Aprilwettermensch
Im grauen Glas des Busfensters spiegelt sich ein ernstes Gesicht. Verschwommen und flüchtig wechselt und verzieht es sich, verliert die Kontur und findet sie in der nächsten Kurve wieder:
wie das Wetter, das durch die Klimakrise zum ständigen Aprilwetter geworden ist.
Es ist mein Gesicht. Auch mein «Innenwetter» schlägt oft mehrmals täglich um, unabhängig von den Prognosen. Am Morgen war mir die Welt noch zu gross – und ich verloren darin.
Jetzt spiegelt sich der See und ein Hauch Eigensinn in meinen Augen.
Ein Weder-Noch
Dann bricht die Sonne durch die Wolken und lässt die Wahrheit vage durch die Scheibe schimmern. Je schneller und eindeutiger die Welt dreht, desto langsamer und paradoxer werde ich.
Es werden Bücher geschrieben, Kinder geboren, Beförderungen verteilt. Es wird gereist, Geld angelegt, Masterarbeiten geheftet und die Karriereleitern erklommen.
Bei mir bleibt’s schwammig: Ich bin eben keine ordinierte Pfarrerin, nur eine lokalisierte [1]. Das Studium ist eben kein abgeschlossenes, sondern ein «In Arbeit». Meine Texte sind eben nie ganz fertig, sondern immer fragmentarisch.
Eierschalendünnhäutiges Busfahren
Mit diesen Gedanken verwandle ich mich in ein rohes Wachtelei. Im spiegelnden Glas wird es sichtbar: klein, verletzlich, ambivalent.
Unter kleinstem Druck gibt es nach, die Schale reisst, immer in der Spannung von Leben und Zerbruch.
Eierschalendünn fahre ich weiter durch die hügelige Landschaft. «Nächster Halt: Arth-Goldau Bahnhof, Endstation, alle Reisenden bitte aussteigen.»
Dank des öffentlichen Verkehrs komme ich immerhin einmal ohne Umweg ans Ziel – eine Prise Sarkasmus für das selbstmitleidige Wachtel-Herz.
Chronisches Leben
Das Herz sei soweit gut, beurteilt die Kardiologin das Langzeit-EKG und schickt mich zurück zum Hausarzt.
– Ganz gesund sei es dann doch nicht, sagt der Neurologe und steckt mir «Orthostatische Intoleranz» in den bunten Diagnoseblumenstrauss.
Es hätte lieber eine Pause, ergänze ich, und toleriere die neue Intoleranz so gut es eben geht.
Doch es gibt keine Pausen bei chronischem Leben – und ist «so gut es eben geht» jemals gut genug?
Widersprüchlichkeiten einfangen
So lebe ich ruhelos durch dieses ebenso hin- und hergerissene Jahr. Wirklich erklären kann ich diese Widersprüchlichkeiten niemandem – glaube ich zumindest.
Also versuche ich, sie mit Worten zu fassen, sie einzufangen wie Glühwürmchen – und vergesse dabei Kommas und das Trinken zwischendurch –
und auch, dass es immer schwierig ist – für alle schwierig ist – sich aus harten Schalen zu befreien.
Melody Music and More
Am Bahnhof steige ich aus und besuche Karin in ihrem Paradies aus Büchern und Schallplatten: Staub und Worte, zu hohen Türmen aufeinandergestapelt – Melody Music and More.
Das «More» steckt in jedem Winkel. Und mittendrin steckt Karin in einer Symbiose aus Grün: Pulli und Strickjacke, Schal und Weste, Hose und Tunika
– grün, grün, grün.
Wenn ich mich in unserer Millennial-eigenen Rastlosigkeit treiben lasse, begegne ich oft Menschen wie Karin. Zufalls- oder Schicksals-Begegnungen.
Sie schenkt mir selbst gepflückte Kumquats aus dem Tessin und macht mir einen Smoothie (in Karins Welt: «Smuudi»).
Ich setze mich auf einen quietschenden Barhocker – zwischen tausenden Einkaufstaschen, Kartons, Magazinen, Lauchstangen…
… und neben ihren Bekannten, der auf dem zweiten quietschenden Stuhl hockt, Dosenbier trinkt und sich für sein blaues Auge entschuldigt.
Ins Chaos fallen
Ich trinke langsam und lasse mich ins Chaos sinken wie in eine weiche Matratze. Die Anspannung rutscht mir von den Schultern und legt sich zu den Kinderbüchern neben die Eingangstür.
«Blaues Auge» auf dem Hocker nebenan versichert mir in allem seine vollste Unterstützung. In A L L – E M.
Er sei pensioniert, Fachmann fürs Leben, habe fast so viel Zeit wie Steuerschulden.
Und er wisse viel, den Busfahrplan auswendig oder die Namen jedes einzelnen Berges im Berner Oberland zum Beispiel.
Oder welche Frankatur auf welche Paketgrösse gehört und wann welche Aktionen im Denner laufen.
«Full Support!», sagt er, und: «Alwäys Thömmps öp.»
Volle Unterstützung. Immer Daumen hoch.
Schluck aus der Bierdose.
Alle einmal Wachteleier
Ich nehme ebenfalls einen Schluck vom letzten Rest «Smuudi» aus dem Weissweinglas und erkenne mit wachsender Klarheit:
Auch Karin und «Blaues Auge» waren einmal Wachteleier – eierschalendünn, voll Widerstandskraft – sind es vielleicht immer noch?
Wer weiss, ob überhaupt schon je eine:r von uns wirklich geschlüpft ist?
Wir sind doch alle so furchtbarwunderbar roh und verletzlich, leben doch alle zum ersten Mal, wir Menschen.
Weg von mir
Auf einmal dehnt sich alles aus und weg von mir. In mir wird es kleiner – auf eine gute Weise:
Ich bin wichtig, aber nicht so sehr, als dass es hier nur um mich gehen könnte, ich bin geborgen darin.
Ich blicke ins Bücherchaos, atme ein, atme aus. Umarme Karin, winke dem «Blauen Auge» zu – Schluck aus der Bierdose – und nehme den nächsten Bus nach Hause auf den Berg.
Den Blick nun auf die vorbeiziehende Natur gerichtet, nicht mehr auf den Busscheibenspiegel.
[1] Licensed Local Pastors (Lokalpfarrpersonen) absolvieren in der United Methodist Church eine modulare, praxisorientierte theologische Ausbildung, die weniger umfangreich ist als ein Studium auf Masterlevel und durchlaufen keinen Ordinationsprozess. Sie haben sakramentale Vollmacht, aber nur innerhalb ihrer zugewiesenen Gemeinde, und ihre Lizenz wird von der Bischöfin jeweils jährlich neu erteilt.
Sarah Staub ist Pfarrerin in der evangelisch-methodistischen Kirche Wädenswil und schreibt als instabiles, krummes Berggewächs über theologische Bruchstellen, Um-, Auf- und Abbrüche und die Frage, wo Hoffnung wohnen kann, wenn alles ins Rutschen kommt – zum Beispiel hier, bei «Gott und das Fahrrad».






