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Alte weise Männer

«Bellizistische Männlichkeit», so lautete der Titel eines vor einem Jahr, am 23. Februar 2022, bei RefLab veröffentlichten Blogbeitrags. Ich setzte mich darin mit der schaurigen Kriegsrede des russischen Präsidenten und Kriegsherrn Wladimir Putin auseinander. Dieser zeichnete die Ukraine als enge Verwandte, die von ausländischen Mächten «benutzt» werde und/oder untreu sei. Im Subtext lief mit: Sie habe Strafe verdient.

Bellizistische Männlichkeit

Tags darauf rollten russische Panzer in der Ukraine ein und bereits am frühen Morgen kam es zu ersten Explosionen in der Hauptstadt Kiew. Selbst Aktivist:innen vor Ort waren komplett überrascht. In meinem Blogbeitrag am Vorabend der Invasion hatte ich notiert:

«Man spricht seit einigen Jahren viel von toxischer Männlichkeit. Im russisch-ukrainischen Streit aber geht es um Krieg und Frieden und man muss wohl von bellizistischer Männlichkeit reden.»

Ein Jahr später finden wir die Welt, unsere lange geschonte europäische Welt, so sehr verändert vor, dass wir sie kaum wiedererkennen. Der Krieg affiziert nicht nur die Politik und Ökonomie, sondern auch das Denken.

Was eben noch Konsens war, scheint nicht mehr zu gelten. Was noch vor einem Jahr undenkbar schien, wird inzwischen lauthals gefordert. Und Durchblick wird gerade dort vorgetäuscht, wo die Nebel des Kriegs besonders dicht sind.

Als überwiegend in den Frieden Hineingeborene – wie viele auch jüngere Menschen mit schweren Kriegsschickalen mitten unter uns leben, vergessen wir manchmal – bemerken wir jetzt unsere Ratlosigkeit.

Alte Menschen fragen

Vertreter der Generation, die als Kinder und Jugendliche Zeuginnen und Zeugen des Zweiten Weltkriegs geworden sind, sind heute 85 Jahre und älter. Ein Onkel erzählte mir vor kurzem am Telefon, wie sehr Bunker Teil seiner Kindheit waren. Die aktuellen Kriegshandlungen auf ukrainischem Boden triggern bei ihm alte Erinnerungen.

Ein Angriff hat sich ihm besonders eingebrannt. Die Erwachsenen waren völlig zerstört und betroffen. Die Druckwellen von Detonationen waren diesmal so stark gewesen, dass sie überzeugt waren, ihre Kleinstadt liege am Boden.

Als die Menschen sich nach einigen Stunden aus den Bunkern wagten, war alles heil und es schien die Sonne. Nicht Burg, sondern das nahegelegene Magdeburg war in Schutt und Asche gelegt worden.

Die Explosionen und Zerstörungen in Magdeburg aber waren so enorm, dass die Bürger von Burg dachten, die Bomben seien direkt über ihren Köpfen explodiert.

Plädoyer für Verhandlungen

Der 93-jährige Philosoph Jürgen Habermas hat noch einmal seine Kraft zusammengenommen, um über Friedenslichtblicke nachzudenken: in seinem viel beachteten und von vielen dankbar aufgenommenen, aber von anderen leidenschaftlich kritisierten Beitrag in der «Süddeutschen Zeitung». In «Ein Plädoyer für Verhandlungen» verweist Habermas auf das Problem von zwei vagen und konkurrierenden sprachlichen Formulierungen des Kriegsziels:

Ist es das Ziel westlicher Waffenlieferungen, dass die Ukraine den Krieg «nicht verlieren» darf, oder zielen diese nicht vielmehr auf einen «Sieg» über Russland?

Im ersten Fall werde eine Freund-Feind-Perspektive infrage gestellt und der Weg zu Verhandlungen erleichtert. Im zweiten Fall dagegen werde eine bellizistische Lösung auch im 21. Jahrhundert als alternativlos aufgefasst, ja als «natürlich».

«Gerade weil der Konflikt ein umfassenderes Interessengeflecht berührt, ist nicht von vornherein auszuschließen, dass auch für die einstweilen einander diametral entgegengesetzten Forderungen ein für beide Seiten gesichtswahrender Kompromiss gefunden werden könnte», so schliesst Habermas seine Überlegungen.

Verhärtete Orthodoxien gibt es überall

Bereits nach 9/11 hatte der Philosoph für Sprachfähigkeit jenseits der «stummen Gewalt» von Terror und Raketen geworben, und daran erinnert, dass es «verhärtete Orthodoxien im Westen ebenso wie im nahen und im fernen Osten, unter Christen und Juden ebenso wie unter Moslems» gibt.

Wäre man ihm gefolgt, wäre man damals nicht den Weg einer Polarisierung gegangen, die zum verhängnisvollen «Krieg gegen den Terror» führte. Der Welt wären die schrecklichen Folgen erspart geblieben, die die des Auslösers (9/11) um ein Vielfaches überstiegen.

Habermas‘ Generationsgenosse, der 94-jährige amerikanische Linguist Noam Chomsky, ist eine wichtige amerikakritische Stimme seit der Zeit des Vietnam-Kriegs und Gallionsfigur der Linken.

Eine gefährliche Illusion

Laut Chomsky, dessen Vater ein aus der Ukraine in die USA eingewanderter Jude war, gibt es nur eine plausible Alternative zu einem jahrelangen Krieg: Ein «hässlicher» Deal mit Putin mit Autonomie- und Minderheitenrechten für die Ostgebiete und eine internationale Anerkennung der Krim als russisches Territorium.

Dies zu akzeptieren und dadurch eine völkerrechtswidrige Annexion im Nachgang zu legalisieren, wäre zwar bitter. Doch die Hoffnung, es gäbe eine bessere Lösung für die Ukraine, ist nach Meinung Chomskys eine gefährliche Illusion.

Der deutsche Filmemacher, Publizist und Philosoph Alexander Kluge glaubt nicht daran, dass Panzer Kriege beenden werden.

«Jeder Krieg endet nur, wenn er vergessen wird. Wenn eine attraktivere Wirklichkeit ihn überholt.»

Dies sagte er kürzlich in einem beeindruckenden Gespräch in der «Zeit» mit dem Titel «Vorstellungen von Glück sind ansteckend». Nur ein völlig neues Denken könne einen Notausgang weisen.

«Krieg hört nicht auf Argumente. Der Krieg hat keine Vorgesetzten. Weder beherrscht Putin ihn, noch gehorcht er einer Grossmacht wie den USA. Wie dieser gefährliche Krieg endet, weiss ich nicht. Umso mehr treibt mich die Frage um: Was machen wir nach dem Krieg», sagt der 91-Jährige.

«Vorstellungen von Glück sind ansteckend.»

Es sei gewiss eine kontrafaktische Vorstellung, dass Russland und die Ukraine und der Westen gemeinsam Mariupol wieder aufbauen. Nichts sei weiter von der Realität entfernt als ein solches Bild.

«Und doch gehört so etwas zum Aufribbeln der Verknäuelung. Damit Mariupol wieder aufgebaut wird, muss aber auch in Russland etwas aufbaubar sein. Damit die Ukraine einen befriedigenden Sonderstatus in der EU erhält, müssen auch Interessen Russlands erfüllbar werden», meint Kluge.

Menschen, die die Ausläufer des Zweiten Weltkriegs noch erlitten haben, erleben sicherlich Déjà-vus. Wir sind heute gewohnt, in der technisch versierten Jugend, den «Digital Natives», und nicht in den Alten Expertise zu vermuten, die zählt. Noch nie in meiner bisherigen Lebensspanne hatte ich so sehr das Gefühl wie jetzt, dass wir die alten Menschen um Rat bitten müssen.

 

Foto: Zerstörtes ukrainisches Wohnhaus, Yevhen Sukhenko, pexels

2 Kommentare zu „Alte weise Männer“

  1. Hallo und danke für den nachdenkenswerten Artikel!
    Sie beziehen sich ja bei den „alten weisen Männern“ auf solche, die die „Ausläufer des zweiten Weltkriegs“ bewusst miterlebt haben, also vor allem auf diejenigen, die die Konsequenzen des Ausbruchs erfahren und wohl für immer verinnerlicht haben.
    Ratsamer wäre es mMn. nach aber auf solche zu hören, die vor allem auch miterlebt haben, wie in das Unheil hineingelaufen wurde. Nun ist dies natürlich so nicht mehr möglich, aber vielleicht hätten diese ebenso weisen Männer an die gescheiterte Appeasement-Politik erinnert, die dem zweiten Weltkrieg den Weg geebnet hat und in welches Horn die im Artikel erwähnten Denker auch zu blasen scheinen.
    Hier ein recht guter Artikel des DLF dazu (übrigens von 2021): https://www.deutschlandfunkkultur.de/appeasement-politik-wie-hoch-darf-der-preis-fuer-den-100.html

    Dieser Ansatz und die Richtung Ihres Artikels scheinen mir aller Ehren Wert, ja, sogar sympathisch. Allein, ich denke, dass der einzige Grund, weswegen auch ein Jahr später Kiew nicht besetzt und die nordosteuropäischen Staaten nicht attackiert worden sind einzig und allein an der überraschenden Schwäche der russischen Armee und der konsequenten militärischen Hilfe des Westens liegt. Gar nicht auszudenken, hätte die russischen Armee die relative Schlagkraft einer damaligen Wehrmacht…
    LG

  2. Im Fall Hitlers erwies sich Appeasement tatsächlich als fatal. Der Unterschied zu heute ist: Hitler verfügte nicht über Atombewaffnung.

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