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 Lesedauer: 6 Minuten

Woke ist kein Accessoire

Was als «normal» gilt

Machtstrukturen sind in Sprache eingeschrieben. Wenn das generische Maskulin als «neutral» verstanden wird, sagt das viel darüber aus, wer und was als «normal» definiert wird. Dass «schwul» oder «behindert» als Beleidigungen verwendet werden können, zeugt von keinem entspannten Verhältnis zu Menschen, die sich als queer verstehen oder als körperlich und/oder mental beeinträchtigt gelten. Dass Ehe und Familie als «normal» gelten, schliesst eine grosse Gruppe von Menschen aus, deren Lebensentwurf sich willentlich oder unwillentlich nicht nach diesem Modell gestaltete.

Es ist keine bewusste Diskriminierung, jedenfalls nicht an vielen Stellen, es ist eher ein fehlendes Bewusstsein dafür, dass sehr viel mehr als «normal» gelten kann, als man für möglich hält.

Das bequeme Floss der «Normalität»

Wer sich innerhalb dieser Normen bewegt, merkt oft nicht, dass sogenannte Normalitätsgrenzen existieren: Menschen ernten keinen Widerstand, keine fragenden Blicke, weil Vieles so verläuft, wie es von einer Mehrheit der Gesellschaft praktiziert wird. Aber nur weil viele etwas machen, heisst es nicht, dass es für alle so gelten muss.

Nur weil eine Mehrheit in der Realität vorherrscht, ist die Mehrheit nicht automatisch im Recht.

Wer aus dem Raster der Normalität fällt, bekommt das zu spüren: So sind mit Scheidungen Schuldzuweisungen verbunden, sich nicht genug Mühe gegeben zu haben. Wer nicht heterosexuell empfindet, wird verdächtigt, unverarbeitete Traumata oder Identitätsstörungen auszuleben. Wer sich für ein Leben ohne Kinder entscheidet oder damit leben muss, gilt als Misanthrop:in oder Menschenfeind.

Wokeness als Normalitätskritik

Menschen, die nicht mehr zu traditionellen Normen passen, oder dem, was als «normal» gilt, haben begonnen, sich wirkmächtig dagegen zu wehren. Sie sind es leid, als «falsch», «abnormal» oder «geschädigt» angesehen, abgewertet zu werden für ihre Existenz oder ihre Lebensentwürfe. Sie wollen niemandem etwas Böses, sie wünschen sich Wahrnehmung, Wertschätzung und Raum – nicht statt, sondern neben dem anderen Menschen, die schon da sind. Ein Wort, das dabei mehr trendet als jedes andere, ist «woke», Englisch für «erwacht».

Wer erwacht ist, hat ein Bewusstsein für die diskriminierend wirkenden Vorstellungen unserer Gesellschaft entwickelt, die bestimmen, wer und wessen Lebensentwurf als erfolgreich und fast noch wichtiger, als richtig ausgelegt werden. Diese Entwicklung ist – sicher aus sozialwissenschaftlicher Sicht – sehr begrüssenswert. Menschliche Vielfalt, die «Diversity» wertzuschätzen, ist grossartig. Anzuerkennen, dass es mehr als nur einen Weg gibt, das Leben zu leben, dürfte vielen Menschen Luft zum Atmen verschaffen. Auch mit sozial devianten Menschen ist alles in Ordnung. Puh!

Wokeness polarisiert

Der Begriff «Wokeness» hat jedoch auch dazu geführt, dass sich Menschen – einmal mehr – an verschiedenen Positionen zu sammeln scheinen: Es gibt krasse Befürworter:innen und krasse Gegner:innen, um hier etwas schemenhaft-übertreibend zu argumentieren. Ein Pol der Gesellschaft wähnt sich direkt und persönlich angegriffen von diesen Entwicklungen, hat Angst davor, den Kuchen teilen zu müssen. Für sie fühlt es sich an, als wäre das, was sie gelebt hätten, falsch. Dabei ist es keine Kritik an traditionellen Lebensentwürfen oder ein Vorwurf, bitte keine vier Kinder zu haben. Es ist vielmehr eine Kritik am Umgang mit Menschen, die nicht diesen Weg wählen können oder wollen.

Am anderen Pol wird alles, was nicht woke genug ist, dämonisiert.

Wer Geschlecht nicht als soziales Konstrukt versteht, wird sofort als Boomer abgetan. Wer Fleisch isst, egal welcher Provenienz, gilt als ethisch-moralisch skrupellos. Wer konservativ wählt, gilt automatisch als unreflektierte:r Hinterwäldler:in.

Wokeness existiert überall

Allerdings ist das Anliegen, eine Vielfalt von Menschen wertzuschätzen, nicht zwingend an sprachliche Wokeness gebunden. Postmoderne, gender- und intersektionalitätsbewusste Menschen mag das überraschen. Aber auch im Après-Ski, am Stammtisch und in Freikirchen finden sich Menschen, die sprachlich zwar nicht woke reden, aber die Anliegen dahinter zutiefst teilen oder verstehen möchten. Ihnen wird aufgrund von Sprache und einer Hermeneutik des Verdachts unterstellt, Unmenschen zu sein. Wer nicht ganz genau so denkt und spricht, wie Wokeness es verlangt, wird abgewertet. Woke wird so zum ausschliessenden Begriff. Wer nicht woke ist, ist ein Ar***.

Damit operiert der Begriff mit ebenso ausgrenzenden Mechanismen, die selbst bekämpft werden wollen.

Widersprüche tolerieren

All das macht Wokeness nicht falsch. Es ist richtig und wichtig, dass Menschen sich wehren. Aber es ist auch eine Dämonisierungskultur dabei, die kritisch wirkt. Wokeness kann so zum Erleuchtungsbegriff für eine Minderheit werden. Sowohl als auch werden undenkbar. Ambivalenzen innerhalb von Menschen, von Individuen oder wie der Kunsthistoriker Jörg Scheller das lateinische Original dekonstruiert, eines In-Dividuums, also einer «In sich geteilten Einheit», ist nicht erwünscht.

Dabei sind diese Ambivalenzen zutiefst menschlich.

Niemand ist widerspruchsfrei. Kann es nicht sein, dass Menschen gerne saftige Rindersteaks essen und den Klimawandel ernst nehmen? Dass sie Mitglied der Juso sind, aber eine tiefe Freund:innenschaft zu jemandem haben, der/die in einem Verwaltungsrat eines Grosskonzerns sitzt? Dass jemand Mühe hat mit Gendern, aber Menschen trotzdem differenziert wahrnehmen will? Hier scheint die Geduld zu fehlen, dass manche Entwicklungen Zeit brauchen, oder dass die Wertschätzung aller Menschen nicht im Gewand von Wokeness daherkommt.

Wenn Wokeness unehrlich wird

Dabei gibt es eine dritte Position, die gefährlicher als die beiden Extreme ist: Wenn Wokeness zum reinen äusseren Accessoire verkommt. Personen und Unternehmen erscheinen modern, differenziert, schreiben sich Diversität auf die Fahne und geben sich als «woke». Das tun sie aber nicht, weil es ihrer persönlichen Überzeugung entspricht. Sondern aus Berechnung, sei es aus ökonomischen Gründen oder weil sie merken, dass das, was sie denken, nicht mehr gut ankommt und sie nicht abgestempelt werden wollen. Das erkennt man sehr schnell daran, wie sich solche Menschen in sozialen Kontexten verhalten und wie sie reden, wenn niemand dabei ist. Das ist tragisch: Wokeness darf nicht zum Massstab werden, mit dem die charakterliche Integrität einer Person gemessen wird.

«Woke» ist nicht einfach ein Accessoire und schon gar keine Performance. Nicht alle haben dieselbe Feinfühligkeit für Sprache. Aber das macht jemanden nicht sofort zum asozialen Ar***.

Wokeness ist letztlich nichts anderes als die Fähigkeit, sich in die Lebensrealität anderer Menschen einzudenken und einzufühlen.

Es ist die Bereitschaft, in Dialog zu treten, sich hinterfragen zu lassen. Wokeness ist eine Herzenshaltung. Der Begriff mag neu sein und Vieles von dem, was angesprochen wird, sprengt traditionelle Vorstellungen. Das Konzept dahinter ist jedoch alt. Lassen wir uns nicht davon abhalten, dass es ein neues Wort gibt, um das zu praktizieren, was auch (aber längst nicht nur) christliche Nächstenliebe oder mit Jan Böhmermanns Vorschlag «Warmherzigkeit» genannt werden kann. Setzen wir uns für diejenigen Menschen einzusetzen, die gesellschaftlich bislang kaum oder viel zu wenig mitgedacht wurden.

 

Photo by Jon Tyson on Unsplash

3 Kommentare zu „Woke ist kein Accessoire“

  1. Johann Hinrich Claussen

    Über diesen Text habe ich mich sehr gefreut, auch weil ich mich gerade ein bisschen mit diesem Wort und seine Geschichte beschäftigt habe. Dabei bin ich aus frömmigkeitsgeschichtliche Assoziationen zu „erweckt“ und „awakened“ gekommen. Aber vielleicht ist das ein Irrweg.
    Unklar ist mir geblieben, inwieweit „woke“ eine (positive) Selbstbezeichnung oder eine (negative) Fremdbezeichnung ist. Wer nennt sich selbst „woke“? ich habe länger gebraucht, um ein dezidiert „wokes“ Medium zu finden und bin dann auf das „Missy Magazin“ gestoßen.
    An Fabiennes Text haben mir die Gesprächsbereitschaft und Unverbiestertheit gefallen!

  2. Ich habe mit der Bezeichnung woke große Schwierigkeiten. Denn der Begriff birgt ausgehend von seiner Bedeutung die Gefahr von Arroganz, Ideologie-& Lagerbildung. Hier die Erwachten, dort die träge, schlafende, blinde… Masse.
    Das erinnert mich an Diskussionen mit verschwörungsgläubigen neurechten Christen, die sich selbst für die Erwachten halten, die nun klar sehen, im Gegensatz zu der stumpfsinnigen Masse der Schlafschafe…
    Also für mein Empfinden wurde er entweder wirklich ungeschickt (und gerade nicht sprachsensibel) gewählt oder er drückt eine Haltung aus, die gerade nicht sensibel, inkludierend und gleichheitsfördernd ist…🤷🏼‍♀️

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