn man als Mitglied dieser Gemeinschaft die allgemein sichtbare Euphorie innerlich nicht teilen kann, obwohl man es sich zutiefst wünscht.
*Mit dem «Empfangen des Heiligen Geistes» wird ausgedrückt, dass man sich bewusst für göttliche Impulse öffnet. Die Anwesenheit des Heiligen Geistes als Kraft Gottes in einem selbst zeigt sich für Evangelikale etwa in spontanen Gedanken, etwas für andere zu tun, in übernatürlichen Eingebungen und Begabungen oder im Mut, im Alltag anderen Menschen von Gott zu erzählen.
Positive Entwicklungen, aber noch zaghaft
Gleichzeitig sehe ich die theologische Öffnung, die ich von aussen wahrgenommen habe, vielerorts bestätigt. Eine wortwörtliche Lesart der Bibel wird an dieser Konferenz nicht gepredigt. Es wird eingesehen, dass das Verkündigungsschema «Sünde – Kreuz – Vergebung – ewiges Leben» heute häufig nicht mehr funktioniert. Dass Menschen mit dem Begriff «Sünder:innen» wenig anfangen können und sich nicht wirklich Gedanken übers Jenseits machen.
Und dass zu einem tragfähigen Glauben mehr gehört als ein einmaliges Kreuzchen auf einem himmlischen Formular.
Ich nehme keine Abgrenzung von der «sündigen Welt» wahr, wie ich es früher manchmal in freikirchlichen Gemeinschaften gehört habe. Kein Verdammen von Menschen, die anders glauben oder im Leben andere Prioritäten setzen, sondern Sympathie und echte Anteilnahme an lebensweltlichen Problemen.
Es ist hier auch akzeptiert, Zweifel am Glauben zu äussern und darüber zu sprechen, dass man Gott nicht so wahrnimmt, wie man es sich wünschen würde. Dass Gebete manchmal ins Leere zu laufen scheinen und es spirituelle Durststrecken gibt, ist kein Tabuthema mehr, auch unter jungen Christ:innen nicht. Das sind positive Entwicklungen.
Doch hätte ich mir mehr Mut gewünscht, konkrete Dinge zu benennen, die es zu korrigieren gilt. Zum Beispiel die Haltung gegenüber queeren Menschen – eine Frage, welche die evangelikale Gemeinschaft spaltet, aber zu der kein einziges Wort fiel. Oder die Dringlichkeit der Klimakrise – nur einmal wurde diese angesprochen. Der Spoken-Word-Künstler Marco Michalzik erwähnte in seinem Auftritt das Sterben vor den Mauern der Festung Europa – ein dichter Moment. Und die Referentin und Menschenrechtsaktivistin Lisa Sharon Harper sagte sehr deutlich, dass Ausbeutung und Diskriminierung jeglicher Art gegen ein christliches Menschenbild verstosse. Doch mit diesen Ausnahmen blieb das «diesseitige Reich Gottes» vage, die Messages waren zwar inspirierend, aber ich vermute, die Teilnehmenden hörten darin ziemlich unterschiedliche Dinge.
Es scheint einen Gap zwischen Veranstaltenden und Teilnehmenden zu geben: Verschiedene Personen aus der Leitung von «Campus», mit denen ich in den Pausen ins Gespräch komme, bestätigen meine Eindrücke über eine theologische Weitung. Jedoch dürfe man die Menschen nicht überrumpeln, deswegen die zaghaften Schritte. Ich sehe Parallelen zu freikirchlichen theologischen Ausbildungsstätten: Auch dort sind Leitung und Dozierende mancherorts um einiges aufgeschlossener als die Menschen in den Gemeinden, aus denen die Studierenden stammen.
Was ich mitnehme
Ich teile meine Beobachtungen während der zwei Tage auf Instagram. Die Resonanz ist riesig. In meiner Community haben viele eine ähnliche Geschichte wie ich. Sie können die Achterbahnfahrt nachfühlen und viele sind neugierig, wie ich die Konferenz wahrnehme. Ich erhalte Dutzende von Nachrichten – so viele wie noch nie. Ein paar wenige sogar von Leuten, die selber vor Ort sind und die innere Ambivalenz ebenfalls wahrnehmen.
Am Ende der Konferenz beantworte ich in einem Insta-Live Fragen aus der Community. Eine davon ist: «Was nimmst du für deinen eigenen Glauben mit?»
Ein zentrales Thema der Arbeit von «Campus für Christus» und damit auch der «Explo Days» war, wie der eigene Glaube mit Menschen des 21. Jahrhunderts geteilt werden kann. Und ja – da nehme ich tatsächlich etwas mit. Auch wegen meiner Tätigkeit im RefLab, wo wir transparent von unserem Glauben erzählen wollen, reflektiere ich immer wieder, was mir Gott bedeutet und inwiefern mir der Glaube Ressource ist und Orientierung gibt. Ich sehe für mich durchaus Luft, meine Erfahrungen und Gedanken noch offener und konkreter zu teilen, ohne gleich «missionarisch» im aufdringlichen Sinne zu werden. Denn trotz der vielen Fragen und berechtigten inneren Widerstände, die ich an den vergangenen zwei Tagen gespürt habe: Die Faszination für Gott, der unendliche Liebe ist und dessen Hinwendung zur Welt mir Hoffnung und Kraft gibt, teile ich.
Foto: zvg. Explo Days/Campus für Christus
11 Gedanken zu „Eine post-evangelikale Achterbahnfahrt“
„freundschaftliche Distanz“, so schön edel.
Danke, Andreas!
Ein spannender und authentischer Bericht – vielen Dank dafür!
Danke vielmals!
Das nenne ich mal wohltuende Entwicklungsgrosszügigkeit, die Du hier freundlich anderen Gläubigen und auch Dir selbst gewährst, und das noch so, dass es mich als Leser ansteckt – ebenfalls für andere wie mich selbst.
“Preach it, Evelyne!”
Danke, lieber Andreas, für das schöne Feedback.
Liebe Evelyne
Tolle Reportage und als auch ein bisschen “Postevangelikaler” kann ich das so gut nachvollziehen.
Aber es kommt mir ein bisschen am Schluss wie in der Diskussion um die katholische Kirche daher: “Ja, man sieht, da bewegt sich was, auch nur im Kleinen…” Wirklich?
Sind wir deshalb weil sich da kaum etwas bewegt eben Postevangelikale, Exkatholiken und jetzt gemeinsam Wieder- oder noch Reformierte?
Hier noch eine Frage:
Was ist eigentlich genau “Postevangelikal” und was “Exevangelikal” (siehe unser Theo Joerg)?
Danke fürs Feedback. Ja, vielleicht ist es so – kombiniert mit einer persönlichen Glaubensbiografie.
Ich geh mit der Unterscheidung, dass “Post-Evangelikale” sich noch als Christ:innen definieren, “Ex-” nicht mehr. Hab ich glaubs von Martin Benz (Movecast), nicht mehr sicher.
Postevangelikale distanzieren sich von einigen Facetten des evangelikalen Glaubens, ohne diesen komplett zu verwerfen. Ex-Evangelikale haben sich ganz vom Evangelikalismus abgekehrt und einer anderen Form Christentum zugewandt, z. B. liberalem Christentum. Exchristen haben den christlichen Glauben hinter sich gelassen und sehen sich selbst auch gar nicht mehr als Christen.
So würde ich es definieren.
Danke für deinen Kommentar. In einschlägigen Artikeln und Podcasts hat sich eine leicht andere Definition durchgesetzt: Postevangelikale sind Christ:innen, die sich nicht mehr als evangelikal bezeichnen, Exevangelikale sich nicht mehr als Christ:innen.