Gott und ich – wir stritten nicht.
Wir hatten uns nur auseinandergelebt.
Seit Wochen schon schliefen wir getrennt und am Morgen trank ich meinen Kaffee jeweils allein.
Ich lebte gottlos in den Tag hinein und es machte mir nichts aus.
Ich hätte sowieso nicht gewusst, was wir einander noch zu sagen hätten.
Und so wurde Gott fremder, wurde immer mehr zur schwachen Erinnerung, wurde wie ein Duft, der langsam in der Luft verfliegt, wurde so unnahbar wie der eine Exfreund, der seinen Selbstschutzzaun kilometerhoch um sich herum errichtet hatte.
Eine gottlose Hochstaplerin
Wir stritten nicht, Gott und ich, wir hatten uns nur auseinandergelebt. Das kommt vor, sagte ich mir, beschwichtigend.
Die Erfahrung der Gottlosigkeit habe ich schon öfters gemacht, ist nicht so schlimm, wirklich nicht.
Meistens stellte sich über kurz oder lang sowieso heraus, dass ich Gott bloss vergessen habe, so wie ich manchmal meine Brille auf dem Kopf vergesse oder wie alt ich beim nächsten Geburtstag werde. Und überhaupt: Den Morgenkaffee trinke ich eh am liebsten allein…
… Aber was, wenn es dieses Mal anders ist?
Was, wenn Gott weg – wirklich weg ist?
Vielleicht habe ich es dieses Mal versaut, habe mich zu sehr ans Auseinanderleben gewöhnt, habe Endgültigkeit ins Spiel gebracht.
Nun befällt mich doch latente Panik: Eine angehende gottlose Pfarrerin – wie unglaubwürdig, ein schlechter Scherz, mindestens Hochstapelei, vielleicht sogar Blasphemie!
Das neualte Fahrrad
Heute kann ich mein neues Fahrrad abholen. Meine Freundin Julia schenkt mir das alte E-Bike ihrer verstorbenen Mutter. Diese war katholische Theologin und ist viel zu früh gegangen;
das Fahrrad und ein ganzes Leben hinterlassend.
Julia und ich treffen uns am Bahnhof Goldau. Nach einem kurzen Schwatz setze ich mich auf das neue Gefährt und mache mich auf den Heimweg, zufrieden und auch ein wenig gerührt.
Bärlauch, Hundekot und Erinnerungen
Ich fahre von der Hauptstrasse über den grossen Parkplatz in den Wald. Bäume ziehen vorbei, der Morgen ist still und es riecht würzig-herb nach Bärlauch (und auch ein wenig nach Hundekot). Ich merke, wie sich mein Puls beschleunigt, während ich zum See hinunter flitze.
Weit über mir gleiten Bussarde auf der Thermik.
Ich denke flüchtig an die Schwalben, die ich immer vermisse, sobald sie weg sind und die bald wieder aus der Ferne kommen, denn es wird Sommer.
Der Gedanke daran macht mich glücklich.
Eine himmlische Fahrradstrecke
Bei der Landzunge wo die Steiner-Aa in den See fliesst, stecken Moorbirken, Eschen und Buchen ihre dichten Laubköpfe zusammen und bilden ein atemberaubendes, grüngrausilbernes Blätterkunstwerk. Ich denke an die Urwald-Parallelwelt und an den nackten Otter, eine Geschichte aus meiner Vergangenheit.
Der Wind pfeift mir um die Ohren. Ich beschleunige und sause durch Schwärme winziger Sumpfmücken, vorbei an schlafenden Entenfamilien im Schilfgewächs.
Weit vor mir liegen die Hochalpen. Sie heben sich scharf vor dem stahlblauen Himmel ab, als wären sie mit einem Messer in die Atmosphäre geschnitzt und mit weisser und grauer Farbe aufgefüllt.
Die Fahrradkette klackert, die Speichen surren. Ich krampfe die Steigung zum Buchenhof hinauf und jauchze innerlich, als es wieder hinabgeht. Den Feldern entlang, den Duft von frisch gemähtem Gras in der Nase, schneller und schneller. Ich lächle den zwei entgegenkommenden Spaziergänger zu.
Sie lächeln zurück und in diesem Moment wird es mir bewusst:
frohlocken und radeln
Gott frohlockt gerade mit mir auf dem Fahrrad und gleitet mit den Bussarden auf der Thermik. Gott schwirrt im Schwarm der winzigen Sumpfmücken, wuchert in den Urwaldbäumen und schläft mit den Entenfamilien im Schilfgewächs. Gott hat die Berge in die Atmosphäre geschnitzt und mit weisser und grauer Farbe aufgefüllt.
Gott ist meine Sehnsucht nach den Schwalben und das warme Gefühl, wenn sie aus den fernen Winterquartieren zurückkehren.
Gott duftet im frisch gemähten Gras und strömt würzig-herb aus dem Bärlauch (und sogar ein wenig aus dem Hundekot). Gott ist meine Erinnerung an den nackten Otter, ist die Geschwindigkeit, die mich berauscht, ist das Geschenk der Freundschaft, die Gabe der Grosszügigkeit.
Gott ist im Leben und Sterben einer Mutter und Theologin, die vielleicht selbst manchmal gottlos in die Tage hineingelebt hatte, mir ihr Fahrrad vermachte und ihrer Familie
ihre ewige, innige, immerbleibende Liebe.
B e w u s s t werden!
Bei der Schornen, so heisst der Zipfel Land, der kurz vor Seewen in den Lauerzersee hineinragt, bremse ich ab. Einerseits ist die Sicht um die Kurve nicht so gut, andererseits nimmt mir die plötzliche Erkenntnis den Atem:
Gott war nie weg.
Wir stritten nicht. Wir hatten uns nicht auseinandergelebt. Ich brauchte nur einen etwas längeren Augenblick, um wieder b e w u s s t zu werden, so wie ich mir manchmal meiner Brille auf dem Kopf bewusst werden muss oder dass ich tatsächlich bald 40 werde (Himmel!).
Und vielleicht brauchte es auch das neualte Fahrrad und die morgendliche Wallfahrt dem See entlang, die Bussarde und den Bärlauch, Erinnerungen und Geschwindigkeit, immer da und wieder neu, stilles Blinzeln in warmes Frühlingssonnenlicht.
Sarah Staub ist Pfarrerin in der evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz. Sie veröffentlicht bei RefLab in loser Folge Artikel rund um die Theologie der Behinderung und poetische Texte, so zum Beispiel hier: «von grossem Mut und winzigen Mütchen». Auf Instagram postet sie als «die fromme Häretikerin» regelmässig aus ihrem Leben.
12 Gedanken zu „Gott und das Fahrrad“
Gott und das Fahrrad – danke der Autorin für diesen eindrücklichen Text. Ja, Gott war nie weg und ist immer in den alltäglichen Dingen.
Liebe Marlise, danke für deinen Kommentar. Ich habe mich darüber sehr gefreut. Viel Segen für deinen Alltag wünsche ich dir. Sarah
Ich liebe diesen Text. RefLab at its best! 🥰🚴♀️
Danke Johanna 🥰😘
Och, tut das gut! So kreativ gedacht und geschrieben – und mir aus der Seele gesprochen:)
Dank an die jüngere Theologin von einer älteren katholischen, velobegeisterten Theologin!
Wir sitzen doch alle im gleichen Sattel….ääh Lebensboot 😀
Danke für deinen Kommentar!
Sarah
Sehr schöner Text, in dem sich einige finden dürften. Danke für diesen bunten
“Frühlingsbuchstabenstrauss”.
Danke für deinen Kommentar – Frühlingsbuchstabenstrauss – ich liebe das Wort <3
Wunderbar, vielen Dank.
Danke dir!
Die Fahrrad-Geschichte kommt sowohl ungereimt daher als auch gemütlich “aufgeladen” mit beruflicher Erwerbs-Theologie. Dazu gegensätzlich meine Laien-Reime :
ALLMÄCHTIGER,
Du Quelle des Lebens, aus der alles fließt.
Wasser + Blut, die Milch, ZEIT, was grünt + sprießt.
Auch krause und manchmal kluge Gedanken.
Sowohl bei Gesunden als auch bei Kranken.
Das alles ist zwar total verschieden,
doch eint der Wunsch nach Dauerfrieden….
Diesen Kommentar verstehe ich leider nicht. Danke dennoch für das Gedicht. Liebe Grüsse