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 Lesedauer: 5 Minuten

Sterben mit Exit

Als junge Pfarrerin kam Exit auf, und ich war dagegen: Gott schenkt uns das Leben und am Ende nimmt er es wieder zu sich. In meinem Verständnis des Lebens als Gabe, hatte die Eigenwilligkeit, die selbst bestimmt, wann Schluss ist, keinen Platz.

Erst mit der Zeit wurde mir klar, dass wir in diese Gabe immer schon lebhaft eingreifen. Wenn wir alle die medizinischen Möglichkeiten, Krankheiten zu heilen und Leben zu bewahren, gerne in Anspruch nehmen, warum sollen wir dann die Gabe des Lebens nicht auch zurückgeben können?

Sich in die Betroffenen versetzen hilft

Kam dazu, dass ich immer wieder von Menschen hörte, die mit Exit aus dem Leben geschieden waren. Weil jemand nur noch drei Monate qualvoller Schmerzen vor sich hatte. Oder weil ein sicherer Tod durch Ersticken drohte. Einem solchen Menschen mit einem Gott zu kommen, der sich seine Gabe selbst zurückholt, wäre mir zynisch erschienen.

Ich verstehe, dass es Menschen gibt, die angesichts ihrer Situation und ihrer nicht vorhandenen Zukunftsaussichten zu Exit gehen.

Die sterbewillige Freundin begleiten

Und jetzt ist meine alte Freundin mit Exit aus dem Leben gegangen. Alt, weil sie sehr alt war. Und alt, weil wir lange Jahre miteinander befreundet waren.

Zum ersten Mal habe ich nicht nur von Ferne gehört, sondern war direkt beteiligt.

Schon lange hatte sie sich bei Exit angemeldet, quasi als Rückversicherung. Denn lebenslustig, aktiv und selbständig wie sie war, konnte sie sich ein Leben im Pflegeheim nicht vorstellen. Dass sie irgendwann auf die Unterstützung durch die Spitex angewiesen war, machte ihr nichts aus. Auch dass immer mal wieder etwas wegfiel, das sie nicht mehr machen konnte, nahm sie äusserst sportlich. Aber die Vorstellung, dass sie nicht mehr in ihrer eigenen Wohnung leben könnte und dass das Schöne und Stilvolle durch kahle Gänge, blankgebohnerte Böden und den Geruch von Desinfektionsmittel ersetzt werden sollten, das lag für die Ästhetin jenseits aller Sportlichkeit.

Im letzten Herbst lag das Thema Exit wieder auf dem Tisch, weil sie die beginnende Pflegebedürftigkeit spürte. Sie sprach vom Frühling, und ich dachte, das ist noch lange. Anfang Januar, als unerträgliche Schmerzen dazukamen, die mit Medikamenten nicht zu bekämpfen waren, legte sie den Termin auf Ende Januar.

Selbst betroffen sein

Bis dahin war ich Begleiterin, ab dann war ich Betroffene. Natürlich habe ich meine Freundin verstanden. Sie sprach von einem langen und erfüllten Leben. Sie fand, dass es jetzt genug sei. Sie litt, ohne gross darüber zu reden, von ihren unerträglichen Schmerzen. Sie brachte ihren Entschluss, jetzt sterben zu wollen, unmissverständlich zum Ausdruck.

Ich habe sie verstanden und ihre Entscheidung respektiert. Und doch wollte ich nicht, dass sie geht. Es ging mir schlecht. Was, wenn sie mit ihrer Entscheidung etwas losgetreten hatte, das sie nicht mehr rückgängig machen konnte, selbst wenn sie es noch gewollt hätte?

Die autonome Entscheidung betrifft auch andere

Aber da war noch was anderes. Es war ihr Leben, über das sie entschieden hatte, nicht meines. Aber mein Leben war davon betroffen. Ich wollte nicht, dass sie geht. Ich wollte, dass sie bleibt. Ich sagte mir, dass sie sowieso irgendwann sterben würde, warum nicht jetzt? Aber sie wirkte so lebendig. Sie könnte noch leben. Wir könnten uns weiter treffen und Zeit miteinander verbringen. Wir könnten das Schöne weiter teilen. Warum nicht auch im Pflegeheim, wenn wir ihr Zimmer schön einrichten?

Ich habe sie nicht gebeten, zu bleiben; für mich. Hätte ich das tun sollen? Aber wer bin ich, ihr so etwas abzuverlangen? Ich habe sie nur gebeten, sich zu melden, wenn sie an ihrem Entschluss zweifelt.

Abschied nehmen

Meine Freundin hatte sich gewünscht, dass wir uns noch einmal in dem Restaurant treffen, in dem wir einmal im Monat gemeinsam Mittag assen. Sie hatte sich dafür extra schön angezogen; ich mich auch – wie immer. Sie freute sich, mich zu sehen. Liebevoll strich sie über das weisse Tischtuch und ass mit grossem Appetit. Die Vorstellung, dass sie zwei Tage später nicht mehr da sein sollte, war mir unvorstellbar. Ich habe ihr das gesagt. Sie hat es auch verstanden, aber es war, als ob sie sich vom Leben gelöst hätte.

Sie war gekommen, um Abschied zu nehmen. Wir blickten auf unsere gemeinsame Zeit zurück und erinnerten uns an besondere Ereignisse. Sie dankte mir für meine Freundschaft und nahm mir das Versprechen ab, gut auf mich aufzupassen. Wir hatten schon unsere Mäntel an, da wünschte sie sich, dass wir uns noch im Restaurant voneinander verabschieden. Ich spüre noch den kleinen, schmalen Körper, der sich liebevoll an mich schmiegte. Dann setzte ich sie ins Taxi und winkte ihr zum Abschied zu.

Bis ich die Nachricht von ihrem Tod bekam, hoffte ich noch, dass sie es nicht macht. Aber dieser von ihr gestaltete Abschied hat mich ruhig gemacht: Sie hat es so gewollt.

Ihr Tod hat kein Loch in mich gerissen, wie der Tod meiner Mutter oder der meines Bruders. Immer noch haftet ihm etwas Irreales an. Aber ich vermisse sie. Sehr sogar.

2 Kommentare zu „Sterben mit Exit“

  1. Ich habe einen sehr ähnlichen Prozess durchlaufen, wie Friederike es hier beschreibt, und ich bin froh, dass auch in unseren Kreisen mehr und mehr offen darüber geredet wird. Wie zahlreiche andere Kolleginnen und Kollegen im Gemeindepfarramt oder anderswo habe ich regelmässig Abdankungen von Menschen, die mit Exit aus dem Leben geschieden sind, und die ich z.T. auch schon vorher länger begleitet habe. In den letzten Jahren waren es ca. 3 – 5 Abdankungen dieser Art pro Jahr. Die sterbewilligen Personen und ihre Angehörigen waren stets sehr entlastet, sich vom begleitenden Pfarrer in ihrer Entscheidung akzeptiert zu wissen. Das tue ich, weil es nicht an mir ist zu werten, noch zu richten (Mat 7,1), sondern selbstbestimmte Entscheidungen in Notlagen zu respektieren, solange ich diese gut nachvollziehen kann. Das war bis jetzt stets der Fall, und wäre es dies nicht, bliebe immer noch das gemeinsame Gespräch, um einen Weg zu finden.
    Im Vordergrund steht für mich die Aufgabe, seelsorglich zu begleiten, wo es gewünscht und geboten ist.
    Ich propagiere Exit nicht, aber verurteile es ebenso wenig. Persönlich favorisiere ich den palliativen Weg, aber auch das möglichst mit plausiblen Argumenten, ohne Wertung oder moralischen Überzeugungsversuch.

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