Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 8 Minuten

Den Horizont überschreiten

Vergebliche Anstrengung

Es war während meines Studiums.

Ich habe über den Sommer in der Bibliothek mitgearbeitet, um etwas Geld zu verdienen und die Studiengebühren bezahlen zu können. Die neue Aufgabe, die man mir zugewiesen hatte, war denkbar banal: In einem Kellerraum des dritten Untergeschosses wurden etwa 200 Bananenschachteln voller alter Bücher gelagert, und offenbar war auch meinem bibliophilen Vorgesetzten klar geworden, dass es für diese staubigen Schinken keine Verwendung mehr gab.

Ich musste also bei schönstem Augustwetter zwei Wochen lang in einem fensterlosen, stickigen Raum von Hand bei jedem Buch Deckel und Rückseite entfernen: Man könne die Bücher eben nicht komplett abführen, sondern müsse die festen Kartonteile von den Seiten trennen und gesondert entsorgen.

Die Arbeit war (zumindest im Vergleich zu meinen sonstigen Tätigkeiten als Student…) hart, monoton und überaus einsam. Mit schwielenden Händen habe ich von morgens bis abends Bücherschachtel um Bücherschachtel abgearbeitet und dabei zahlreiche Abfallcontainer mit Karton und viele weitere mit Papier gefüllt.

Ich kann das Gefühl des Stolzes und der Errungenschaft nicht verleugnen, das mich selbst nach einer solch intellektuell anspruchslosen Arbeit erfüllte, als ich den letzten Container in Richtung Abfallstation stieß – gerade rechtzeitig, um dem Lastwagen zu begegnen, der die Früchte meiner beschwerlichen Trennungsarbeit wegzuführen gedachte. Zwei metallische Arme leerten die mit »Papier« angeschriebenen Container in die große Ladefläche … um dann mit völliger Selbstverständlichkeit auch den Inhalt der Karton-Container dazuzukippen.

10 Tage Knochenarbeit wurden so vor meinen Augen ihres Sinns beraubt – und ich erinnere mich noch lebhaft an die tiefe Frustration und Leere, die mich in diesem Moment einholte. Ich habe mehrere Tage gebraucht, um mich innerlich davon zu erholen. Und das Thema Mülltrennung ruft seither mulmige Gefühle in mir hervor …

Kurzer Rückblick

Ich bin am Ende einer Beitragsreihe angelangt, die sich mit den Unberechenbarkeiten des Lebens befasst – näherhin mit der Frage, wie man in unserer störungsanfälligen Risikogesellschaft leben kann, ohne ignorant zu werden oder sein Herz an die Zukunftsangst zu verlieren.

Der Weg, den die vorausgegangenen Blogposts abgeschritten sind, hat bei der Einsicht angesetzt, dass Unberechenbarkeiten auch positive Überraschungen einschließen, die unsere Existenz erst spannend und lebenswert machen.

Natürlich gilt es aber auch, sich jenen Unberechenbarkeiten des Lebens zu stellen, die Gefahren und Unheil heraufbeschwören. Bei der Rede von «schwarzen Schwänen» geht es ja v.a. um solche Ereignisse. Eine erste Reaktion darauf kann die Wertschätzung des Augenblicks sein. Nicht als Flucht vor der zerbrechlichen Realität unseres Lebens, sondern als Konsequenz daraus:

Die Unsicherheiten der Zukunft geben der Gegenwart neues Gewicht.

Darüber hinaus habe ich dafür geworben, in relativ berechenbaren Zeiten schon jene Eigenschaften auszubilden, welche beim Einbruch des Unberechenbaren vonnöten sind – persönlich und gesellschaftlich. Solche «Tugenden» wie Empathie, Großzügigkeit und Mut gehen nach christlicher Überzeugung aus der Erfahrung der Zuwendung und Menschenliebe Gottes hervor.

Angeborene Sinnsuche

In diesem letzten Beitrag dieser Serie möchte ich der Frage nach dem Sinn und Ziel des Lebens nachgehen. Denn das ist vielleicht die größte Herausforderung, vor welche uns die Unberechenbarkeit des Lebens stellt. Und sie erledigt sich auch durch die empfohlene Wertschätzung des Augenblicks oder die Pflege krisenbewährter Tugenden nicht einfach:

Was bringt das alles, wenn schon morgen das Schicksal zuschlagen und alles hinfällig machen könnte?

Kommen die bisherigen Ratschläge dann nicht Ermutigungen gleich, sich am Frühstücksbuffet auf der Titanic nochmal kräftig vollzuschlagen oder aber die Moral der Besatzung zu heben und sich um die benachteiligten Passagiere zu kümmern – während der nächste Eisberg im undurchdringlichen Nebel der Zukunft schon auf uns warten könnte?

Natürlich gibt es manche, die hier beschwichtigen. Braucht es denn wirklich einen tieferen Sinn oder ein höheres Ziel im Leben? Kann man sich nicht damit begnügen, einigermaßen anständig und hinreichend zufrieden durch seine Erdenzeit zu kommen? Das mag schon sein. Für viele Menschen (mich eingeschlossen) hängt aber die eigene Zufriedenheit wie auch die Bereitschaft und Kraft zu einem (hoffentlich mehr-als-nur-)«anständigen» Leben letztlich daran, sich in einem größeren Zusammenhang verorten zu können.

Der bekannte Medienwissenschaftler Neil Postman ist jedenfalls überzeugt: »Uns ist eine Art von Bewusstsein aufgebürdet, das darauf besteht, dass unsere Existenz einen Sinn hat« (Neil Postman: Die zweite Aufklärung. Vom 18. ins 21. Jahrhundert, Berlin 2001, 128).

Große Erzählungen

Es ist ja schon bezeichnend, dass jede Person, der ich die obige Anekdote mit der vergeblichen Mülltrennung erzählt habe, unmittelbar nachvollziehen konnte, dass es sich hier um eine zutiefst frustrierende, demoralisierende Erfahrung handelte.

Aber warum eigentlich? Ich hatte ja den Lohn für meine Arbeit wie abgemacht bekommen, und ich wurde auch im Vollzug der Aufgabe nicht schlecht behandelt. Die meiste Zeit war ich ohnehin alleine, und ich kann mich noch erinnern, dass ich beim Bücherentsorgen laut Musik gehört und mir sogar ab und zu die Freiheit genommen habe, ein Buch kurz anzulesen.

Trotzdem scheint klar zu sein, warum mir diese zwei Wochen in denkbar schlechter Erinnerung geblieben sind. Sie haben mein grundmenschliches Bedürfnis unterlaufen, mit meiner Zeit und Lebenskraft irgendeinen positiven Unterschied zu machen, zu irgendeinem höheren Ziel beizutragen – und wenn es nur die umweltfreundliche Trennung von Papier und Karton ist.

Neil Postman spricht in dem bereits zitierten Buch darum von der menschlichen Notwendigkeit, sich in einem umfassenden Narrativ wiederzufinden, Teil einer sinnstiftenden Großgeschichte zu werden. Der Zerbruch einer solchen kollektiven, gesellschaftsumgreifenden Erzählung ist in den letzten Jahrzehnten oft beschrieben und vielerorts beklagt worden.

Die jüdisch-christliche Rahmenerzählung des «Abendlandes», die gewissermaßen subkutan auch Menschen mitgetragen hat, die sich selbst nicht als ausdrücklich religiös oder christlich verstanden, ist im 21. Jahrhundert jedenfalls keine selbstverständliche Voraussetzung des Lebensvollzugs mehr.

Missbrauchsanfällige Narrative

Vielleicht ist es aber auch theologisch an der Zeit, sich von diesem wirkmächtigen Narrativ zu verabschieden. Zumindest in seiner starken Form, die sich mit dem reichlich unbescheidenen Anspruch verband, untrügliche Orientierung zu stiften und Menschen ihren Platz in dieser Welt zuzuweisen. Die Missbrauchsanfälligkeit solcher Geschichten liegt auf der Hand und ist auch historisch schwer abzustreiten.

Zu lange hat sich die Kirche unter Berufung auf die große Erzählung von Schöpfung und Erlösung, von Heiligung und Vollendung als universale Heilsbringerin und Moralanstalt inszeniert. Zu oft wurden nonkonforme Lebensentwürfe und die Bedürfnisse der Marginalisierten unter Verweis auf die «ewigen Schöpfungsordnungen Gottes» verurteilt.

Nein, eine solche Geschichte mag zwar Halt und Sicherheit für manche gestiftet haben, aber um den Preis der Verurteilung und Verunsicherung anderer. Es ist eine Erzählung, die nur aus einer den Geschöpfen ungebührlichen Gottesperspektive funktioniert – sie blickt von oben auf die Menschheit, auf einzelne Biographien und Schicksale drauf und meint sie in dieser Draufsicht einordnen und erklären zu können.

So sehr sich dieses Narrativ auch auf den großen Spannungsbogen der biblischen Überlieferungen zwischen Schöpfungsberichten (Genesis 1-2) und Vollendungsjubel (Offenbarung 21-22) berufen mag – sie vollzieht letztlich gerade nicht die Bewegung, die sich am Gott der Bibel ablesen lässt.

Verweigerte Draufsicht

Das ist ja das Bemerkenswerte, man wird auch sagen dürfen: das Einzigartige am christlichen Gotteszeugnis: Nicht nur, dass dieser Gott den Menschen schon in seiner Erschaffung zu seinem «Ebenbild», seinem Gegenüber erklärt, sondern dass er in Jesus Christus als Mensch mitten unter die Menschen kommt. Dass er auf Augenhöhe geht gerade mit den Zerschlagenen, Missverstandenen, Vergessenen seiner Zeit. Dass er sich auf einzelne Menschen und ihre Schicksale einlässt, mit ihnen sein Leben teilt und unmissverständlich klar macht:

Diesem Gott geht es nicht um den erhabenen Draufblick auf die Geschichte, nicht um eine distanzierte Gesamtschau, in die sich jedes Menschenleben säuberlich eingliedern ließe – diesem Gott geht es um die Begegnung mit dem Menschen mitten in den Komplexitäten und Unvorhersehbarkeiten seines Lebens.

So ist auch das Sinn-Versprechen des christlichen Glaubens kein «starkes» Versprechen. Der Glaube liefert keine stimmige Erklärung für jede schmerzhafte, leidvolle Erfahrung unseres Lebens. Er macht uns keine Zusage, dass sich auch die sinnlosesten und unabsehbarsten Ereignisse in einen wunderbaren Plan einfügen, «wie selbst dunkle Fäden von einem Meisterweber in ein herrliches Gewand verarbeitet werden» (oder welche Metaphorik man hier auch bemühen will)… nein.

Das Sinn-Versprechen des Glaubens ist viel «schwächer», gerade damit aber auch realistischer und glaubwürdiger.

Bewährte Hoffnung

Es lässt sich ablesen am fulminanten Lobpreis am Ende des 8. Kapitels im Römerbrief. Bekannt ist daraus besonders die Formulierung geworden, dass uns nichts von der Liebe Gottes trennen kann, die uns in Jesus Christus geschenkt wurde. Unmittelbar davor wird Paulus allerdings schmerzhaft realistisch, wenn er eine ganze Reihe von Entbehrungen und Leiderfahrungen aufzählt, die uns das Leben zumuten kann: «Not? Angst? Verfolgung? Hunger? Entbehrungen? Lebensgefahr? Das Schwert des Henkers?» (Röm 8,35).

Der Zusammenhang macht klar: Der Apostel geht selbstverständlich davon aus, dass auch den Getreuen Gottes all das zustoßen kann. (Die Neue Genfer Übersetzung fügt der obigen Aufzählung darum nicht ganz textgetreu, aber durchaus im Geiste des Briefschreibers bei: «Mit all dem müssen wir rechnen»).

Wir haben das Leben nicht im Griff.

Auch mit Gott nicht. Das Leben wird durch den Glauben nicht vorhersehbarer, nicht sicherer. Überhaupt besteht der christliche Glaube nicht in der Garantie, dass uns bestimmte Dinge nicht passieren werden, wohl aber darin, dass uns nichts die Liebe und Zuwendung Gottes streitig machen kann.

Diese Gewissheit lässt die Unberechenbarkeit des Lebens auch und gerade im Namen Gottes bestehen. Sie verschafft uns keine Vogelperspektive auf unser Leben – aber sie stiftet auf ihre Weise durchaus Sinn.

Denn kein «schwarzer Schwan», kein Einbruch des Schicksals kann in dieser Sicht das letzte Wort haben. Und natürlich auch keine vergebliche Müllentsorgungsaktion …

Alle Beiträge zu «Unberechenbarkeiten»

4 Kommentare zu „Den Horizont überschreiten“

  1. Die „Sinn-Suche“ist das eine, die „Sinn-Findung“ ist das andere.

    Ich bin nur ein 81-jähriger Sofa-Sitzer, habe aber vermutlich genau deswegen Spaß an solchen sprachlichen Spielereien. Vor 30 Jahren übte ich noch sehr optimistisch sinnvolle Weltverbesserung, wie herauszulesen ist am Lobgesang für Kompost :

    Kompost-Welt-Hymne

    Kompost, Kompost über alles, über alles in der Welt,
    danach last uns alle streben, etwas mehr als nur nach Geld,
    Kompost ist des Lebens Wiege, Kompost macht uns allen klar,
    wie das Leben ward gegeben dem Kloß, der alsbald der Adam war.
    (1 Mose 2,9)

    Kompost einigt alle Völker, alle Völker einigt euch!
    Denn der Kompost ist Vermächtnis, Auftrag, Zweck und Ziel zugleich.
    Kompost einigt alle Menschen, Kompost macht uns alle gleich,
    denn wir werden, wenn wir sterben, schließlich alle kompostweich.

    Brüder, Schwestern, lasst uns wirken schon zu unsrer Lebenszeit,
    Kompost macht die Wüsten kleiner, füllt sie auf mit Fruchtbarkeit,
    Berge werden abgetragen, Meere werden umverteilt,
    diese Zukunft nur ist Zukunft, sonst uns schnell der Tod ereilt.

    J. Friedrich

    …und sogar ungereimt :

    Kompostologie – moralisch und evolutionstheoretisch not-wendig
    Jürgen Friedrich, 4.1.1991

    (Das war ein Vortrag im Rahmen eines Seminars mit dem Titel „Verantwortung der Wissenschaft“ an der UNI Hamburg, als ich dort ½ Jahr lang Gasthörer war. – Ich wollte herausfinden, wie „Studieren an der Uni“ geht.)

    Gesagt ist nicht gehört
    Gehört ist nicht verstanden
    Verstanden ist nicht einverstanden
    Einverstanden ist nicht behalten
    Behalten ist nicht angewandt
    Angewandt ist nicht beibehalten

    . . . . spiegelt den Vorgang des Lernens,
    auch an einer Universität.

    Eine neue Gesamtauffassung des Lernprozesses lautet: Die Vorgänge der Anpassung des Menschen an seine Umwelt und die ständige Wechselwirkung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Das bezeichnet in einem biologischen Sinn „das Leben“ schlechthin. Insofern es sich hier tatsächlich um durch Rückkopplung gesteuertes Lernen handelt, besteht das Leben aus einer kontinuierlichen Kette von Lernakten. Anfänglich undifferenzierte und unkontrollierte Lebensäußerungen wandeln sich kraft solcher Lernprozesse mehr und mehr in zielgerichtete, den jeweiligen Umweltbedingungen und subjektiven Bedürfnissen angepasste Verhaltensformen.

    Damit signalisiert die Fähigkeit zu lernen die sozial-kulturelle Kompetenz des Menschen. Lernen ist ein Prozess der Verhaltensänderung – auch dann, wenn es sich lediglich um Wissenserwerb handelt.

    Wissen und Wissenschaft einerseits – Verhaltensänderung und Evolution andererseits. Das „Prinzip Rückkopplung“ funktionierte bereits, bevor der Mensch die Weltbühne betrat. Jetzt aber, da kybernetisches Denken unseren Blick von vornherein auf Zusammenhänge lenkt, kann er bewusst sein Wissen einbringen und unter Wahrung und ständiger Kontrolle des Prinzips Rückkopplung aktiven Schub entwickeln.

    Meine These :
    KOMPOST KOMPENSIERT KONSUM (KKK) – Warum?

    Nun, Kompost zielt in die gleiche Richtung wie die uns bekannte Evolution, nämlich zur Verlebendigung von ursprünglich toter Materie. Konsum hingegen zielt in die entgegengesetzte Richtung.

    Da aber der Mensch als biologisches Wesen heterotroph ist (d. h. er kann sich nicht aus sich selbst ernähren), ist er ein Konsument. Nicht aus eigenem Wollen heraus, sondern von der Evolution so gewollt!?!
    – Nochmals: W a r u m ?

    Damit der Ober-Konsument Mensch – aus unausrottbarer Freude am Konsumieren! – es als moralische Not-Wendigkeit begreift, die Evolution mit großtechnisch erzeugten Riesenmengen Kompost vorwärts zu tragen. Und damit seinen Konsum zu überholen….

  2. Lieber Manuel
    Die Geschichte Deines Studentjobs ist sehr filmisch. Brilliante Einführung ins Thema! Sehr komisch, wirklich. Bei vielem sage ich als Leser: Check! Wir haben das Leben nicht im Griff — check! Auch Gläubigen stösst Leid zu — check! Klar!
    Doch dann…
    Mich interessiert an diesem spannenden (aber auch schillernden) Text der Bruch, der sich hindurchzieht, also Dein theologischer Abschied. Mich interessiert, wogegen Du polemisierst, wovon Du Dein neues Konzept einer christlichen Sinnstiftung abzugrenzen wünschst, jene alte «christlich-jüdische Rahmenerzählung», wie Du es nennst. Mich interessiert, warum Du das tust. Du schreibst: «Die Missbrauchsanfälligkeit solcher Geschichten liegt auf der Hand» – aber was, wenn sie für mich nicht auf der Hand liegt? Du deutest nur an, Menschen seien davon verurteilt und verunsichert worden. Verunsicherung ist aber nicht immer schlecht. Es gibt ja auch falsche Sicherheit. Veurteilung ist sicher ein Übel, wo sie vorkommt seitens uns Christen, häufig liegt sie aber auch im Auge des Betrachters. Aber das alles vernebelt die Tatsache, dass man sich die Überlieferung ja nicht selbst gegeben hat. Die Wahrheit des Selbstanspruches Jesu Christi wird ja gar nicht durch die Christen beglaubigt.

    Ich versuche zu fassen, was Deine Motivation ist und kann es doch nicht ganz fassen. (Klar, ich weiss, es hat vermutlich mit dem Offenen Theismus zu tun, siehe Boyd im ersten Text der Serie. Nur wüsste ich momentan nicht, woher die Zeit nehmen, um Deine Dissertation zu lesen.) Glaubst Du wirklich, man kann Röm 8 in Stellung bringen gegen die Leidbewältigung des traditionellen christlichen Narrativs, von welchem die christliche Frömmigkeit (aller Konfessionen) der Jahrhunderte zeugt («Du meine Seele singe, wohlauf und singe schön dem, welchem alle Dinge zu Dienst und Willen stehn.»)? Paulus schreibt ja gerade in diesem Kapitel: «Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind» (Röm 8, 28). Das tönt doch sehr nach dem traditionellen Narrativ, das Du kritisierst. Glaubst Du im Ernst, man kann die These aufstellen, der historische Paulus habe nicht an das Narrativ «Schöpfung, Sündenfall, Wiederherstellung» geglaubt? Kommt es uns nicht genau in Röm 8 entgegen? Die Gläubigen können nicht getrennt werden von der Liebe Christi wegen der Zukunft, die sie erwartet.

    Ich verstehe, Du hast ein Problem mit «ewigen Schöpfungsordnungen». Ich dachte immer, die Schöpfungsordnungen (Ehe, Staat) zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie nicht ewig, sondern vorläufig seien. In der Auferstehung wird nicht mehr geheiratet werden (vgl. Mt 22, 30). «The first things have passed away», wie Offb 21, 4 unübertreffbar in der englischen Übersetzung lautet.

    Das christliche Narrativ, das den Menschen den Platz gab zwischen Gen 1 und Offb 22 sei im Abendland nicht mehr gesellschaftsumgreifend. Check! Und man könnte auch sagen: So what?
    Ist es deshalb nicht mehr wahr, weil die Mehrheit es nicht mehr teilt? Und ist das nicht ein eurozentrischer Blick?
    Was ist mit dem evangelikalen Christen in China, dem gerade dieser Glaube hilft inmitten einer Gesellschaft, die niemals von einem christlichen Narrativ getragen wurde, einer Gesellschaft mit viel mehr (und wohl zunehmender) existentieller Unsicherheit?
    Und was ist mit der koptischen Kirche, welche an dem heilsgeschichtlichen Narrativ festhält inmitten einer Kultur, die seit mehr als Tausend Jahren von einer anderen Religion dominiert wird?

    Ich habe das Gefühl, dass sich sich alles verdichtet, wo Du Jesus ins Spiel bringst. Hier scheinst Du mir am nächsten einer Begründung zu kommen. Gerade darum ist hier der kritische Punkt. Vielleicht ist hier auch das schlagende Herz Deiner geistlichen Vision.
    Ich anerkenne, dass Du dich zur Inkarnation bekennst. Du schreibst einerseits sehr schöne Dinge über Jesus, die auch mein Herz erfreuen. Auch Petrus spricht im Haus des heidnischen Kornelius von dem Christus, der «umherging und wohltat» (Apg 10, 38; ELB).
    Problematisch wird es da aus meiner Sicht, wo man das zum Zentrum der Christologie macht – anstelle dessen, was gleich danach folgt in der apostolischen Verkündigung: Die Verkündigung des (gottgewollten!) Leidens Jesu, seines Todes und seiner Auferstehung, seiner Erhöhung, seiner Wiederkunft – das Muster, aus dem später das Apostolikum entstand. Auch hier: Man kann den Jesus der Evangelien nur verstehen vor dem Hintergrund genau jenes Narrativ «Schöpfung, Fall und Wiederherstellung», das Du kritisierst.
    Wenn Du Jesus ins Spiel bringst gegen die Gottesperspektive («Draufsicht»), dann meinst ja wohl nicht den Jesus, der dreimal sein Leiden und seine Auferstehung, den Judasverrat und sein Kommen als Menschensohn auf den Wolken vorhersagte, der von der Perspektive der Königsherrschaft und Allmacht Gottes gerade in seinem Leiden durchdrungen war.
    Suchst Du dann also nicht von neuem den «historischen Jesus» nach dem Muster der Aufklärung? Und muss sich dann nicht von neuem die Theorie Albert Schweitzers bestätigen – oder hat sie sich bereits bestätigt?

    Herzliche Grüsse,
    Lukas Zünd

    1. Lieber Lukas, vielen Dank für deine engagierte Antwort und deine Rückfragen – entschuldige dass ich dir jetzt erst Rückmeldung gebe, ich bin erst vor kurzem aus den Ferien zurück.
      Du hast völlig recht: Es ist ein schillernder Text mit Brüchen geworden – ich habe beim Schreiben irgendwann gedacht, dass ich eigentlich ganz neu ansetzen müsste, weil sich meine Denkrichtung im Prozess verändert hat. Das scheinst du herausgespürt zu haben:
      Ich wollte mich zuerst auf die These einlassen, dass wir als sinnsuchende Wesen irgendein grosses Narrativ brauchen, das uns unseren Platz in diesem Universum zuweist. Und es ist wohl ziemlich unbestritten, dass die christlich-abendländische Kultur uns über lange Zeit hinweg ein solches Narrativ angeboten hat.
      Inzwischen leben wir in einer ganz anderen, massiv pluralisierten Situation. Die Geschichten haben sich vervielfältigt, das biblisch-christliche Narrativ ist nicht nur eines unter zahlreichen anderen Narrativen geworden, es hat sich auch selbst weiter ausdifferenziert in ganz viele unterschiedliche »takes« dessen, was ein christliches Weltbild eigentlich auszeichnet.
      Man kann diese Situation als Bedrohung wahrnehmen, und sie schafft ja auch tatsächlich eine Menge Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Sie ist aber zugleich eine Chance, neu nach dem zu fragen, was den christlichen Glauben zutiefst auszeichnet und worin seine »Orientierungsleistung« wirklich liegt.
      Und da liegt eben der shift, der sich meinem eigenen Denken immer mehr aufdrängt: Ich glaube nicht, dass es die Leistung des Glaubens ist, uns aus den Bedingtheiten und Unberechenbarkeiten unseres Lebens geistig gewissermassen herauszuziehen und uns in der Draufsicht auf einen grossen Plan Hoffnung zu geben – ich glaube, dass es genau andersherum verläuft: Dass der Gott, der uns in der Bibel begegnet, mitten in die Bedingtheiten und Unberechenbarkeiten unseres Lebens eintritt, auch die Sinnlosigkeiten und Ungerechtigkeiten des Lebens (am eigenen Leibe) erträgt. Die Hoffnung liegt m.E. nicht darin, dass alles irgendwann »Sinn« machen wird, sondern dass auch die Sinnlosigkeit unseres Lebens von der Gegenwart Gottes durchdrungen oder getragen ist.
      Du sprichst Römer 8,28 an: An diese Stelle habe ich beim Schreiben natürlich auch gedacht. Und ich lese sie genau so: Nicht, dass alles Leidvolle und Böse in unserem Leben zuletzt doch noch einer göttlichen Vorsehung und Willen folgt, sondern dass der Gott, der in Jesus Christus in unser Leben eintritt, imstande ist, auch der grössten Not unseres Lebens noch etwas Gutes abzuringen. Das macht die Not nicht gottgewollt oder gottgeplant, aber das gibt uns die begründete Hoffnung, dass auch das, was in unserem Leben zerbricht, nicht das letzte Wort haben muss.

  3. Stufen

    Hermann Hesse

    Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
    dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
    blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
    zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

    Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
    bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
    um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
    in andre, neue Bindungen zu geben.

    Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
    der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

    Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
    an keinem wie an einer Heimat hängen,
    der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
    er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.

    Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
    und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
    nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
    mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

    Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
    uns neuen Räumen jung entgegensenden,
    des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
    Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

    Audio:
    https://www.deutschelyrik.de/stufen.html

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