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 Lesedauer: 5 Minuten

(M)achtsame Kirche

Mehrere Stunden sass ich diese Woche an der Vorbereitung eines Referats. Der vorgegebene Titel: «Was kann Kirche?» Es lag eine Lähmung über meiner Arbeit, obwohl ich mich eigentlich auf die Tagung freue.

Nach der Veröffentlichung der Studie über sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche in der Schweiz klingt dieser Titel fast zynisch.

Was kann Kirche? – Kirche kann vertuschen. Kirche kann Menschen, die sich ihr anvertraut haben oder ihr anvertraut wurden, missbrauchen. Kirche kann masslos enttäuschen. Kirche kann Täter:innen schützen und Betroffene ignorieren – und das unheimlich gut. Kirche kann schweigen. Kirche kann bagatellisieren.

Die Spitze des Eisbergs

Kirche kann auch hinschauen. Kirche kann ihr Schweigen brechen, kann sich für Betroffene einsetzen, kann um Verzeihung bitten – das zeigen einzelne Beispiele.

Doch viel zu gross ist das angetane Leid, zu hoch die Zahl der Fälle, als dass Veränderung, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, glaubwürdig wäre.

Zu sehr stinkt das, was jetzt Stück für Stück an die Oberfläche kommt – was endlich auch in der Schweiz publik wird. Dabei sind die dokumentierten Fälle, so die Studienautorinnen, «zweifellos nur die Spitze des Eisbergs».

Symptombekämpfung statt Strukturwandel

Eine Studie alleine schafft noch keinen Wandel. Es müssen Taten folgen, mit denen sich die katholische Kirche hinter die Überlebenden von Missbrauch stellt statt hinter Täter:innen. Kompromisslos und ohne Rücksicht auf eigene Verluste.

Und genauso wichtig: Die Strukturen und Systeme, Hierarchien und Mechanismen, die Missbrauch und dessen Vertuschung so einfach machen, müssen endlich abgeschafft werden. Diese Forderungen sind schon sehr lange laut, und bisher wurde zu wenig getan.

Gegen aussen wirkt bisher vieles wie Symptombekämpfung, Imagepflege, Beschwichtigungsversuche. Dabei wären tiefgreifendere Veränderungen auch ohne jahrzehntelangen Prozess möglich, wie etwa Pfarrer Nicolas Betticher im Interview bei «Gredig direkt» erklärte.

Benchmark ist die Nulltoleranz

Was kann Kirche? – Kirche, das sind immer Menschen. Die Gemeinschaft von Menschen, die sich in der Tradition von Jesus Christus verstehen.

Davon ausgehend ist es verlockend, und wurde/wird leider auch immer wieder getan, darauf hinzuweisen, dass es halt «menschelt», wo Menschen zusammenkommen. Dass Fehler passieren, dass wir alle Sünder:innen sind, um im religiösen Jargon zu sprechen.

Doch hier geht es nicht um «Fehler», die in Kauf zu nehmen sind. Sondern, erstens, um Taten, die das Leben vieler Opfer nachhaltig zerstört haben. Und, zweitens, um Taten, die durch angepasste kirchliche Strukturen zu einem beträchtlichen Teil vermeidbar gewesen wären (wie etwa, dass Meldungen ernst genommen werden und Täter nicht einfach in ein anderes Bistum versetzt werden).

Benchmark ist also die Nulltoleranz.

Kirche kann sich verändern

Das Referat, das ich unter dem Titel «Was kann Kirche?» vorbereite, steht im Kontext eines Treffens von Gründer:innen. Also Menschen, die hinter neuen, innovativen kirchlichen Gemeinschaften stehen.

Denn etwas, was Kirche definitiv kann: Kirche kann sich verändern.

Ecclesia semper reformanda est, lautet ein vielzitierter Wahlspruch der Reformation. Veränderung ist nicht nur möglich und notwendig, sondern gehört zu ihrer DNA.

Bei dieser Veränderung geht es nicht um moderne Musik und Gottesdienste, um zeitgemässe Bibelübersetzungen, Eltern-Kind-Veranstaltungen oder Kasualagenturen. Und auch nicht um Meldestellen für Missbrauch und Präventionskonzepte – auch wenn dies alles gut ist.

Wirkliche Veränderung von Kirche betrifft auch Strukturen und Systeme. Es geht darum, dass wir einander zuhören und echte Augenhöhe geschaffen wird.

Partizipation statt Autorität

Eine Kirche, die so in die Zukunft gehen will, dass sie Menschen zusammenbringt und nicht trennt, hilft und nicht schadet, muss eine (m)achtsame Kirche sein. Der Begriff «(m)achtsam» stammt von den Theologinnen Sabrina Müller und Jasmine Suhner [1].

Er bedeutet u. a.: Kirche muss Machtstrukturen reflektieren und so anpassen, dass die Macht nicht bei einigen wenigen liegt. «Partizipation statt Kanzelmacht» – bis zum Machtverzicht, wie die katholische Theologin Veronika Jehle in einem Interview mit «reformiert.» sagt.

Die Landeskirchen, wie sie heute bestehen, sprechen gemäss Sinus-Milieu-Forschung nur gerade 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung an. In den Leitungen herrscht eine grosse Homogenität, was Bildung, soziale Herkunft, körperliche und psychische Gesundheit, Hautfarbe und sexuelle Identität und Orientierung angeht.

(M)achtsame Kirche hingegen ist divers – Menschen mit Migrationshintergrund oder Beeinträchtigung etwa dürfen nicht nur im Bereich «Diakonie» vorkommen. Wie Mirjam Hoffmann schreibt [2]:

«Christliches Denken ist inklusiv. (…) Aber unsere Leitungsstrukturen sind geprägt von Menschen mit (un)bewussten Privilegien – meist männlich, weiß, gesund, erwachsen, akademischer Bildungsgrad. Marginalisierte Gruppen kommen in Form von Bedürftigkeit in Kirche vor, nicht aber als Teil unserer gestaltenden Mitte.»

Das sind keine neuen Gedanken. Auch in der römisch-katholischen Kirche ist etwa der «Synodale Weg» Beispiel für Bemühungen aus der Basis, vielfältige Stimmen hörbar zu machen und Strukturveränderungen in Gang zu bringen.

Es geht nicht ums Überleben der Kirche

Diese Anforderungen müssen nicht nur für die bestehenden Kirchen gelten, sondern auch für neue Gründungen und Innovationsprojekte. Dort, wo bereits Bewegung drin ist, wo jetzt Weichen für die Zukunft der Kirche gestellt werden.

Bestehende Strukturen dürfen nicht einfach in frisch daherkommenden Formen reproduziert werden. Es dürfen nicht einfach neue Komfortzonen errichtet werden für Menschen, denen die Kirche noch etwas bedeutet. (Und hier spreche ich als Co-Leiterin des RefLab und als Co-Gründerin der «Hiking Church» auch zu mir selbst.)

Kirche muss (m)achtsamer werden. Diejenigen die gesellschaftlich wenig gehört werden, müssen eine Plattform, eine Stimme und Gestaltungsmacht erhalten.

Die künstliche Trennung zwischen «wir» und «die Menschen», die noch viel zu oft in kirchlichen Formulierungen auftaucht, muss endlich aufgehoben werden.

Diese Formulierung bedeutet ein ständiges, implizites «Othering».

Melanie Giering erinnert sich in einem Artikel für die katholische Kirche im Kanton Zürich an eine Aussage beim «Synodalen Weg»: «Ein bisschen weniger Diskriminierung, ein bisschen mehr Gleichberechtigung – das geht nicht.» Sie bringt auf den Punkt: «Es gibt nur diskriminierende Strukturen oder solche, die es nicht sind.»

Veränderung bedeutet, ans Eingemachte zu gehen. Wenn Kirche (m)achtsam wird, darf das eigene Überleben nicht das Ziel sein. Sondern, Räume zu erhalten und zu schaffen, in denen Nächstenliebe gelebt und das Wirken Gottes erfahrbar wird.

 

[1] Vgl. «Transformative Homiletik», Sabrina Müller/Jasmine Suhner, 2023. Mit ihrem Buch waren die Autorinnen auch im RefLab-Podcast «GeistZeit» zu Gast.

[2] Mirjam Hoffmann in: «anders. Denn Kirche hat Zukunft», hg. von Maria Herrmann/Florian Karcher, 2022.

Foto von hay s auf Unsplash

2 Kommentare zu „(M)achtsame Kirche“

  1. Stephan Schmid-Keiser

    Der römisch-katholischen Kirche zu wünschen ist ein neuer, transparenter Umgang miteinander – aber auch ein radikaler Umbau ihres Systems

    Ein Gefühl grosser Ohnmacht erfasst einem bei der Lektüre nicht weniger Berichte und Analysen, welche die letzten Tage in den Medien zur gegenwärtigen Krise in der römisch-katholischen Kirche erschienen sind. Einige davon zeugen von viel Realitätssinn, indem sie ausgehend von den erschütternden Erfahrungen von Missbrauchsopfern Schritte zur Aufarbeitung fordern. Andere zeigen ihre Enttäuschung und werden die Austritte aus der Kirche beschleunigen. Die bisher aufgedeckten Missbräuche umfassen die Zeit meiner eigenen Lebensspanne. Mit Jahrgang 1949 bin ich heute mit diesem unsäglichen Leid von Betroffenen konfrontiert. Es sind ungemütliche Fragen, die sich stellen. Und sie betreffen in erster Linie den Notstand auf Ebene der menschlichen Beziehungen innerhalb der römisch-katholischen Kirche – in der ich mich seit 1975 als Seelsorger und Theologe engagiere.

    Offensichtlich ist das kirchliche Betriebsklima massiv gestört. Lässt dies auf einen Mangel an professioneller Personalführung schliessen? Fehlt es an einer angepassten Feedbackkultur, welche die interne und externe Transparenz sowie Konzentration auf die anstehenden Aufgaben in der Seelsorge verstärken könnte? So käme es eben nicht allein auf Aufsehen erregende Einzelmasken und Primadonnen an, wie dies ein Betriebswirtschaftler mit Blick auf die Kirchenorganisation vor Jahren bereits äusserte. Die Folge sind anhaltend gemischte und verschämte Gefühle unter Gläubigen, das Bilden von Sonderzirkeln und Gruppen, die sich innerlich voneinander distanziert haben oder gegenseitig von Fall zu Fall verunglimpfen. Nicht zuletzt ist der hohe Grad an empfundener Einsamkeit unter Seelsorgenden ein Phänomen, dem in einem professionalisierten Personalwesen höchste Aufmerksamkeit zu schenken wäre.

    Von der Basis und bis zur Spitze, von den Arbeitsgruppen in den Pfarreien bis zur obersten, sich für alles verantwortlich erklärenden Kirchenleitung, gelingt es bis heute kaum, das Gefüge der Zusammenarbeit nicht nur organisatorisch und kirchenrechtlich, sondern auch spirituell in neue Bahnen zu lenken. Wir erleben eine Kirchenkultur, in der Erklärungen und gemeinschaftliche Inszenierungen durch Gottesdienste und Feierlichkeiten wichtiger sind als das Ernstnehmen der Würde und inneren Wahrheit von Menschen, die sich am Kirchenleben beteiligen. Zudem zeigt sich ein besonderes Phänomen, das zur DNA der römisch-katholischen Kirche gehört. Es ist jene starre und geschlossene Ämterstruktur, die seitens weiter Kreise von Gläubigen, Priestern und Bischöfen, aber auch Kardinälen und Päpsten als unveränderlich behauptet wird. Innerlich tief verankert findet sich dieses Kirchenbild unter einem hohen Anteil von Gläubigen jeder Couleur – ob weit vorausschauend oder dem Gewohnten verhaftet.

    Sträflich vernachlässigt wurde in den letzten Jahrzehnten ein konstruktiver Dialog zwischen jenen, die ihre Vorschläge aus Theologie und Praxis vortrugen und jenen, die als Kirchenverantwortliche daraus kaum nachhaltige Konsequenzen zogen. Ich sehe gegenwärtig vor mir dasselbe Bild, welches mein aus Basel-Stadt stammender Doktorvater Alois Müller (+ 1991) von einem Christsein zwischen Rückzug und Auszug zeichnete und dazu motivierte den «dritten Weg zu glauben» einzuschlagen. Für ihn hatte sich bereits damals auf der obersten Kirchenebene eine ghettoartige Haltung und Lehramtsideologie auf hohem Niveau entwickelt, die zum Rückzug in die eigene katholische Sonderwelt führte. Gleichzeitig war der Auszug aus der Kirche schon weit voran geschritten.

    Wird der notwendige radikale Umbau dieser stark monarchisch und aristokratisch geprägten Institution in Gang kommen? Hoffen zumindest will ich es, eingeschlossen einer verstärkten Bereitschaft zum fairen Streit. Denn bitter nötig ist jetzt ein gemeinsames Ringen und Beschliessen um Massnahmen, die endlich eine lebensdienliche Haltung auf allen Ebenen der Kirche in der Welt von heute befördern könnten. Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, wozu nicht nur die zur Weltsynode in Rom Versammelten fähig sein werden. Da sich die Kirche nicht nur in unseren Gegenden in beunruhigend-ernstem Zustand befindet, bedarf es umso mehr und konsequent nachhaltiger Umkehr.

    Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser, CH-6005 St. Niklausen LU

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