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Hier ein Mensch: «Ecce Homo» von Lovis Corinth

Als ich das erste Mal das Kunstmuseum Basel besuchte, blieb ich lange vor diesem Bild aus dem Jahr 1925 stehen. Umso mehr man sich vertieft, desto ambivalenter erscheint es.

Zunächst gerät man in den Bann der Figuren. Sie sind beinahe lebensgross dargestellt und ein wenig in Untersicht, so als würden sie erhöht stehen.

Die monumentale Grösse der Figuren verstärkt die emotionale Wirkung.

Die drei Gestalten sind in den Vordergrund gerückt und angeschnitten. Es entsteht der Eindruck extremer Enge und Bedrängnis.

In Bedrängnis

Zudringlich nahe rücken die beiden Männer an Jesus heran. Der enge Bildausschnitt verstärkt das Gefühl von Distanzlosigkeit.

Danach stechen Details ins Auge, die Handstellungen zum Beispiel. Der Mann im weissen Kittel, der ein Arzt sein könnte, zeigt auf Jesus, als würde er ihn ausliefern. Seine andere Hand legt er ihm auf die Schulter, wie zur Beruhigung oder Untersuchung. Die Finger allerdings zeigen merkwürdig gespreizt nach oben.

Die Handstellung bleibt rätselhaft.

Sie kann als Zeichen der Distanz, der Bewertung, aber auch als Geste der Anteilnahme oder sogar Segnung gelesen werden.

Beinahe sieht es auch aus wie ein verdrehtes Victory-Zeichen. Dieses wurde allerdings erst während des Zweiten Weltkriegs populär.

Jesus zwischen Arzt und Militärmann

Der Militärmann trägt – unpassend – eine altertümliche Ritterrüstung. Es sieht ein wenig nach Verkleidung aus, nach Theater, vielleicht einem Passionsspiel. Der Mann im weissen Kittel zeigt auf den Gefolterten. Er könnte unser Zeitgenosse sein.

Die weiss gekleidete Figur wird in vielen Deutungen als Pilatus identifiziert.

Auf Pilatus deutet auch der Titel hin: «Ecce homo». Dies ist der berühmte Ausruf des römischen Statthalters Pontius Pilatus im Johannesevangelium. Mit diesen Worten präsentiert Pilatus den gefolterten, verspotteten und mit Dornen gekrönten Jesus dem Volk.

Wie hängen die Figuren zusammen?

Wenn man den Mann im weissen Kittel als Arzt ansieht, erscheint das Zusammenspiel mit dem Militärmann abgründig: Dem Handwerk des einen entspringen Wunden, die der andere umgehend versorgt, um Männer wieder fit zu machen für den Krieg, der laufend neue Opfer produziert.

Verwundete werden sowohl therapeutisch in den Blick genommen als auch militärstrategisch: als wertlos gewordenes «Menschenmaterial».

Corinth hat der Figur mit weissem Kittel seine eigenen Gesichtszüge verliehen. Deswegen wird der Kittel auch als Malerkittel interpretiert.

Ernüchterung

Corinth gehörte vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu den Intellektuellen, die aus patriotischer Haltung heraus den Krieg begeistert begrüssten. Später folgte Ernüchterung.

Der Künstler war offenbar nicht religiös. Seine wiederholte Beschäftigung mit dem Passionsmotiv wird häufig als Auseinandersetzung mit menschlichem Leiden und existenziellem Schmerz schlechthin gedeutet sowie der Brutalität, die Menschen einander antun.

«Ecce Homo», sein letztes Historienbild, entstand im Todesjahr 2025.

Am 17. Juli 1925 starb Lovis Corinth. In den «Ecce Homo» legte der Mann, der in relativ jungen Jahren einen Schlaganfall erlitt, auch seine persönliche Auseinandersetzung mit Leiden und Sterben hinein. Es gilt als sein Vermächtnis.

Wir – Mitschuldige?

Ein schwer gefolterter Jesus – die Toga blutrot gefärbt – zwischen einem grobschlächtigen Militärmann mit Folterwerkzeugen und einer ambivalenten Figur in weissem Kittel: ein Bild voller Drama und Abgründe.

Muskulöse Arme zeigen an, dass der Dornengekrönte jugendlich und kräftig ist. Folter und baldiger Tod treffen ihn mitten im Leben. Die Gestalten zu seiner Rechten und Linken führen uns, den Betrachter:innen, den Schmerzensmann wie zur Begutachtung oder Beurteilung vor.

Wir sind allerdings keine distanzierten Beobachter, sondern Involvierte.

Als selbst immer wieder in Gewaltdynamiken Verstrickte sind wir in gewisser Weise Mitschuldige. «Ecce Homo»: ein Bild, das uns auffordert hinzuschauen.

Lovis Corinth (1858-1925), «Ecce Homo», 1925. Copyright: Kunstmuseum Basel

 

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