Vor einiger Zeit, der Krieg in der Ukraine war bereits ausgebrochen, waren wir auf dem Bundesplatz in Bern demonstrieren. Die Bewegung Fridays for Future hatte zum Klimastreik aufgerufen. Doch statt der erwarteten Massen Demonstrierender fanden sich enttäuschend wenig Leute ein. Man konnte sich fast etwas verloren vorkommen. Ich jedenfalls fühlte mich, nachdem ich erwartungsvoll losgezogen war, wie gebremst.
Möglicherweise war die aktuelle Friedenskrise der Klimakrise in die Quere gekommen. Die Menschen dachten vielleicht, das Klima könne erstmal noch warten, was aber leider nicht so ist. Nachteilig auf die Demonstrierbereitschaft wirkten sich vielleicht auch gerade zu der Zeit virale Schlagzeilen aus. Eine Sängerin mit Dreadlocks, Ronja Maltzahn, war von einer Fridays-Sektion ausgeladen worden.
No heaven, only sky?
Aus vorauseilender Sorge, der struppige Haarlook der Sängerin könne als kulturelle Appropriation durch eine weisse Frau interpretiert und kritisiert werden, hatten sich norddeutsche Fridays-Organisatoren zu dem Schritt hinreissen lassen und einen Shitstorm geerntet, der auf die Bewegung insgesamt nachteilig abfärbte.
Die jugendlichen Veranstalter auf dem Bundesplatz fühlten sich wohl wie ich. Sie liessen sich ihre Enttäuschung aber kaum anmerken. Sie gaben sich heroische Mühe, trotz Demo-Flops ein wenig Stimmung aufkommen zu lassen: mit mitreissender Dringlichkeitsrhetorik und den üblichen Mitmachritualen.
An einer Stelle kam auch eine ukrainische Schülerin auf die Bühne und erhielt die Möglichkeit, für die Ukrainehilfe zu Spenden aufzurufen. Die kämpfenden Väter, Brüder und Cousins, erklärte sie, bräuchten u.a. dringend winter- und wasserfeste Kleidung und Schuhwerk. Es war berührend zu sehen, wie das Mädchen, beseelt vom Wunsch etwas für seine Landsleute zu erreichen, seine Scheu vor den fremden Menschen auf dem Platz überwand.
Und dann kamen sogar noch Intensität und echtes Wirgefühl auf: Als die Schüler:innen der Fridays-Bewegung auf der Bühne die Friedensballade «Imagine» von John Lennon anstimmten.
Imagine there’s no heaven
It’s easy if you try
No hell below us
Above us, only sky
Ein Rhythmus wie von bewegten Halmen auf einem Weizenfeld. Demonstrierende, zwischen jungen Leuten auch vereinzelt Ältere, schwangen jetzt Fähnchen, wiegten die Oberkörper und bewegten passend zum Takt ihre Transparente. Mit dem «Imagine»-Song von 1971, an dem Lennons japanische Frau Yoko Ono massgeblich mitgewirkt hat, war auf einmal auch der Generationen-Gap melodisch überbrückt.
Imagine there’s no countries
It isn’t hard to do
Nothing to kill or die for
And no religion, too
Imagine all the people
Livin’ life in peace*
Es war ein fast seliger Moment, in dieser Melodie zu schwelgen. Kaum jemand wird dabei auf den Text geachtet haben, auch ich nicht. Erst hinterher schaute ich mir die Zeilen im Internet an und stellte fest, dass der Text des vermeintlich zeitlosen Friedensliedes doch nicht so zeitlos ist.
No religion?
Der Songtext des einlullenden Liedes hat sogar etwas Exkludierendes. Wir sollen eine Welt ohne Religion imaginieren. Die Geschichte der Religionskonflikte und Konfessionskriege gibt dem recht, aber es gibt auch einen starken religiös und kirchlich fundierten Pazifismus. Und religiöse Communitys und Gemeinden engagieren sich nicht nur fürs Klima, sondern sehen sich zunehmend als Teil der globalen Klimagerechtigkeitsbewegungen.
Wir brauchen «Imagine» nicht umschreiben, aber zur Imaginationsfähigkeit gehört auch dazu, bestehende Skripte zu überdenken, weiterzuschreiben und neue Strophen hinzuzufügen.
Eine Ausstellung mit Kunstwerken von Yoko Ono zeigt gerade das Kunsthaus Zürich. Dort sind auch die gemeinsamen Friedensaktionen mit John Lennon zu sehen. Am 07.05 widmet das RefLab der Ausstellung einen Kunstvlog.
Photo Yoko Ono and John Lennon, War is over! If you want it (Love and Peace from John & Yoko), Original poster, 1969, © Yoko Ono
* Deutsche Übersetzung:
Stell dir vor, es gäbe kein Himmelreich, / Es ist ganz einfach, wenn du es versuchst. / Keine Hölle unter uns, / über uns nur der Himmel…/… Stell dir vor, es gäbe keine Länder, / es ist nicht schwer, das zu tun. / Nichts, wofür es sich lohnt zu töten oder zu sterben / und auch keine Religion. / Stell dir vor, alle Menschen, / leben ihr Leben in Frieden.