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 Lesedauer: 8 Minuten

Ambivalente Sirenen: Bringen Demos überhaupt was?

Frühling 2019: Es ist das Jahr vor Corona. In Zürich wird so häufig wie noch selten demonstriert – jedenfalls in meiner Wahrnehmung. Manchmal spontan, manchmal geplant, nehme ich am Klimastreik, an der Critical Mass (einer Velo-Demo) und am Frauenstreik teil.

Es ist ein Jahr, das mich politisch beflügelt und mir zeigt, dass viele Menschen ähnliche politische Ansichten teilen.

Von beflügelt zu verwirrt

Fast forward vier Jahre, anfangs 2023: Meine Gefühle sind gemischt, als ich höre, dass es wieder einen grossen feministischen Streiktag geben soll. Denn diejenigen Menschen, die 2019 nicht verstanden, weshalb ich auf die Strasse ging, verstehen noch heute nicht, weshalb ich das wichtig finde.

Ich spüre eine Mischung aus Traurigkeit und Verwirrung: Klima, Feminismus und sichere Fahrradwege sind doch Themen, die uns als ganze Gesellschaft beschäftigen sollten, nicht nur Menschen, die als «links» gelten.

Ausserdem haben sich die Demos in den letzten Jahren in Zürich sehr verändert. 2019 traf ich noch eine Durchmischung von Altersgruppen und Gesellschaftsschichten an. 2021 und 2022 waren an Demos vermehrt jüngere, akademische und sozialistisch denkende Menschen.

Ambivalente Sirenen

Eigentlich war ich mal der Meinung, dass Demos wichtig sind. Sie schaffen Sichtbarkeit für Probleme. Dadurch nimmt ein breiter Teil der Bevölkerung überhaupt wahr, dass Menschen in entscheidenden, alltäglichen Bereichen ihres Lebens mit schmerzhaften Hürden konfrontiert sind.

Gleichzeitig führt die Tatsache, dass es in den letzten Jahren sehr viele solcher Demonstrationen gab, die häufig dieselben Schlagworte verwendeten, zu einem Problem:

Wenn jede Woche eine Sirene läutet, die ganz dringend Aufmerksamkeit fordert, führt es dazu, dass diejenigen Menschen, bei denen die Missstände ins Bewusstsein rücken sollen, müde werden ob dem vielen Sirenengeheul.

Wo soll man anfangen, wenn 23 Sirenen gleichzeitig läuten?

All das lässt mich an der Sinnhaftigkeit und der Wirksamkeit von Demonstrationen zweifeln.

Sind Demos nicht die bequemste, einfachste Variante?

Schnell mal stellt man sich auf die Strasse und verlangt Veränderung oder macht einen wütenden Post auf Social Media. Aber gelingt es durch Demos, bei genügend Menschen Gehör zu finden, um Veränderung möglich zu machen?

Zeit für eine (selbst-)kritische Bilanz.

Mediale Sichtbarkeit: Ja

Ich verstehe Aktivist:innen, zu denen ich mich ja auch zähle: Weil politisch kaum etwas geschieht, wiederholen wir immer lauter und häufiger, welche Veränderungen es braucht und fordern die Öffentlichkeit zum Umdenken auf.

Doch unser Tun scheint das Gegenteil zu bewirken. Aufgrund der medialen Aufmerksamkeit, die Demonstrant:innen erhalten, verfällt eine breite Öffentlichkeit dem Trugschluss, dass sich unsere Gesellschaft nur noch an den Anliegen dieser Gruppen ausrichtet und sie bevorzugt werden.

Nicht selten fällt die Aussage, dass heute über kaum etwas anderes mehr geredet wird als «woke» Themen und dass man sich als «normale» Person unterrepräsentiert vorkommt.

Um hier polemische Aussagen widerzugeben: «Frauen werden durch Quoten privilegiert». «Alles» wird auf queere und trans Personen ausgerichtet. «Überall» muss man Anti-Rassismus- oder Political-Correctness-Training machen. Jede Toilette soll barrierefrei sein, das Menü der Mensa ist jetzt «wegen der Religiösen und dem Klima» vegetarisch und fliegen darf man auch nicht mehr.

Übermächtige Minderheit: Nein

Doch dieses Bild von privilegierten und übermächtigen Minderheiten ist nicht nur falsch, sondern verdreht die Situation. In dieser Logik müsste man Menschen beneiden, die Krieg in der Ukraine erleben, die in Booten über das Mittelmeer fliehen oder denen die Ausübung ihrer Religion erschwert wird. Nur weil über etwas berichtet wird, heisst es nicht, dass es sich lohnt, zu dieser Gruppe zu gehören.

Mediale Repräsentation bringt nicht automatisch Privilegien mit sich.

#MeToo hat nicht dazu geführt, dass Frauen nicht mehr sexuell belästigt werden. Berichte über den Bau von Moscheen oder über trans Menschen haben nicht bewirkt, dass der Staat den Bau von Moscheen fördert oder dass die Krankenkasse jede Hormonersatztherapie bezahlt.

Mediale Repräsentation heisst in erster Linie, dass für einen Moment die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf etwas gelenkt wird.

Es zeigt, dass diese Themen unsere Gesellschaft beschäftigen und dass es sich für Medienhäuser finanziell lohnt, diese Themen zu bespielen. Egal wie konstruktiv es ist, zum 23. Mal einen womöglich einseitigen und oberflächlichen Bericht zu diesem Thema zu bringen. Was nach diesem Blick der Aufmerksamkeit geschieht, weiss nämlich selten jemand.

Check-Up aktivistischer Irrtümer

Daher frage ich mich: Irren wir Aktivist:innen, wenn wir meinen, dass wir nicht gehört werden? Benutzen wir etwa zu oft die gleichen, provozierenden Worte? Oder warum kommt die Botschaft vor lauter Lärm nicht an?

Sind Demonstrationen nach wie vor ein sinnvolles Mittel, um gesellschaftlichen Problemen zu begegnen? Oder befeuern sie diese weiter?

Oder, um eine beliebte Kritik aufzugreifen: Sollten wir nicht vielmehr innerhalb politischer und wirtschaftlicher Strukturen handeln, anstatt weiter zu demonstrieren?

Um diesen Fragen nach der Sinnhaftigkeit und der Wirksamkeit von Demonstrationen nachzugehen, treffe ich mich mit Michelle Meyer. Die 24-Jährige hat Politikwissenschaft studiert und arbeitet als Campaignerin für den feministischen Streiktag 2023 beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund.

Sie plant Aktionen für Gewerkschaften und Arbeitnehmer:innen und koordiniert gleichzeitig die Zusammenarbeit mit den lokalen feministischen Kollektiven an verschiedenen Orten der Schweiz.

Die Veränderung von Demos

Michelle Meyer teilt meine Beobachtung, dass die Gruppe, die für Feminismus demonstriert, homogener geworden ist. Das liege unter anderem daran, dass es neue Personen seien, welche diese Demonstrationen organisieren und ihnen auch neue Akzente geben.

Gleichzeitig komme es auf den Kontext an, in dem demonstriert wird. «In Zürich haben Demonstrationen andere Ausprägungen als in Uri oder Obwalden.»

Doch was sagt Meyer zur Häufigkeit und zur Lautstärke dieser Demos? «Viele schliessen sich ja Demos an, ohne genau zu wissen, was die Organisator:innen fordern.» Das sei aber entscheidend: «Eine Demonstration sollte mit klaren politischen Forderungen verbunden sein.»

Die Wirksamkeit von Demonstrationen grundsätzlich zu messen, sei jedoch schwierig.

«Man kann ja nicht untersuchen, was aufgrund von Demos alles in Bewegung gesetzt wird.»

Aus ihrem eigenen politischen Kontext in Luzern kann Meyer aber durchaus von konkreten Handlungen berichten, die auf den Frauenstreik 2019 folgten: «In Luzern übergab das feministische Kollektiv dem Kanton eine Petition. Diese wurde in der zuständigen Kommission zu einer Motion umgewandelt, aus welcher ein Gleichstellungsbericht resultierte.»

Demonstrationen: ein wichtiges politisches Instrument

Dass Demonstrationen ein wichtiges politisches Instrument sind, steht für Michelle Meyer deshalb nicht zur Debatte. «Ohne Demonstrationen würde es in der Schweiz politisch viel zu langsam vorwärts gehen», sagt sie.

Und es stimmt, hier muss ich meine eigene Wahrnehmung revidieren:

Es ist billig, das Format oder das Mittel des zivilen Ungehorsams zu kritisieren, wenn die Veränderungen auf struktureller Ebene trotz Dialog und Engagement seit Jahren grössenteils wirklos bleiben.

Das hielt auch Evelyne kürzlich in einem Beitrag zu den «Klimakleber:innen» fest.

Was «gute» Demonstrationen ausmacht

Demonstrationen sind also kein schneller Weg, weil man zu faul ist, sich in politischen Strukturen oder privatwirtschaftlichen Unternehmen zu engagieren. Sicherlich gibt es gerade in Zürich einige Demos, für mich das Ziel verfolgen, möglichst viel Raum einzunehmen, Macht zu demonstrieren, und die Freude an der Störung und Zerstörung haben. Das macht mir tatsächlich Mühe.

Doch Michelle Meyer zeichnet ein Bild von Demos, mit dem ich mich identifizieren kann:

Demonstrationen sind ein Werkzeug, das man zielgerichtet nutzt, um klare Anliegen zu kommunizieren.

Im Austausch mit ihr merke ich, dass dieses Werkzeug nicht billig oder einfach ist. Sich gut zu organisieren und klare Forderungen an Politiker:innen oder Arbeitgeber:innen zu stellen, ist Arbeit. Und es liegt auch nicht einzig in der Hand von Aktivist:innen, was Politiker:innen mit den Anliegen machen.

Kein catchy Fazit

Es ist nicht catchy, zum Fazit zu gelangen, dass es für eine zukunftsfähige Schweiz Demonstrationen und Arbeit an Strukturen braucht. Wir Aktivist:innen sollten nicht aufhören, für unsere Anliegen einzustehen.

Gleichzeit ist es wichtig, uns vor Augen zu halten, dass wir oft mehr gehört und verstanden werden, als uns bewusst ist. Dass wir Zeit und Geduld mitbringen müssen für das Schneckentempo, mit dem Menschen und Systeme sich bewegen lassen. Auch wenn es ungerecht ist, wie viel Kraft es kostet.

Aber es lohnt sich, immer wieder neue, treffendere und klarer gefasste Worte und Aktionen zu finden.

Umgekehrt wünsche ich mir von Menschen, die behaupten, wir lebten doch alle schon gleichberechtigt, dass sie mediale Präsenz nicht mit Privilegien gleichsetzen. Sondern dass sie hinter die Aufmerksamkeit sehen. Dass sie, auch wenn sie nicht mit der Lautstärke einverstanden sind, grosszügig und offen zuzuhören, weshalb Menschen weiter demonstrieren, wenn doch angeblich alles gut ist.

Politisches Engagement ist vielfältig!

In diesem Sinn betont auch Michelle Meyer am Schluss unseres Gesprächs, dass Demos ein wichtiger, aber nicht der einzige Weg sind für gesellschaftlichen Wandel. So nennt sie weitere Wege, wie man sich engagieren kann:

Wer nicht demonstrieren kann oder will, kann sich in einem Verein oder einer Gruppe anschliessen, die sich für die eigenen politischen Anliegen einsetzt. Und wer in einem grösseren Unternehmen arbeitet, kann der eigenen Geschäftsleitung einen offenen Brief mit konkreten Forderungen schreiben.

Ich selbst weiss noch nicht genau, in welcher Form ich mich dieses Jahr engagiere.

Ob ich mit Arbeitskolleginnen etwas mache oder in Zürich mit Freund:innen an die Demo gehe. Der Sticker zum diesjährigen Streik klebt jedenfalls bereits am Laptop und die Fahne ist bestellt.

Aber am schönsten ist es, wenn ich mein violettes Scrunchie (Haarband) mit den Symbolen für Geschlechtervielfalt trage, das eine politische Partei gratis verschickt. Denn es gibt kaum etwas Besseres, als darauf angesprochen zu werden und zu erfahren, dass es noch viele weitere Menschen gibt, die diesem Tag entgegenfiebern.

 

Infos zum feministischen Streiktag am 14. Juni 2023: 14juni.ch

Foto von vale auf Unsplash

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