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 Lesedauer: 6 Minuten

«Ich glaube an Gott, den grössten Anfänger aller Zeiten»

„Und jedem Anfang wohnt …“, naja Du weisst schon

„Zauber“ – derzeit ein viel bemühtes Wort, dass man unter Abnutzungsschutz stellen sollte. Aber ich komme um die bekannten Zeilen aus Hermann Hesses Stufengedicht nicht herum: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

Weil es ein gewisses Mass an Verzauberung braucht, um den Anfang zu wagen. Ich verstehe darunter eine Mischung aus Lust, Neugier, Respekt, Ungewissheit, Mut und Freiheit. Als hätte es über Nacht in mein Leben geschneit, so dass ich es am anderen Morgen kaum erwarten kann, die noch unberührte Weite zu betreten. Und dann kommt es – im Grossen wie im Kleinen: Das „Ich liebe Dich“, mit dem sich alles verändern kann. Die Unterschrift im neuen Arbeitsvertrag. Der erste Tag an der (höheren) Schule. Und ja, auch der prickelnde Klick auf die neue Netflix-Serie und der Anstoss zur Fussballweltmeisterschaft.

Aber wer kennt es nicht, dass wir Menschen aus irgendwelchen Gründen zögern, bis der Zauber verfliegt. Wir erleben die Stunden und Tage dann, als würden die Möglichkeiten des Neuen zerfliessen. Dabei wollten wir doch das, was sich in den vergangenen Zeiten alles angestaut hatte, endlich mal abfliessen lassen.

Im Bunde mit der Zeit … und dem Geist Gottes

„Die Zeit des Anfangens ist, bei halbwegs glücklichem Verlauf, der lichterlohe Moment, da man sich mit der Zeit im Bunde fühlt.“ So leuchtend beschreibt das Rüdiger Safranski in seinem Buch „Zeit“ (S. 62). Die Vergangenheit entlässt mich, während die reizende Zukunft Sog erzeugt. Und gerade für die grossen Anfänge, bei denen der glückliche Verlauf alles andere als selbstverständlich ist, darf man als gläubiger Mensch sagen: Ich verdanke es einem Bündnis des Geistes Gottes mit mir.

Zeiten des Anfangens sind Emergenzprozesse, in denen Menschen häufig erfüllt und ergriffen werden vom Heiligen Geist. Sie können dann plötzlich wieder etwas mit sich anfangen, allen Um- und Widerständen zum Trotz. Und häufig, so wissen wir aus der Geschichte des Geistes, zetteln die BeGeisterten kollektive Neuanfänge an, mal laut, mal mystisch leise.

Wie geht neu anfangen, wenn ich es muss?

Der Hinweis, dass wir die Neuanfänge unseres Lebens anderen, letztlich dem Heiligen Geist verdanken, ist mir ganz wichtig. Denn ich erlebe, wie unbarmherzig das Leben und die Mitmenschen von uns den Neustart verlangen können. Aber so stark sind wir oft nicht. Das hat damit zu tun, dass die meisten Anfänge unseres Lebens mangelgetrieben zustande kommen. Umstände, Ereignisse und Lebensverläufe nehmen uns derart in die Mangel, dass uns dämmert: So kann und will ich nicht weitermachen. Gerade deshalb sind wir dieser Anfänge häufig nicht mächtig, sondern kommen uns eher ohnmächtig darin vor.

Unsere pandemische Zeit zwingt immer mehr von uns zu einem Neustart. Aber ein verfügter Neuanfang kann leicht dazu führen, dass wir erst mal gar nichts mit uns und unserem Leben anzufangen wissen.

Gross ist der Anfänger, der mich ermächtigt, selber anzufangen

Wenn wir diesen Beobachtungen auf der Spur bleiben, kommen wir ganz beim Anfang an: Meine Eltern haben mich angefangen! Ich wurde nicht gefragt. Man kann im Schreien des Neugeborenen die Empörung über das eigene Angefangenwordensein hören. Und es wird noch ungeheuerlicher, wenn der Uranfang ein freier und spontaner Akt Gottes war – aus dem Nichts (creatio ex nihilo). Niemand war beteiligt.

Wie wird aus dem angefangenen Ich eine Person, die mit sich selbst und dem Leben anfangen kann, wiederum im Kleinen des Alltags wie im Großen des Lebensentwurfs?

Ich glaube, der geheimnisvolle Übergang vom Angefangenwordensein zum freien Anfängersein vollzieht sich unter der Erfahrung und im Gefühl der Liebe. Deshalb danke ich den liebenden Anfängern meines Lebens, unter denen Gott der Grösste ist.

Er hat die Welt nicht geschaffen aus einem Mangel, einer Willkürlaune oder egoistischen Motiven. Eine Schöpfung anfangen, um  mit sich ans Ziel zu kommen, hat er nicht nötig. Verzückt hat er die Welt mit einem Anfang, der aus der unbeschreiblichen Fülle seines Lebens hervorgeht – vor lauter Liebe. Am schöpferischen Grund des Lebens liegt keine selbstbehauptende Positionsmacht, sondern eine liebende Ermächtigungsmacht. Und diese göttliche Art des Anfanges setzt sich dort fort, wo Menschen in der Kraft des Geistes mächtig werden, etwas Neues mit sich und der Welt anzufangen. Vielleicht gerade dann, wenn sie sich vom Leben oder den eigenen Mangelerfahrungen dazu genötigt fühlen. Noch hinter all dem entdecken sie die geistgewirkte Freiheit, ihre schöpferische Lebensfülle wieder neu von der Leine zu lassen. Anfangen ist göttlich!

Fast noch grösser ist das bleibende Anfängertum Gottes

Immer mal wieder etwas Neues anzufangen, ist grossartig. Mindestens genauso erstaunlich ist, wenn man mit etwas immer wieder neu anzufangen vermag. Ich kann das hier zum ersten Mal so schreiben, weil ich neulich Sätze des Pianisten Igor Levit las. Sie stammen aus einem Interview mit der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ vom 19. Mai 2016. Eine der Fragen war: „Können Sie den ersten Satz der Mondscheinsonate noch hören?» Hier Levits Antwort:

«Ja. Ich habe die Sonate erst kürzlich gespielt. Je häufiger ich eine Sonate spiele, je mehr ich damit arbeite, desto weniger verstehe ich sie, desto mehr entfernt sie sich von mir, desto glücklicher werde ich damit, und desto öfter will ich sie spielen. Die Sonate Nr. 14 op. 27/2 – der Name „Mondschein“ ist ja nicht von Beethoven – wird einfach immer besonderer. Ich möchte nie sagen: Das habe ich verstanden, das Nächste, bitte. Das Ziel ist: Ich möchte immer wieder am Anfang ankommen.»

Ich finde das zum Niederknien schön! Das Glück meines Lebens liegt gar nicht darin, mit allem, was ich neu angefangen habe, ans Ende zu kommen. Wie öde und lieblos wäre das auch, wenn ich mit einem geliebten Menschen jemals fertig wäre, wenn ein geschätztes Stück Welt mich nicht mehr anfixen könnte!

Ich wage die Spekulation: Die Sehnsucht danach, immer wieder am Anfang anzukommen, hat sich vom göttlichen Anfänger auf mich übertragen.

Das Kommen Gottes in die Welt und die Sendung des Heiligen Geistes gelten mir als untrügliche Hinweise darauf, dass er mit seiner Schöpfung und uns Menschen niemals fertig sein will. Bis in alle Ewigkeit wird Gott immer etwas anzufangen wissen mit uns. Und wir mit ihm und allen anderen Kreaturen.

Was zunächst peinlich ungöttlich und gotteslästerlich klingen mag, wird mir Lobpreis Gottes: Er ist und bleibt ein Anfänger! Im Bunde mit diesem heiligen Anfängertum, schäme ich mich nicht länger, ein Anfänger zu bleiben. Im Gegenteil, wir sollten es feiern, wenn wir mal wieder am Anfang angekommen sind. Damit sich das auch ordentlich rumspricht: Die Reformierten nennen sich so, weil sie weder mit sich selbst, noch mit dem Leben und schon gar nicht mit Gott fertig sind. Sie glauben an den Geist Gottes, dem die Ideen nie ausgehen werden, mit den Menschen was anzufangen.

Reformierte sind ein herrlicher Haufen von Anfängerinnen und Anfängern.

6 Kommentare zu „«Ich glaube an Gott, den grössten Anfänger aller Zeiten»“

  1. So ermutigend! Danke Andi!
    Bei deinem Durchdenken und Nachdenken und eloquent in Sprache fassen, fühle ich mich wie ein Anfänger….
    Ich will immer wieder anfangen.
    Neues anfangen und am Anfang beginnen. Der grosse Anfänger ist mit mir noch nicht fertig.
    Wow!

    1. Jim, da habe ich mich erst mal erschrocken. Denn es wäre mir ganz arg schrecklich, wenn sich durch meinen Text jemand wie ein Anfänger fühlt. Umso mehr dann die Freude, dass auch Du Dein Anfängertum hoffnungsvoll feierst. Lass uns gemeinsam immer wieder jene tolle Monopoly-Ereigniskarte ziehen: Rücke bis auf Los vor! Ein Ankommen am Anfang in der Vorwärtsbewgung, eben kein Rückschritt.

  2. Ich habe dazu eine Frage: Gibt es ein Denkmodel wonach Gott Die Welt zwar s in einem Akt schuf, sie aber aktiv ständig erhält? Könnte es sein, dass Gott tatsächlich jeden Tag neu schafft?

    1. Volltreffer in dasselbe Thema, nur aus anderer Perspektive.
      Danke, Christian.

      Die Spannung zwischen Gottes Schöpfungstat am Anfang (creatio originalis oder creatio prima) und den weiteren Schöpfungsakten Gottes (creatio continua) wird häufig in eine doppelte Richtung aufgelöst. Betont man Gottes ursprüngliches Schöpfungshandeln zu sehr, entsteht eine Neigung zum Deismus. Nach erfolgreichem Anfang besteht keine (kreative) Beziehung mehr zwischen Schöpfer und Geschöpf. Setzt man zu einseitig darauf, dass Gott in jedem Moment kreativ eingreift, um die Welt im Sein zu halten, kann das zum Pantheismus oder Panentheismus tendieren. Das schöpferische Handeln Gottes gelangt da nie an den Punkt, an dem Welt und Mensch ihm selbständig und frei gegenüberstehen.

      Den Ansatz den ich verfolgen würde: Gottes schöpferisches Handeln als Geschichte denken. Das mag nun für manche Verteter*innen eines personal-theistischen Gottesbildes eine Schmälerung göttlicher Eigenschaften wie Allmacht und Allwissenheit bedeuten. Warum eigentlich? Schon die Schöpfungserzählungen der Bibel machen klar, dass Gott die Welt nicht in einem Nu, fix fertig und vollendet gemacht hat (instant creation). Was die Schöpfung nach sieben Tagen ist, das kommt zustande in einem kreativen Prozess von Akten, mit denen Gott jeweils aufhört und am anderen Tag neu beginnt. Und genaus wichtig: Von Anfang an ermächtig Gott die Geschöpfe, selber schöpferisch tätig zu sein – Gottes kreative Macht ist nicht exklusiv alleinwirksam, sondern inklusiv kooperativ. Ich habe mich daher auch davon verabschiedet, den Garten Eden als vollendetes Paradies zu verstehen, einen vollkommenen Urzustand des Menschen anzunehmen, so dass die ganze Menschheitsgeschichte nur noch als Abfalls- und Zerfallsgeschichte zu erzählen wäre. Vielmehr erscheint mir die Schöpfung als gemeinsames Kreativprojekt von Schöpfer und Geschöpfen. Aber warum fiel es mir lange so schwer, das zu denken? Weil ich verheddert war in einem Denken, welches die neuschöpferischen Akte Gottes (und der Menschen etwa) nur verstand auf dem Hintergrund von Mangel, Defizit, Sünde des Menschen und letztlich dem Bösen in der Welt. Was aber, wenn z.B. wir Menschen immer wieder Neuschöpfung erleben, nicht weil da Defizite verbessert oder geheilt werden müssen, sondern gerade weil wir mit überbordender Posititivität und Potentialiät von Gott beschenkt sind? Weil die Schöpfung sehr gut ist, ist sie auf Vollendung hin angelegt. Deshalb hören die göttlich initiierten und ermöglichten Kreativprozesse in ihr nicht auf.
      Sorry, kürzer konnte ich meinen Vorschlag nicht skizzieren.

      1. Lieber Andi, deine Antwort auf Christians Frage spricht mich noch mehr an als der Artikel selber. „Weil ich verheddert war in einem Denken, welches die neuschöpferischen Akte Gottes (und der Menschen etwa) nur verstand auf dem Hintergrund von Mangel, Defizit, Sünde des Menschen…“ Schön, dass es dazu auch eine Alternative gibt! „Und es war sehr gut!“
        Die Frage von Christian liess mich an die Prozessphilosophie denken: Alles Geschöpfliche sind „actual entities“, die durch ihre Beziehung zu anderen „entities“ definiert sind und sich laufend verändern/entwickeln. Die Prozesstheologie nimmt diesen Ansatz ja auf – leider kenne ich mich da nur oberflächlich aus.
        Spontan fällt mir auch das Zitat aus DARK ein, „Der Anfang ist immer auch das Ende, und das Ende ist gleichzeitig der Anfang.“ So vieles beginnt immer wieder neu und frisch, auch wenn wir Menschen uns im Horizont der Sterblichkeit befinden.
        Schöner Beitrag, der viele Gedanken anstösst!

        1. Liebe Evelyne
          wir sind in der Tat nicht die ersten und einzigen – zum Glück! – die hier in Relationen und Prozessen zu denken versuchen. Danke für den Hinweis auf Prozesstheologie und -philosophie.
          Und wie sehr uns eine rückwärtsgewandte und defizitorientierte Sicht an dieser Stelle auch kulturell prägt, zeigt folgende Entdeckung, die ich während meiner Arbeit am Beitrag gemacht habe. Immer wieder las ich von einer Monopoly Ereigniskarte, die so lautet: „Gehen Sie zurück auf Los! Ziehen Sie nicht … CHF ein!“ Ich konnte diese Karte auch in den ältesten Versionen des Spiels nicht finden (https://boardgamegeek.com). Es gibt sehr wohl die Karte „Gehen Sie zurück ins Gefängnis!“, aber die Karte mit „Los“ lautet: „Rücken Sie vor bis auf Los!“ Ein verheissungsvolles Vorrücken an den Anfang! Aber anscheinend steht uns kulturell ein verhängnisvolles, bestrafendes und zurückpfeifendes Anfangen näher als eines, dass den unausschöpflichen Möglichkeiten des Menschseins entspringt. Eine Überlegung, zu der mich Deine kurze Replik anregt.

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