Dein digitales Lagerfeuer
Dein digitales Lagerfeuer
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Digital Funeral

Wir folgen dem surrenden Fahrzeug: vier Gummiräder, die auf dem Asphalt mit ihrem Profil tickende Geräusche erzeugen. Beim Betrachten der Gumminoppen muss ich unwillkürlich an mein ferngesteuertes Offroad-Auto denken, mit dem ich als Kind gespielt hatte.

Wieso fallen mir solche Details auf? Ist das hier angebracht?

Wir sind ungefähr dreissig Leute, hauptsächlich die Familie und ein paar Freunde meines Onkels. Diejenigen, die ihn überlebt haben. Oder überleben wollen.

Auf dem kleinen Fahrzeug ist in der Mitte eine Urne deponiert, die von Blumengirlanden umrahmt wird. Onkels 4D-Portrait wird in der Luft auf unserer Augenhöhe projiziert, Name, Geburts- und Todesdatum werden ebenfalls angezeigt. Er wollte für seine Bestattung kein persönliches Video. Die Frage danach war Teil des Fragebogens, den wir bereits vor seinem Tod im Krankenhaus gemeinsam ausgefüllt hatten. Ich musste ihn überzeugen, keine Memes und Jokes wiederzugeben. Ich hätte es lustig gefunden, meine langweilige Familie aber nicht. Dann wäre es wirklich eine Trauerfeier geworden. Dies ist nun ein Begräbnis.

«Möchten Sie echte oder digitale Blumen?»

«Wo soll Ihre Asche verteilt werden?»

«Soll die Aufnahme der Bestattung online gestellt werden?»

Dies waren nur einige der Fragen, die wir auf dem Tablet beantwortet hatten. Und obwohl ich damals traurig, sehr traurig gewesen war, haben wir viel gelacht. Ich konnte seine Entscheidung nicht nachvollziehen: Er hätte sich nur für ein Print-Organ von Genet-x entscheiden müssen, eine Routine-Operation für seine kranke Leber. Obwohl er sichtbar darunter gelitten hatte, meinte er, seine Zeit sei nun gekommen. Er ist nur 115 Jahre alt geworden.

«Endlichkeit ist wichtig», hatte er mir gesagt und aus dem Fenster den Mauerseglern zugeschaut, die flirrende Punkte auf den dunkelblauen Sommerhimmel zeichneten.

«Mir gefällt dies alles. Aber noch viel mehr, seit ich erfahren habe, dass ich krank bin. Ich empfinde das Leben viel intensiver, die Farben sind schöner, die Gerüche stärker.»

Das Roboterfahrzeug humpelt auf dem Rasen und kommt dann zum Stehen. Ein Roboterarm hebt die Urne auf und legt sie behutsam auf der Erde hin. Dann greift er nach den Blumen und arrangiert sie.

Ich hatte das Gefühl, dass sich Onkel nach dem tragischen Autounfall bereits von diesem Leben gedanklich verabschiedet hatte. Tante hatte den Unfall nicht überlebt. Er hatte hart gekämpft, die Depression fast überwunden. Anschliessend war er für die meisten Personen jahrelang nur eine bittere Karikatur gewesen. Nur wenige konnten zu ihm durchdringen. Er mied längere Gespräche, schwamm viel und genoss die Einsamkeit.

«Ihr habt jetzt Traurigkeit, ich werde euch aber wieder sehen und euer Herz wird sich freuen» sagt die digitale Stimme und zeigt uns Fotos aus Onkels Leben.

Mutter weint.

Ich konnte mich zwar auf die Beerdigung einstellen, war besser darauf vorbereitet. Der Schmerz ist trotzdem da und nicht zu bändigen.

Die künstliche Stimme macht es gut, das muss man zugeben. Das Tempo stimmt, die Tonlage passt, es gibt genug Pausen, um innezuhalten.

Am Schluss hat sich Onkel doch für eine reformierte Bestattung entschieden. Ich glaube, dass er dies nur gemacht hat, um Tante nicht zu verärgern. Er hat zwar geglaubt, aber auf seine ganz eigene Art. Und er wollte kein Emo-Backup für die Ewigkeit haben, keine emotionale Kopie seiner digitalen Erinnerungen. Es gibt Leute, die dies tun, damit ihre Liebsten anschliessend besser trauern können. Oder gewisse Lebensentscheidungen nachvollziehen können. Ihm war diese Wichtigtuerei des eigenen Lebens zuwider. Als würde man das Leben museal archivieren wollen.

Digitale Erinnerungen würden zudem eine willkürliche, meist positiv konnotierte Perspektive wiedergeben, meinte er. Die bestmögliche Version einer Person, eine unzulässige Verzerrung. Und diese Erinnerungen könnten kaum die Vielschichtigkeit eines Erlebnisses aufnehmen.

Ich glaube, dass er da recht hatte. Ob Mutter jetzt das gleiche empfindet? Wie intensiv ist ihr Schmerz? Wo wandern ihre Gedanken? Wie schnell schlägt ihr Herz?

Das Surren wird jetzt stärker, die Drohne schwebt sichtbar über uns. Sie nähert sich und landet dann in unserer Nähe.

Mutter öffnet die Urne und setzt sie in einen Korb, der unter der Drohne angebracht ist.

Dann sagt die elektronische Stimme: «Ihr könnt euch nun verabschieden» und spielt ein Lied ab.

Ich halte meine Hände, andere murmeln etwas. Das Wasser plätschert sanft in Ufernähe.

Die Rotoren werden gestartet, sie sind jetzt wegen des Gewichts ein bisschen lauter. Nachdem die Drohne an Höhe gewonnen hat, bewegt sie sich langsam und linear in Richtung Seemitte. Dort schwebt sie noch ein paar Sekunden.

Dann wird die Asche meines Onkels aus der Urne gekippt. Aus der Ferne sieht’s aus, als würde eine graue Regenwolke aus dem Nichts entstehen. Nach einem Augenblick löst sie sich auf.

Ein paar Möwen kreischen. Das war’s.

Dies ist meine persönliche Erinnerung. Dieses Licht werde ich nicht vergessen, das Geräusch des Roboterfahrzeugs, das Parfum meiner Mutter und meine kalten Hände.

Eine Erinnerung, die ich niemals digitalisieren werde.

 

Foto von Diana Măceşanu auf Unsplash

Am 8./9. März findet in Zürich im Rahmen des universitären Forschungsschwerpunkts «Digital Religion(s)» eine Tagung zum Thema «Tod und Trauer: digital – analog» statt. U. a. mit einer öffentlichen Podiumsdiskussion unter dem Titel: «Jenseits der Bits und Bytes: Sterben und Tod im Zeitalter des Internets» (9. März, 18 Uhr).

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