Mir hat sich im Zusammenhang mit Fragen nach Aufrichtigkeit ein Buchtitel eingeprägt: «Die Stunde der wahren Empfindung» von Peter Handke. Der Protagonist der 1975 erschienenen Erzählung, Pressereferent der österreichischen Botschaft in Paris, wird schon länger von Ekel und Überdruss geplagt. Sein Dasein ist getränkt vom Gefühl der Sinnlosigkeit. Den Alltag mit Frau und Kind spult Gregor Keuschnig lustlos ab. Nach einem Traum, in dem er zum Mörder wird, bricht die Stunde der wahren Empfindung an.
Im falschen Film sein
Eine Verschiebung tritt ein, die das bisherige Dasein als nicht-authentisches und falsches Lebens entlarvt. Keuschnig erkennt, dass er ausbrechen muss, um wieder identisch sein zu können mit sich selbst und fähig zu authentischen Erfahrungen. Als seine Frau abreist, hinterlässt sie eine Zettelbotschaft: »Erwarte nicht von mir, dass ich dir den Sinn deines Lebens liefere.«
Wenn die Stunde der wahren Empfindung anbricht, heisst es, eine andere oder ein anderer zu werden, um ich zu sein. Fesseln sozialer Konventionen und familiäre Erwartungen werden gesprengt. Was zuvor als Lebensinhalt erschien, wirkt nun wie Selbsttäuschung und schlimmer: als belastend, erdrückend, lebensverhindernd. Ein Weiterso hiesse: Selbstverletzung.
Ideale, die man vielleicht sogar stolz aufrechterhielt: das Bild des liebenden Familienvaters, der leidenschaftlichen Partnerin, des loyalen Staatsbürgers, zerbröseln wie Staub.
Keuschnig treibt den Ausbruch bis zum Exzess. Er fletscht auf einmal wie ein Wolf die Zähne, gebärdet sich bei einem geselligen Abendessen wie verrückt und entledigt sich seiner Kleider. Eine tragische Note liegt darin, dass in einer solchen Lage der Preis der Verhinderung der Selbstverletzung die Kränkung anderer ist. Keuschnig wird zum Monster.
Geometrie der Liebe
Hinter dem Impuls steckt die Vorstellung, dass authentische Empfindungen tatsächlich existieren, dass die wahren Gefühle und Bedürfnisse wie durch Schlacken oder Schmutzkrusten überlagert sind und darunter die «nackte» Wahrheit und das wahre Begehren zum Vorschein kommen.
Und so wird es im therapeutischen Diskurs auch vermittelt: Wir sollen unseren Emotionen freien Lauf lassen, sie nicht unterdrücken. Letzteres gilt als krankmachend.
Um Ausbruch, und zwar in potenzierter Form, geht es auch in einem meiner Lieblingsfilme aus der Ära des italienischen Neorealismus: «Teorema. Geometrie der Liebe» von Pier Paolo Pasolini, entstanden in meinem Geburtsjahr 1968. Als ich ihn zum ersten Mal sah, eines Nachmittags in den Nullerjahren ohne Begleitung in einem Kino in einer norddeutschen Stadt, liess mich der Film enttäuscht und fast wütend zurück; nach meiner Erfahrung häufig ein Zeichen, es mit Kunst zu tun zu haben. Im Nachgang erschloss sich mir die fast geometrische Schönheit des Films.
In Pasolinis Film «Teorema» ist es eine ganze Familie, die aus Normen und gesellschaftlichen Erwartungen kippt, als eine Jesus-artige Figur, ein schweigsamer junger Mann, in ihrer Mitte auftaucht.
Die Ehefrau entdeckt ausserehelichen Sex, die Tochter des Hauses wird durch Liebesschmerz ins Koma versetzt, das Dienstmädchen kehrt zu seiner Mutter zurück und wird je nach Perspektive religiös-wahnsinnig oder heilig und der Hausherr entledigt sich seiner Kleider und stürzt in der Schlusssequenz hinaus in die Wildnis.
Emotionaler Bildersturm
Ich kenne Beispiele schonungsloser Aufrichtigkeit nicht nur aus Literatur und Film. Eine Bekannte, Mutter zweier Kinder, platzierte in einer Stunde der wahren Empfindung ihr Hochzeitskleid in der Badewanne und liess es in Flammen aufgehen. Ein Vater wurde am Krankenbett seiner Tochter fromm. Als sie nach kurzer Zeit starb, stellte er die Gebete wieder ein, nunmehr überzeugt, dass Gott nicht existiert oder zumindest nicht hilft.
In beiden Fällen sind Bilder zerbrochen: des glücklichen und sicheren Ehe-«Hafens» im Fall der enttäuschten Ehefrau und beim verzweifelten Vater die Vorstellung, dass, wenn sonst nichts hilft, beten hilft. Die Idealbilder haben der Stunde der wahren Empfindung – oder der Realität? – nicht standgehalten. Sie sind mit der Energie, die sie nicht mehr aufrechtzuerhalten vermochte, verpufft. Sie haben sich als Illusionen, als Selbsttäuschung entpuppt.
Der Ausdruck «Stunde der wahren Empfindung» bezeichnet auffallenderweise einen abgegrenzten Zeitraum: eine Stunde. Damit lässt er offen, ob mit der Stunde der schonungslosen Aufrichtigkeit eine dauerhafte Ernüchterung eintritt, ein intensiveres Leben beginnt oder aber Stunden anderer wahrer Empfindungen folgen, die die Lage abermals in neuem Licht erscheinen lassen. Eines aber scheint klar: Ein einfaches Zurück ins alte Leben ist nach radikalen Brüchen und tiefen Enttäuschungen kaum mehr möglich.
Das Pathos des Ausbruchs aus Literatur&Film der Sixties und Seventies mag uns heute fremd geworden sein. In Pandemiezeiten wollen viele nicht aus der Normalität ausbrechen, sondern streben im Gegenteil leidenschaftlich in sie zurück. Aber umso normaler sich der Ausnahmezustand anfühlt, der alltägliche Wahnsinn, und umso enger es in privaten Kämmerlein wird, desto stärke regen sich doch Fluchtimpulse.
Eine grundsätzliche Frage betrifft die Authentizität der Gefühle hinter Ausbrüchen. Tatsächlich erscheint es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, klare Kriterien der Unterscheidung von authentischen und nicht-authentischen Emotionen zu ermitteln.
Gerade in der Liebe ist es schwierig, authentisch zu sein, weil kaum ein Bereich kulturell stärker vorgeprägt ist als dieses Gefühl.
Echte Liebe?
Es gibt unzählige Muster und extrem suggestive Schablonen, in die wir fast automatisch hineingleiten, wenn wir Liebe zum Ausdruck bringen. Parallel zu unserem eigenen Fühlen laufen immer Fremdbilder mit. Zugespitzt kann man sagen: Man kann gar nicht anders als fremdgehen. Ich erinnere mich an ein junges Pärchen, fast noch Kinder, die inmitten einer Bahnhofshalle, als wären sie auf einer Bühne, einen rührend-ungelenken und extrem in die Länge gezogenen Filmkuss à la Hollywood hinzulegen versuchten.
«Da die Liebe auf besondere Weise von ihren Inszenierungen betroffen ist, scheint sie unter dieser Voraussetzung gar nicht in einer echten Variante vorliegen zu können», schreiben Christoph Demmerling und Hilge Landweer in ihrem Buch «Philosophie der Gefühle».
Und gilt nicht ähnliches für die Gottesbeziehung? Hier finden wir nicht nur vorgestanzte Bilder, sondern wir fügen uns in tausende Jahre alte Ritualisierungen und unserer heutigen Lebenswelt entrückte und fast unverständlich gewordene Sprechakte ein. Und auch religiöses Empfinden ist kompliziert: In die Gottesliebe kann sich Angst mischen – es heisst ja sogar «Gottesfurcht» – und noch im lästernden Hass gegen Gott, der Blasphemie, schwingen verletzte Liebe und enttäuschte Leidenschaft mit.
Gefühle können überlagert sein durch andere, blockiert, verschoben oder durch Trauma ausgeblendet. Und es können Selbsttäuschung und Fake im Spiel sein; aus atheistischer Sicht ist Religion nichts anderes.
«Was wären wir ohne die Hilfe dessen, was es nicht gibt?» – «Que serions-nous donc sans le secours de ce qui n’existe pas?», fragt Paul Valéry im «Petite lettre sur les mythes».
Unendliches Bezogensein
Seit der Romantik und besonders in der protestantischen Traditionslinie wird Religiosität wesentlich als individuelle Gefühlsbeziehung in den Blick genommen und als sinnliches Bezogensein auf Gott, als «Sinn und Geschmack fürs Unendliche» (Schleiermacher). Wie die Paarliebe, so lebt auch Religiosität von einem scheinbaren Widerspruch: Dem spontanen, authentischen Begehren danach, dem geliebten «Objekt» nahe zu sein, und gleichzeitig dem Angewiesensein auf Traditionen, gemeinschaftliche Rituale, eine liebende Praxis. Aber selbst in der weit gespannten Gefühlskammer der Relgiosität kann es mit der Zeit stickig werden.
Auch aus religiösen Umklammerungen und Erwartungshaltungen, fremden und eigenen, muss man sich gelegentlich befreien.
Und ist nicht genau das die Maximalforderung, wofür Christus Vorbild ist: ultimativ frei werden, frei von der Angst vor dem Verlust dessen, woran ich hänge, frei sogar von der Angst vor dem Tod?
Zum Thema Authentizität und «Radical Honesty» siehe auch den RefLab-Podcast der Reihe «Holy Embodied» von Leela Suter und Patrick Schwarzenbach.
1 Gedanke zu „Die Stunde der wahren Empfindung“
Ist es nicht merkwürdig, dass die sogenannt “wahren Empfindungen” (mindestens in der Literatur) häufig Ausbruch und Destruktion führen, während Zugewandtes, Verantwortung, Rücksicht als klischeehaft-konventionell disqualifiziert werden?
Vielleicht ist ein Perspektivenwechsel nicht gerade künstlerisch wertvoll, nichtsdestotrotz hohe Kunst, Ich hatte diesen Sommer die Gelegenheit mit einem 12Jährigen zusammen “seine” Filme anzusehen: sie alle lebten von Brutalität, Destruktion, Gewalt – und sie alle waren geprägt von austauschbaren Klischees. Ich frage mich seither, ob hier nicht “wahre Gefühle” künstlich erzeugt werden, die zu wirken beginnen, während das Einüben von Achtsamkeit sträflich vernachlässigt wird…
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Empfindungen nicht ausgeliefert sind, sie vielmehr gestalten können. Sie sind das Ergebnis von Erziehung, Training, Haltung, Entscheidungen – und in welche Richtung möchten wir uns selbst gestalten?
Ausbruch ist nur dort nötig, wo die Empfindungen als sinn-leer erlebt werden. Doch weshalb erscheinen sie eigentlich sinn-los?