Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 6 Minuten

Kleiner Frieden – grosse Erde

… und Friede auf Erden

Es sind diese Worte der himmlischen Botschaft vom irdischen Frieden, die mir in diesen Tagen sperrig vorkommen:

«Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden unter den Menschen seines Wohlgefallens.»

Das Kommen des Messias und die Aufrichtung eines kosmischen Friedens sind schon in der jüdischen Glaubenstradition untrennbar miteinander verbunden. Er wird als «Friedensfürst» dafür sorgen, dass «Schwerter zu Pflugscharen» werden und alle Kreaturen friedlich beieinander wohnen. Shalom – das sind grosse Verheissungen.

Wir weihnachten uns in die Hoffnung

Weihnachten kann und soll uns guttun. Menschliche Sehnsucht nach Frieden nährt sich von solchen Zeiten, in denen wir gemeinsam alles Mögliche dafür tun, dass es friedlich und beschaulich zugeht. Es mag wohl auch mal sein, dass wir den inneren wie äusseren Frieden des eigenen Lebens weihnachtlich zum Ausdruck bringen. Aber oft ist es umgekehrt: Wir gestalten bewusst eine friedliche Zeit, damit unser Sinn für die Möglichkeit des Friedens offen und wach gehalten wird.

Wir feiern, singen, leuchten, funkeln und schenken uns in die Hoffnung hinein.

So soll es sein, aber …

Besinnliche Echokammer

Wenn vergessen geht, wie privilegiert wir sind, uns selbst ein mehr oder weniger liebliches Fest zu gestalten, dann entsteht eine kuschlige Echokammer.

Sätze wie «Gott hat der Welt Frieden gebracht» klingen in ihr wie selbstverstärkte Vergewisserungsschlaufen, die wir uns nach allen Regeln der besinnlichen Kunst auf die Ohren geben.

Und selbst betroffen vorgetragene Gebete wie «Guter Gott, schaffe Frieden bei … und in …» entfalten eher beruhigende Wirkung. Okay, zugegeben: Ich karikiere hier ein wenig. Und es gibt zum Glück einen Haufen an Gottesdiensten oder Feierlichkeiten, in denen es anders zugeht.

Weihnachtsunverträglichkeiten

Zunehmend sensibel reagiere ich, wenn die frohe Botschaft vom messianischen Friedensstifter nicht mit der Wirklichkeit abgeglichen wird, in der sie erklingt. Um dahin zu kommen, musste ich erst mal selbst erleben, wie sich Weihnachtlichkeit anfühlt, wenn im eigenen Leben und dem der Familie vorläufig nichts mehr friedlich ist, weil die geliebte Frau, Mama, Tochter und Schwester rausgerissen wurde.

Seitdem ist mir tiefer bewusst, wie viele Menschen sich etwa fürchten, an den Festtagen eine Eskalation eigener oder familiärer Probleme erleben zu müssen.

Und wie mag es denen gehen, die sich in prekären Lebensverhältnissen vorfinden oder derzeit im Krieg sind und berechtigte Angst haben, gerade an Weihnachten bombardiert zu werden? Noch während ich diesen Beitrag schreibe rast ein Mann mit seinem Auto über den Magdeburger Weihnachtsmarkt.

Der Messias hat bisher nicht geliefert

Die Unverträglichkeiten von Weihnachten liegen offen zutage, wo wir uns ehrlich machen: Den grossen Frieden hat Christus bisher nicht gebracht. Selbst die Bibel erzählt eine andere Weihnachtsgeschichte. Jesus kommt, und schon bricht die kindermordende Gewalt los.

Die offensichtliche Friedlosigkeit der Welt ist für die gläubigen Juden bis heute einer der Hauptgründe, Jesus Christus als den Messias abzulehnen.

Wie oft soll es denn noch Advent sein?

Was sich ebenfalls seit mehr als zweitausend Jahren verschleisst, ist die Hoffnung, dass Christus wiederkommt, um sein Friedensreich auf der Erde aufzurichten. Schon der Apostel Paulus hat seine Demnächsterwartung korrigieren müssen. Irgendwann brennt sich die enttäuschte Hoffnung in das Kollektivgedächtnis der Menschen ein.

Vielen kommt Weihnachten wie ein alter Durchlauferhitzer vor, der die Hoffnung auf Frieden höchstens noch ein klein wenig aufzuwärmen vermag.

Selbst wenn er kommen würde, sein friedlicher Advent käme zu spät angesichts von so viel Streit, Hass und Krieg in der bis dahin vergangenen Geschichte.

Und tschüss, Weihnachtsbotschaft?

Die Ankündigung messianischen Friedens verträgt sich nur schwer mit den privaten, kulturellen und militärischen Kriegen der Gegenwart. Also alles nur Mythos und trügerische Versprechen in den Weihnachtsgeschichten? Das dachte man lange Zeit auch vom berühmten Weihnachtsfrieden 1914 an der Westfront.

Der kleine Frieden im grossen Krieg

Die Geschichte ist an sich schon unglaublich. Fast wäre es der Kriegspropaganda und den zensierenden Befehlshabenden auf allen Seiten gelungen, die Bilder, Aufnahmen und schriftlichen Zeugnisse komplett zu vernichten, mit denen mittlerweile zuverlässig dokumentiert ist:

Britische, französische, belgische und deutsche Soldaten wagten an Heiligabend 1914 den undenkbaren Frieden, trafen sich im tödlichen Niemandsland zwischen ihren Schützengräben und feierten miteinander Weihnachten.

An zwei Dritteln der britischen Front breitete sich weihnachtliche Ruhe aus, als über einhunderttausend Soldaten die Waffen niederlegten.

Spontan ausbrechende Menschlichkeit

Es lohnt sich, den Film «Merry Christmas» aus dem Jahr 2005 anzuschauen oder das Buch von Michael Jürgs zu lesen: «Der kleine Frieden im Grossen Krieg.» Wie der Gesang von Weihnachtsliedern stärker sein kann als Schiessbefehle. Wie Lichterketten und Weihnachtsbäume nicht zur Zielerfassung, sondern zur Ausleuchtung von Treffpunkten dienen. Soldaten, die sich gestern noch töten mussten, begraben gemeinsam die Toten. Die einen bringen Tee, Schokolade und Puddings, die anderen Zigarren, Sauerkraut und Schnaps. Haare werden geschnitten und Fussball gekickt. Im Kriegstagebuch des 16. Bayerischen Infanterieregiments notiert jemand:

«Was sich dann zwischen den beiden Fronten ereignete, war ein Stück reiner Menschlichkeit.»

Trotzkräfte der Heiligen Nacht

Der grosse Frieden kam 1914 nicht. Zwar hielt der Waffenstillstand an manchen Frontabschnitten wochenlang. Auch fanden die Soldaten kreative Wege, um offiziell aufeinander schiessen zu können, ohne einander dabei zu treffen. Letztlich ging der grosse Krieg aber weiter.
Und doch:

Der Heiligabend 1914 setzt eine aufmüpfige, widerborstige und verwegene Friedenskraft frei, die schon im Original am Werk ist: Trotzkraft, die hilft, auszuhalten.

Der kleine Friede weckt die Ahnung, dass der grosse Krieg nicht das letzte Wort haben wird. Dass unter der Oberfläche eine soldatische Sehnsucht nach Frieden liegt, die trotz Gewalt, Zwang und Falschinformationen der Kriegstreiber nach oben drängt.

Kein Weihnachtsgeschäft mit der Mangelware Hoffnung

Die Geschichte vom Christmas Truce deutet für mich an, wie die Weihnachtsbotschaft vom Frieden auf Erden verträglichen Anklang finden könnte. Nicht als Geschäftsmodell nach dem Motto:

Jetzt, wo unsere Hoffnungen auf Frieden kollektiv gen null gesunken sind, posaunen wir an Weihnachten die wahre, die christliche Hoffnung raus.

Nein, ich plädiere dafür, die grosse Hoffnung erst mal ruhen zu lassen.

Schwache Hoffnung

Muten wir uns die Einsicht zu, dass die Geburt eines Kindes angesichts des Todes vieler Kinder ein schwaches Zeichen ist. Dass der Friede in Bethlehem, auf den Kriegsfeldern in Flandern und, wo immer er sich ausbreitet, ein dürftiger ist auf einer grossen, verletzten Erde.
So könnte sich unsere Fixierung, in der wir den Frieden im Grossformat erhoffen, ein wenig lockern. Vielleicht ist das nötig, damit unser Blick frei wird dafür, dass die Welt friedlicher ist, als uns die Dauernachrichten über Gewalt, Kriminalität und Kriege glauben machen.

Wir erzählen uns die weihnachtlichen Geschichten von kleinen Frieden und achten auf eigene Erfahrungen. Das kann uns Kraft geben, getrost und trotzig auszuhalten, was an Friedlosigkeit in und um uns ist.

Friedenshoffnung auf Standby

Ja, von aussen betrachtet ist das eine ziemlich mickrige Friedenshoffnung. Aber ist sie nicht eine krisen-, ja kriegstaugliche Zuversicht, die den Abgleich mit der Wirklichkeit nicht scheuen muss?

Erweist sicht ihre Stärke nicht in Zeiten wie diesen darin, dass wir wenigstens offen und ahnungsvoll bleiben für die Möglichkeit eines umfassenderen Friedens?

Das wäre dann eine Hoffnung in der Art Marias. Von ihr heisst es, dass sie die himmlischen Worte vom Frieden auf Erden in ihrem Herzen bewegte. Hoffnung im stillen Schlummer eines Herzens – Hoffnung im Stand-by-Modus.

1 Gedanke zu „Kleiner Frieden – grosse Erde“

  1. Was für intensive Gedanken. Ich ergänze Worte aus dem diesjährigen „Anderen Advent“-Kalender:
    „Weihnachten auf Verdacht
    Also – wer hat versprochen, dass es hell werden wird? Ist Verlass auf Stimmen? Immer ziehen wir auf Verdacht los, schlingern über Grünstreifen, streifen die Bande und können die Spur nicht immer halten. Kommen erstaunlich oft heil an.
    Man ist auf das Leben nicht vorbereitet. Man hat seine fünf Sinne, auf dem Lande sechs, und auch ein Gehirn. So entsichert wird man geboren. Jesus auch.
    Wenn nicht geht, was wir wollen, geht Besseres. Lena wollte ihren neuen Mann zu Weihnachten ihren Eltern zeigen, und dann auch noch schwanger, Überraschung! Der werdende Vater hat sich eine französische Gans vorgestellt, also zum Essen, die er mitgebracht hätte, vor allem aber ihr gemeinsames Kind unterm Herzen. Käme Jesus und wäre unser Gast, segnete er, was er uns beschert hätte. Alles anders diesmal wegen krank. Jetzt legen ihre Eltern ihnen seit dem vierten Advent täglich etwas vor die Wohnung: Kindersocken, Mützchen, einen Schnuller und das Bild einer Gans, die sie im Hochsommer neben der Tanne im Park auf der Picknickdecke mit den Eltern verspeisen werden. Lebenslang wird das neu Geborene improvisieren müssen – wie seine Eltern und Großeltern.
    Sascha hat zu Weihnachten Dienst auf Intensiv. Manchmal zündet er heimlich eine Kerze an, nur kurz. Während sie brennt, betet er: Gott, komm mal hierher, bitte. Jetzt! Dann zeigt er der Kerze für drei Atemzüge den Menschen im Bett – wenn die Flamme brennt, ist sein Gott da, das hat er im Krieg in Sarajevo geübt. Da war die kleine Flamme stärker als die großen. Anderntags atmet Frau Kösel wieder selber. Zufall?
    Wir sind auf das Leben nicht vorbereitet. Nie. Wir sind das Wehrloseste, was sich die Natur hat ausdenken können. Nackt und zu früh geboren, um selber zu laufen. Wer denkt sich so was aus? Wer spürt, das alles fließt und sich bewegt? Wer ist bereit, sich auf die Stimme zu verlassen, die sagt: Es wird hell werden. Die vertrauen, sind bereit, weit zu gehen. Unvorbereitet. Und es geht.“ – Thomas Hirsch-Hüfell

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