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Martin Schongauer – Eine andere Zeit

Abbildung: Die Geburt Christi mit der Anbetung der Hirten, Martin Schongauer, um 1475, Staatliche Museen zu Berlin/Gemäldegalerie, Public Domain, Wikimedia Commons

Es scheint tiefe Stille eingekehrt zu sein. Die Alltagswelt ist noch da, aber in den Hintergrund gerückt. Am Horizont glänzen prachtvolle Gebäude im Sonnenlicht. Ein breiter Fluss liegt träge in seinem von Hügeln gesäumten Bett, das teilweise ausgetrocknet ist. Es herrscht – unweihnachtlich – Sommer.

Während die ferne Landschaft taghell ist, verschwinden in der linken oberen Bildecke letzte Spuren der Nacht.

Das figurenreiche Geschehen im Vordergrund spielt sich in nächster Nähe des Betrachters ab. Strahlend weisse Windeln springen ins Auge. Man muss das Christuskind nicht suchen. Alle Augen sind auf das Neugeborene gerichtet. Nur der Ochse schaut aus dem Bild – und uns mit grossen Augen an.

Das kleine Andachtsbild von Martin Schongauer (um 1445/1450–1491) aus der Berliner Gemäldegalerie trägt den Titel «Geburt Christi» oder auch «Anbetung der Hirten». Es ist eines von vier ähnlich komponierten Andachtsbildern, die sich von dem spätgotischen Meister erhalten haben, dessen Werk im Bildersturm stark dezimiert wurde.

Juwelenhaftes Leuchten

Schongauer wird für raffinierte und trotzdem übersichtliche Kompositionen, erzählerischen Reichtum und juwelenhaft leuchtende Farben geschätzt. Seine Gemälde und Kupferstiche brachten dem in Colmar arbeitenden Goldschmiedsohn schon zu Lebzeiten Ruhm ein.

Ein anderer Goldschmiedsohn, Albrecht Dürer, machte sich seinerzeit auf den Weg zu ihm. Er traf den Meister aber nicht mehr lebend an.

Das um 1480 datierte Tafelbild wurde auch schon etwas despektierlich als «Heiland auf der Mottendecke» umschrieben.

«Heiland auf der Mottendecke»

Die Löcher in der fahl-roten Decke, auf der das nackte Christuskind liegt, korrespondieren mit der prekären Architektur aus Baumstämmen und unordentlichem Strohdach. Es ist weniger als ein Stall, eher ein Unterstand für Tiere bei Gewitter, angebaut an eine Felsnische.

Der verwitterte Zustand der Hütte kann als Sinnbild des Zustands der Welt gedeutet werden, für Verelendung und Verfall.

Die prekäre Behausung kann auch auf das menschliche Herz hindeuten, das kaum gerüstet erscheint, um ein göttliches Licht zu beherbergen.

Eine imaginäre Diagonale verläuft von links oben nach rechts unten und teilt die Bildfläche in zwei Hälften. Innen befindet sich die «heilige Familie». [1] Der fast schon greisenhafte Zimmermann trägt am Gürtel eine mittelalterliche Geldkatze, die nicht besonders prall gefüllt ist. Maria ist in gotischer Manier als blondgelockte Kindfrau im himmelblauen, graziös gefalteten Mantel dargestellt. Sie scheint mehr zu schweben als zu knien.

Ihr Blick ist gleichermassen auf das Kind wie nach innen gerichtet.

Die Hirten

Im äusseren Dreieck befinden sich drei Männer, die durch die Kleidung und die Attribute Strohhut, Flöte und Signalhorn zum Herbeirufen von Vieh und Hunden als Hirten ausgewiesen sind und durch ihr gestuftes Alter zugleich die drei Lebensalter repräsentieren.

Sie sind hart angeschnitten. Es scheint, als würden sie sich in einen anderen Raum, eine andere Zeit, ein anderes Leuchten hineinbeugen, während die Farbigkeit ihrer Kleidung den Erdfarben der irdischen Landschaft verhaftet bleibt. Das Aussehen der Hirten verrät harte, auszehrende körperliche Arbeit.

Unübersehbar – und das war selten in der Malerei nördlich der Alpen – ist die Szene an die Huldigung der drei «heiligen Könige» angelehnt.

Eine Ironie kann man darin sehen, dass die gelehrten Könige und Zeichendeuter aus der Upper Class von sehr weit her zu Christus kommen, während der Weg der armen, ungebildeten Hirten kurz ist. Im Hintergrund, zwischen zwei Pfeilern der Hütte, kann man ihren Arbeitsplatz sehen: eine Wiese mit Schafherde.

Helfende Tiere

Einzig Ochs und Esel befinden sich in beiden diagonalen Flächen, der Kopf des Ochsen wird durch die Diagonallinie sogar durchschnitten. Der Ochse ist dem Kind am nächsten und scheint es rührenderweise mit seinem Atem zu wärmen.

Apokryphe, also nicht-kanonische Quellen werden als Erklärung herangezogen für die Anwesenheit der beiden Tiere bei Christi Geburt.

Jesus wird bei seinem Einzug in Jerusalem ein Eselfohlen reiten – als eine Art Reenactment von Sacharja 9,9. Nach alter Symbolik erscheinen Ochs und Esel auch als Verkörperungen des Neuen und des Alten Testaments.

Vielleicht kann man in ihnen zudem «helfende Tiere» aus der Tiefenpsychologie sehen (zu Tiere und Transzendenzerfahrung siehe unsere Serie «Wildwechsel»).

Verdichtete Zeit

Auf göttliche Identitätsausweise – dekorative Heiligenscheine und Engel – verzichtet Schongauer in dem Bild, anders als bei dem grossformatigen Hauptwerk «Madonna im Rosenhag» aus Colmar, wo zwei Engel die Königskrone der Gottesmutter schwebend halten.

Ein Wanderstab zu Füssen des Zimmermanns, ein ärmliches Reisebündel und eine kaum sichtbare Pilgerflasche dahinter weisen die heilige Familie auf dem Bild als Migranten aus.

Die Geburt ist mitten auf der Wanderung erfolgt. Ihre Ungeplantheit und zugleich transzendierende Kraft hat der Künstler in seinem Bild eingefangen, das auf einem schmalen Grat zwischen Himmel und Erde, heilig und profan, irdischer und messianischer Zeit angesiedelt ist.

Die messianische Zeit ist nach einem Philosophen der Gegenwart, Giorgio Agamben, nicht das apokalyptische Ende der Zeit, sondern die «Zeit des Endes».

Messianisch ist nicht das Aufhören der Zeit, sondern die Beziehung eines jeden Augenblicks («kairos») zum Ende der Zeit und zur Ewigkeit.

Es ist eine Zeit, die sich verdichtet. Es ist die Zeit, die bleibt.

[1] Bis zu Luthers Thesenanschlag und der reformatorischen Kritik am Heiligenkult sollte es noch fast vierzig Jahre dauern; Schongauer folgt in seiner Figurenzeichnung noch tradierten Bildern. Er durchbricht sie aber auch, beispielsweise indem er die ärmlichen Hirten auf Augehöhe mit Maria und Josef stellt.

Visual Commentary on Scripture: Christmas

The Visual Commentary on Scripture ist ein ökumenisches Projekt für Wissenschaft und Kirche, das zu immer mehr biblischen Texten jeweils eine Miniausstellung mit alter und neuer Kunst präsentiert. Hier ist der Link zur Weihnachtsgeschichte.

Neuerscheinung: «Gottes Bilder»

«Gottes Bilder. Eine Geschichte der christlichen Kunst» von Johann Hinrich Claussen. Hier eine Crossoverfolge TheoLounge/Draussen mit Claussen zu dem Thema. Hier eine Buchrezension von mir bei Feinschwarz: «Die Kunst des Glaubens. Johann Hinrich Claussen und sein imaginäres Museum»

Musik: Music by Nicholas Panek from Pixabay

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1 Gedanke zu „Martin Schongauer – Eine andere Zeit“

  1. Maria ehrte den sel. Alanus öfters mit ihren Besuchen, um ihn zu belehren, wie er sein Heil wirken, ein guter Priester, ein vollkommener Ordensmann und Nachahmer Jesu Christi werden könne. Während der schrecklichen Versuchungen und Verfolgungen der bösen Geister, die ihn in einen Zustand äußerster Traurigkeit und fast der Verzweiflung versetzten, tröstete sie ihn und zerstreute durch ihre liebliche Gegenwart alle Wolken und Finsternisse.

    Sie lehrte ihn die Art und Weise, den Rosenkranz zu beten, zeigte ihm dessen Vortrefflichkeit und Früchte; sie verlieh ihm den glorreichen Titel ihres mystischen Bräutigams, und als Unterpfand ihrer keuschen Liebe steckte sie ihm einen Ring an den Finger, legte ihm eine aus ihren Haaren geflochtene Kette um den Hals und gab ihm einen Rosenkranz. Der Abt Trithemius, der berühmte Karthagena, der gelehrte Martin Navarra und andere sprechen davon mit Lob.

    Nachdem er mehr als 100.000 Seelen für die Rosenkranzbruderschaft gewonnen hatte, starb er zu Zwolle in Flandern am 8. Sept. 1475.

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