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 Lesedauer: 6 Minuten

Wie komme ich durch den Winter?

Niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt garantieren, dass wir nicht schon in wenigen Wochen vor Kälte bibbern und uns im Dunklen ängstigen. Zwar ist dies in reichen Nationen wie der Schweiz oder Deutschland sehr unwahrscheinlich, aber vollkommen undenkbar ist es nicht.

Jetzt, wo das Wetter kühler wird, mehren sich Sorgen und Krisenberichte. Angst ist da und wird geschürt. Man kann fast den Eindruck bekommen, als würden sich Leute nicht nur in der Ukraine, sondern auch bei uns auf einen Kriegswinter vorbereiten. Gerade hier zeigt sich freilich etwas Überschiessendes, eine Angstlust vielleicht sogar.

Wenn der Ofen aus ist

Schon zu Sommerbeginn meldeten deutsche Medien Engpässe bei Heizlüftern und elektrischen Radiatoren. Auch Solarstrom erzeugende Minianlagen für Balkone waren kaum noch zu ergattern. Viele Leute entdeckten in sich ausserdem den Prepper, den notorischen Vorratssammler, nach dem Motto:

Wenn wir schon im Kalten sitzen müssen, wollen wir wenigstens Kalorien verbrennen.

Auf dem Hashtag #WinterIsComing tauschen Menschen Sorgen und Tipps aus, z.B. wie man «Teelichtkocher» bastelt, wo es wattierte Hosen gibt, die cool aussehen, oder welche sarkastischen Witze die unterkühlte Stimmung etwas aufheizen können.

«Wenn man friert, ist die beste Lösung, sich in eine Ecke zu stellen. Ecken haben meistens 90 Grad.»

Abenteuer frei Haus

Viele von uns sind relative Wohlstandskinder, geschonte Existenzen. Etwas anderes als Warmduschen und wohltemperierte Räume können wir uns schwer vorstellen.

Wer in Komfortzonen bisher Langeweile verspürte, buchte einen Abenteuerurlaub, reiste nach Grönland oder kletterte gefrorene Wasserfälle hoch. In diesem Jahr aber gibt es Abenteuer frei Haus.

Bis vor kurzem habe ich nicht einmal gefragt, wo die thermostatgesteuerte Wärme in unserer Wohnung herkommt. Nun ja, unsere Heizkörper sind gasbetrieben. Ungefähr jeder fünfte Haushalt in der Schweiz wird mit Gas geheizt. Fast die Hälfte des Erdgases stammte bisher aus Russland. Winter is coming.

Winter is coming!

Die Formel «Winter ist Coming» passt zu den gemischten Gefühlen. Es ist das raunende Losungswort für das Anbrechen einer unkalkulierbaren Winter- und Eiszeit aus der Mittelalterserie «Game of Thrones». Die Vorgeschichte ist kürzlich in den Kinos angelaufen («House of the Dragon»).

«Winter is Coming» bezieht sich einerseits auf einen tatsächlichen Wintereinbruch. Im Land der Westeros herrschen ziemlich merkwürdige Jahreszeitenfolgen. Sommer und Winter können sehr lange Zeit andauern und niemand kann sagen, wann oder ob sich das Klima jemals wieder ändert.

Winter steht in «Game of Thrones» aber auch metaphorisch für Melancholie, Widrigkeiten, Depression, das Zerbrechen sozialer Gefüge, die Zunahme von Verwirrung und Aberglaube, das Ausbrechen von Kriegen. In ähnlicher Weise bezieht sich Shakespeare im Theaterstück «Richard III» auf den Archetyp Winter:

«Now is the winter of our discontent/ Made glorious summer by this sun of York…»

Schliesslich ist «Winter is Coming» ein Weckruf: Die Zeiten werden nicht immer gut bleiben. Man sollte beizeiten vorsorgen und gerüstet sein.

Kleine Eiszeit

Als historische Grundlage der Märchenhandlung von «Game of Thrones», das für meinen Geschmack zu unterkühlt und düster ist, kann die meteorologische kleine Eiszeit herangezogen werden und metaphorisch der Hundertjährigen Krieg (1337 bis 1453). Beide Geschehen überlappten sich tatsächlich. Die kleine Eiszeit dauerte von etwa 1300 bis 1900; seither haben wir den Anstieg der Temperaturen.

Der Verfilmung liegt die Romanreihe «A Song of Ice and Fire» von George R. R. Martin zugrunde. Die Gesellschaft in dem Kältemärchen ist säkularisiert, aufgeklärt, karriere- und machtorientiert. Schon der Name machte es deutlich: Westero ist an westliche Gesellschaften der Gegenwart angelehnt. Mit einer hohen Mauer gelingt es eine Weile, die Gefahren draussen zu halten, doch Kälte und Chaos sickert immer mehr durch. Die Angst vor dem Eindringen von Gefahren und verdrängten Schatten treibt die Handlung voran.

Als Archetyp reicht Winter über die saisonale Kälteperiode hinaus, die sich bei uns bislang als zuverlässige Abfolge der Jahreszeiten vollzieht. In einem umfassenden Sinn steht Winter für eine alles durchdringende Kälte. Dies schliesst auch soziale Kälte ein und die Angst, auf sich zurückgeworfen zu werden.

Es geht auch um das Aushaltenmüssen des Unvorstellbaren und um tiefe Dunkelheit, die Orientierung erschwert und Chaos begünstigt. Im umfassenden Winter kulminiert das Unheil. Aus Unruhen werden Kriege und zu Kriegen gesellen sich Hungerkatastrophen und Epidemien: die apokalyptischen Reiter.

Die Ungewissheit in Hinblick auf die bevorstehende Zeit ist für Menschen in Wohlstandsgesellschaften eine neuartige Erfahrung. Pragmatische Krisenlogistik vermischt sich mit Tiefenerinnerungen an ungewöhnlich kalte und harte Winter, in denen viele Menschen erfroren oder verhungert sind (in Deutschland etwa an den Winter 1946/47). Hinzu gesellen sich düsterer Fantasy-Szenarien, die mit der Realität verwechselt werden.

Heraus kommt ein Drehbuch, das von Putin stammen könnte. Der Kreml befördert seit Jahren mit Eifer, was zur Demoralisierung und Destabilisierung westlicher Demokratien beitragen könnte.

Der umfassende Winter

Panickmache befördert dasjenige, was am meisten befürchtet wird. Es gibt allerdings auch nichts zu beschönigen: Die Pandemie ist nicht vorbei, die uns soziale Kälte in Form von hygienetechnisch notwendiger Distanzierung und Shutdowns auferlegte, da wirft ein Energiekrieg die Wirtschaft in überraschend vielen Weltteilen weiter zurück.

Während manche noch relativ geschont sind, stehen andere vor dem Ruin oder haben bereits verloren, was sie aufgebaut hatten. Im Global South drohen sogar Hungerkrisen.

Und dann ist da natürlich weiterhin die Unsicherheit, was passiert, wenn sich das stolpernde globale Klima weiter negativ entwickelt. Die Konzentration auf den Kältewinter lenkt bis zu einem gewissen Grad von der globalen Klimaerhitzungskatastrophe ab.

Das momentane Starren auf den kommenden Winter und auf Energiepreise und -engpässe entbindet von der Notwendigkeit, über umfassendere Transformationen nachzudenken; wie zuvor in den Medien die Coronathematik alle anderen Probleme überblendete. Aber gerade die Winterkrise, sollte sie eintreten, kann auch eine Chance sein. Niemand wird danach noch sagen können, Energiesparen sei vollkommen unmöglich.

«Winter is Coming»: Wenn wir diese Formel als Losung für die Vorbereitung auf einen umfassenden Winter verstehen, kommt auch die spirituelle Dimension neu in den Blick: als Licht- und Wärmeversprechen. Gerade die christliche Botschaft ist voller Lichtmetaphorik.

Wahrscheinlich muss man durch lange Winter gehen, um das Wunder zu begreifen, dass es dunkel sein kann und dennoch hell.

Wenn es hingegen um psychologische und praktische Tipps geht, so können wir die Überlebensexperten um Rat fragen, die uns täglich begegen: Menschen, die auf der Strasse leben. Sie fürchten sich vor dem kommenden Winter wohl nicht mehr oder weniger als vor den vorangegangenen.

Energiespartipps gibt das Schweizerische Bundesamt für Energie.

«Wintertipps für ein angenehmes Wohnklima» hält energieschweiz parat.

Tipps, Tricks und Links finden sich auch auf der Homepage der Reformierten Kirche Zürich.

Andreas Loos aus dem RefLab macht sich in einer Blogserie zum Sommer dafür stark, trotz extremer Klimaereignisse Freude an den Jahreszeiten zu bewahren.

Photo: Maksim Gonchar by pexels

2 Kommentare zu „Wie komme ich durch den Winter?“

  1. Mir hilft es tatsächlich, Vorräte anzulegen. Vor allem Selbsteingewecktes, getrocknete Kräuter etc. Auch wenn dies nur symbolisch sein kann. Es hat ein bisschen was von dem etwas Kitschigen „Farben sammeln für den Winter“ der Maus Frederick aus Leo Lionnis Bilderbuch.
    Schon lange sammele ich außerdem Gedichte, Zitate, Aphorismen, handschriftlich in einer Kladde. Es gibt immer wieder Situationen, wo ich wortbedürftig in dieser Sammlung blättere.

    „Wahrscheinlich muss man durch lange Winter gehen, um das Wunder zu begreifen, dass es dunkel sein kann und dennoch hell.“
    Johanna Di Blasi

    Diesen Eintrag habe ich meiner Sammlung soeben hinzugefügt. Vielen Dank, liebe Johanna Di Blasi – und herzliche Grüße aus Siegen!

    1. Danke liebe Heike, hört sich gemütlich an, wie du Sachen sammelst. Wie schön, dass mein Satz auch Aufnahme in deine Vorräte fand. 🙂 Herzliche Grüsse aus Bern

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