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 Lesedauer: 4 Minuten

Singlesein: Zwischenmenschliche Experimente

Alleinsein kostet Mut. Immer und immer wieder. Es gibt Phasen, in denen ich es toll finde und Phasen, in denen ich denke: «Oh Gott, Hilfe!» Es gibt Momente, in denen ich mutig und selbstbewusst meine innere Checkliste zerreisse. Und es gibt Momente, in denen ich mir wünschte, alles wäre genauso aufgegangen, wie ich mir das als kleines Mädchen und als Teenie ausgemalt hatte. Dann stelle ich mir vor, wie viel einfacher mein Leben verlaufen wäre. Gleichzeitig weiss ich, dass das Blödsinn ist.

NEUE EINSTELLUNGEN

Einige Haltungen verändern sich trotzdem grundlegend. Heute denke ich keine Sekunde mehr darüber nach, dass ich alleine wohne. Morgens tapse ich zur Siebträgermaschine, die ich nie in eine WG gestellt hätte, brühe Flatwhite mit den aktuellen Lieblingsbohnen und blinzle vom Balkon aus gemütlich in die Welt.

Ich bin dankbar, dass mein Schreibtisch nicht mehr im Schlafzimmer steht, dass ich den Kühlschrank so unsystematisch einräumen darf, wie ich will, das Bad in stressigen Zeiten halt mal ungeputzt bleibt und die gewaschene Wäsche drei Tage hängen kann. Das Chaos ist meins und es stresst niemanden ausser mich.

NEUE ERFAHRUNGEN

Heute gebe ich mich viel bewusster in soziale Kontexte hinein. Ich nehme Menschen, Stimmungen und Dynamiken viel klarer wahr. Ich freue mich, Menschen zu sehen und freue mich genauso, wieder nach Hause zu gehen.

Ich habe mehr Kapazität für komplexe Situationen und für mein Umfeld, weil mein Zuhause ein ruhiger, sicherer Ort ist, an dem ich auftanke.

In manchen Momenten blitzt die Sehnsucht nach einem Gegenüber auf. Ich ertappe mich manchmal beim Gedanken, das Leben wieder mit jemandem teilen zu wollen. An manchen Samstagabenden bin ich traurig, wenn ich allein zu Hause bleibe und das Gefühl die Kehle hochschleicht, vielleicht doch ein bisschen komisch zu sein.

Manche soziale Konstrukte, wie die Annahme, dass man einen Samstagabend mit aufregenden Abenteuern verbringen sollte, sind hart aus dem Kopf zu kriegen.

Aber da ist so viel Erleichterung, dass ich niemandem Energie schenken muss, bei dem ich mir noch nicht sicher bin, wie sehr ich ihn mag.

NEUER MUT

Ausserdem experimentiere ich mehr. Kürzlich war ich mit Freundinnen an einem Tanzfestival in Deutschland. Eine Freundin, mit der ich die Wohnung teilte, wollte vor der ersten Party noch einem Freund zur bestandenen Doktorarbeit gratulieren, da sie in der Stadt studiert hatte. Für mich kein Problem, Wege finde ich gut allein. An der Party realisierte ich, dass die anderen Freundinnen erst in einer Stunde kommen würden und meine Möglichkeit, die lokale Szene in einer Bar kennenzulernen, rapide sank. Es kostete Mut, aber ich gesellte mich zum Rand der Tanzfläche, beobachtete die Menschen und fühlte die Stimmung. Es dauerte keine zehn Minuten, bis ich wie zufällig über einen Menschen stolperte und wir lostanzten.

Als die Freundinnen kamen, war ich bereits in der Szene drin.

Alleinsein hat viel damit zu tun, sich mutig Situationen auszusetzen, die man sonst vermeidet.

Dass man merkt, dass man viel mehr bewältigt, als man sich zutraut.

NEUE MEINUNGEN

Zugegeben, ich musste Gegenbeispiele selbst erleben, oder Bücher wie «Allein» von Daniel Schreiber, «Alles über Liebe» von bell hooks oder «Everything I know about Love» von Dolly Alderton lesen, dass ich Worte dafür fand, wie wertvoll und schön Alleinsein und Allein leben waren.

Ich musste erleben, wie viel gute Freundinnen bedeuteten und dass ich mich bei ihnen genauso aufgehoben fühlen konnte wie in einer Liebesbeziehung. Dass es sogar gut tat zu wissen, dass nicht eine einzige Person in meinem Leben Alles sein, alles geben musste und es schlauer war, sich von diesem Konstrukt zu verabschieden. Ich war letztlich gar nicht so allein gewesen, wie ich das die ganze Zeit gedacht hatte. Ich hatte meinen Blick lediglich auf eine einzige Form von Liebe gerichtet.

 

Illustration: Rodja Galli

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1 Kommentar zu „Singlesein: Zwischenmenschliche Experimente“

  1. Du sprichst mir aus der Seele, Fabienne! 🙂 Vor allem mit folgendem Abschnitt kann ich mich komplett identifizieren: „Ich habe mehr Kapazität für komplexe Situationen und für mein Umfeld, weil mein Zuhause ein ruhiger, sicherer Ort ist, an dem ich auftanke. In manchen Momenten blitzt die Sehnsucht nach einem Gegenüber auf. Ich ertappe mich manchmal beim Gedanken, das Leben wieder mit jemandem teilen zu wollen. An manchen Samstagabenden bin ich traurig, wenn ich allein zu Hause bleibe und das Gefühl die Kehle hochschleicht, vielleicht doch ein bisschen komisch zu sein.“ Gleichzeitig ist es aber auch eine harte Zeit muss ich ehrlich gestehen, diese „Rund um dich rum gründen alle langsam Familien“. Oft genug bin ich zwar in meinem gemütlichem Heim, und dann kommt doch dieser Stich, dass die anderen einander haben und vorallem: dass sie so verbunden sind. Aber ja, solange das halt noch nicht so ist, versuche ich, das Beste aus dem Alleinsein zu machen. Und dabei ist es schön zu wissen, dass Menschen wie du das ebenfalls tun! 🙂

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