Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 7 Minuten

Heimat beim obdachlosen Gott

Endlich wahre Weihnachten?!

So mancher wird in den letzten Jahren die Klage gehört oder selbst angestimmt haben: Was ist nur aus Weihnachten geworden? Wie konnte aus dem Fest der Besinnlichkeit ein solcher Rausch der Betriebsamkeit werden? Das sind doch keine richtigen Weihnachten mehr! Alles ist viel zu voll. Die Innenstädte und ihre Kaufhäuser! Und erst die Weihnachtsmärkte! Ja selbst die Kirchen. Alles ist zu viel. Zu viel Konsum! Zu viel Kitsch und zu viel Stress. Die wahre Botschaft von Weihnachten geht in diesem Trubel verloren. Das sind doch keine wahren Weihnachten mehr, wenn die klassischen Weihnachtslieder selbst im Fahrstuhl noch zur Dauerberieselung missbraucht werden. Gott sei Dank wird es endlich wieder etwas ruhiger, wenn die stillen Tage vorbei sind…

Für alle, die in den letzten Jahren heimlich oder laut so sprachen, muss die Weihnacht 2020 ein einmaliges Erlebnis sein. Weder Geschenkewahn noch Besuchsstress.

Kein Driving Home for Christmas in Schrittgeschwindigkeit durch endlose Staus. Kein Wutausbruch, weil man an einem Tag zum siebten Mal Last Christmas hört. Endlich alles zurück auf Werkseinstellung. Weihnachten ist wieder frei. Free at last! Konsum, Kitsch und Kokolores lösen sich auf. Übrig bleibt: Weihnachten pur. Back to the roots. Jetzt macht „Stille Nacht“ endlich wieder Sinn! Wenn man es singen dürfte. Werden wir den Frieden auf Erden, den die Engel verheißen, endlich im Herzen spüren können?

Der eine oder andere vielleicht schon. Aber insgesamt bin ich skeptisch. Viele werden die Erfahrung machen, zum ersten Mal seit langem, wenn nicht überhaupt ein Weihnachtsfest zu feiern, ohne getragen zu sein in einer mitfeiernden Festgemeinschaft. Ohne Kindern beim Krippenspiel zuzusehen, denen man stehend applaudiert. Am 24. Dezember gibt es Musik aus der Dose, ohne den Schall der Posaune, das Rauschen der Orgel und den Klang der Chöre.

Ja, jetzt ist Zeit für das Eigentliche! Nur: was war das gleich?

Gott wird Mensch

Was ist Weihnachten? Was ist denn die Substanz, das, was bleibt, wenn alles andere unverantwortlich, unmöglich oder unerfreulich geworden ist? Traditionelles Brauchtum? Ein Fest der Familie? Ein hohes Kulturgut? Ja, alles das. Und irgendwie mehr. Was war das nur? Eine Art Echo. Eine Antwort auf ein Ereignis in unserer Welt und vor unserer Zeitrechnung. Aber was ist da geschehen? Die Geburt eines Religionsstifters? Aber ist es das, was viele berührt?

Am Ende bleibt wohl diese Auskunft:

Weihnachten handelt von der Menschwerdung Gottes. Gott wurde Mensch. So einfach, so klar. So unklar.

Bitte was?, mag mancher denken. Ein Gott? Als Mensch? Was soll das bedeuten? Schon unter Gott können sich viele nicht mehr viel vorstellen. Und nun zugleich ein Mensch. Ist das nicht widersinnig? Nun muss an dieser Stelle nicht erinnert werden an die vielen Versuche, diese geheimnisvolle Formulierung aufzuschlüsseln. Jahrhunderte lang diskutierten Gläubige darüber. Alle Versuche, es irgendwie zu erklären, betonten die Gottheit auf Kosten der Menschheit oder die Menschheit auf Kosten der Gottheit. Oder sie behaupteten einfach beides und kümmerten sich nicht drum, was mit Gott oder was mit Mensch gemeint ist.

Die Weisesten haben damals wie heute betont: das ist es ja: die Formel von der Menschwerdung Gottes sprengt unsere Begriffe. Dieses Ereignis passt nicht hinein in unsere Kategorien. Die Wörter fangen an zu zittern, wenn man sie so zusammenstellt. Wir kriegen es nicht in den Griff. Es bleibt ein Geheimnis, es ist etwas, was wir feiern, ehrfürchtig verehren, anbeten.

Es passt, dass nichts passt

Aber bitte – was machen wir heute mit diesen Geschichten: Eine Hochschwangere findet keinen Raum in der Herberge. Gott erscheint im Fleisch – als Säugling? Der größte Schatz erscheint in bitterer Armut. Engel dienen Hirten – mit einem Konzert. Mächtige knien vor den Ohnmächtigen. Das alles passt nicht hinein in unsere Welt, zu unseren Erwartungen und Erfahrungen. Alles ist zu klein oder zu bombastisch.

Die Engel passen nicht zu den Hirten. Die Hirten passen nicht zum Kind. So ein Kind gehört doch nicht in eine Krippe. Es ist alles so unpassend.

So unpassend wie, sagen wir: der Besuch von orientalischen Magiern bei einer jüdischen Familie. Oder Gold, Weihrauch und Myrrhe als Geschenke für ein Neugeborenes. So was ginge ja auch nicht.

Vielleicht ist das die Pointe. Die heilige Familie findet keinen Raum in der Herberge.

Weihnachten ist das Fest für alle, die nirgendwo richtig hineingehören. Die in diese Welt genauso wenig hineinpassen wie Corona in unseren Alltag.

Diese Geschichte passt nicht in unser Leben. Aber vielleicht passt unser Leben in diese Geschichte. Vielleicht finden wir in dieser Geschichte der Heimatlosen – eine Art Heimat. Vielleicht ist es das, was viele unterschwellig geahnt, gespürt, gehofft haben, wenn sie einmal im Jahr die Kirche betraten?

Aber wie soll man nun so etwas feiern? Jetzt unter diesen Bedingungen? Mit den Großeltern auf Zoom oder Skype? Mit Gutscheinen statt Geschenken unterm Baum? Sollen wir jetzt etwa mit Worten sagen, was ansonsten eine Umarmung ausdrückt? Das passt doch alles nicht! Doch, vielleicht ist das ganze Unpassende daran gerade jetzt dran. Genau das möchte ich spüren. All das aus der Spur geratene in diesen Tagen.

Vielleicht spricht es sich ja rum: Dieses Weihnachten ist ein Fest für die Unangepassten und für die Unpassenden.

Für alle, die in keiner Schublade Raum finden und doch in viele davon hineingepresst werden. Ein Fest für die Gebrochenen, denen in diesem Jahr so vieles viel zu viel war. Und so viel anderes zu wenig. Für alle, die zu weinen und zu trauern verlernt haben, weil sie zu viel Grund dazu hatten. Für die, die vom Wege abgekommen sind. Für die Einsamen, nicht zuletzt für diejenigen, die überhaupt nicht allein, aber einsam sind. Für die Erschöpften. Die Unter- und die Überforderten. Für die 2020-Geschädigten, weil sich ihre Lebensgrundlage aufzulösen scheint. Auch für diejenigen, denen es in dieses Jahr besser ging denn je; und die sich fragen, warum das so ist. Für die Wütenden, die allmählig Angst haben, von ihrem Zorn verschlungen zu werden. Und für alle, die zu viele Kämpfe führen mussten und sich ihrer Siege nicht mehr freuen können. Heimat für alle Heimatlosen. Herberge für alle Wandernden.

Let it shine

Ich liebe das alte Lied mit der Zeile „This little light of mine, I’m gonna let it shine.” Das ist unsere Lebensberufung, unser Licht leuchten zu lassen, als Mensch, als Christin oder Christ. Meistens. Manchmal ist es nur noch eine Zumutung. Manchmal will ich nicht strahlen müssen. Nicht mehr leuchten oder irgendetwas darstellen. Nur noch in dem Raum sein, in dem niemand sonst eine Herberge sucht.

Weihnachten müssen wir nichts strahlen lassen. Weihnachten strahlt in entwaffnender Wehrlosigkeit. Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat (1Joh 4,9), heißt es in der Bibel so bedeutungsschwer. Weihnachten erzählt man sich davon. Von einer Nacht, an der alles unpassend war. Und von diesem Menschenkind, diesem göttlichen Kind.

Schon mal bemerkt: man schafft es nicht, sich vor einem Säugling zu schämen. Man ist nie falsch angezogen. Man glaubt sich die eigenen Haare schön. Kein Fleck auf dem Hemd irritiert. Wer auf einen Säugling blickt, versteht für diesen Moment den Ausdruck Bodyshaming nicht mehr so ganz. Man blickt in Augen, in denen noch niemals Schadenfreude gefunkelt hat. Die weder Häme noch Herablassung kennen. Und man möchte nichts anderes mehr sehen, weil dieser Anblick Hoffnung weckt. Zynismus zerfließt schneller als Kerzenwachs. Für die Verzweiflung ist eine Pausetaste gefunden.

In dieser Nacht scheint alles verkehrt. Und es war wohl noch nie alles so richtig. Werden wir davon etwas erfahren können, in dieser Corona-Weihnacht 2020? Vielleicht helfen uns ja die vielen kleinen Momente, wo alles so unpassend erscheint. Weihnachten strahlt hinein. Allen, die sich dafür nicht bereit fühlen. Nicht klug genug, nicht gut genug, nicht schön genug. Es strahl hinein, das himmlische Kind, das irdische Kind. Und vielleicht lassen wir uns von diesem Lied die Zeile leihen: Let it shine, let it shine, let it shine!

 

Photo by Lucas Benjamin on Unsplash

3 Kommentare zu „Heimat beim obdachlosen Gott“

  1. Thorsten,
    Danke für deine Worte.
    Sie treffen, machen nachdenklich, aber auch viel Hoffnung.
    Schenken wir uns gegenseitig etwas mehr Liebe, Aufmerksamkeit.
    Frohe Weihnachten euch allen.
    Let it shine.

  2. Vielleicht ist der Stall oder die Felsgrotte der heiligen Nacht haargenau jener Zwischenraum, in dem sich all die sammeln, denen die Herberge ihres Lebens keinen Raum mehr zu bieten vermag. Gläubige wie ungläubige Seelen ziehen aus ihrer bisherigen Behausung aus, weil es sich an entscheidender Stelle ausgeglaubt hat – ob theistisch oder atheistisch. Und wenn die, die sich unpassend fühlen, den neuen Zwischenraum betreten, stellen sie vielleicht verwundert fest: Wir passen hierher, ja, sogar zueinander. Für mich leuchtet da was … danke Thorsten.

  3. Pingback: Gottes Blick?! - SEINSEIN

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox

RefLab-Newsletter
Podcasts, Blogs und Videos, alle 2 Wochen
Blog-Updates
nur Blogartikel, alle 2 bis 3 Tage