Ich war bei einer Freundin in der Innerschweiz zu Besuch. Die Tage, bevor ich anreiste: schneeweiss und eingeschneit. Dann übergoss Regen alles und der Schnee wurde wieder Teil des Vierwaldstättersees. Anstatt den Tag in den Bergen zu verbringen, frühstückten wir ausgiebig, gingen mit dem Hund spazieren und lagen den Rest des Nachmittags wie Ölsardinen auf der Couch.
Getrieben von einem Cocktail aus Langweile und Neugierde blätterte ich in einer Zeitschrift, die auf der Kommode lag: ein chinesisches Jahreshoroskop.
Berechnet wird dort das eigene, sogenannte «Erdzeichen» nach dem Geburtsjahr. Die verschiedenen «Erdzeichen», sinnbildlich dargestellt als zwölf Tiere, sind eingebunden in vielschichtige lunisolare Kalenderzyklen. Wie die unterschiedlichen Abläufe miteinander korrelieren, erschloss sich mir trotz intensiver Google-Recherche nicht.
Was ich wusste: Das neue chinesische Jahr würde am 12. Februar beginnen. Die Zeitschrift übertrug diese komplexen Strukturen auf hiesige Bedürfnisse: Erdzeichen wurden zu «unseren» Sternzeichen umfunktioniert und sollten als Zukunftsorakel herhalten. Da ich 1993 geboren wurde, war ich, ohajademfall, ein Huhn. Ich weiss, ich weiss, eigentlich Hahn, aber hey, feministische Schreibfreiheit und so.
Glück und Unglück bei Hühnern
Dem Huhn wurde für 2021 ein Jahr unglaublichen Glücks vorausgesagt. Wie das Jupiter in Kombination mit dem Jahr des Metall-Büffels bewerkstelligen wollte, war mir zwar schleierhaft. Aber das Mantra «Das Leben meint es gut mit mir und ich geniesse mein Glück in vollen Zügen» gefiel mir.
Auch, dass ich mir anscheinend keine Sorgen um Geld zu machen brauchte – als Studentin immer eine willkommene Botschaft. Das Unheil schlug zu, als ich in einem weiteren Jahreshoroskop auf dem Stapel blätterte. Dieses arbeitete mit «unseren», also den babylonisch-griechischen Tierkreiszeichen. Der Saturn würde meiner Löwin dieses Jahr finanzielle Schwierigkeiten bescheren: «Legen Sie sich am besten ein Haushaltsbuch zu!» Wie jetzt? Endlich mal wieder Surfferien in Frankreich oder doch lieber Wandern im Puschlav? Ich blätterte in einer dritten Horoskopzeitschrift. Dort war 2021 nach Monaten strukturiert.
Ich erinnere mich nicht mehr, ob Januar und September gut und Februar und Mai schlecht laufen sollten oder umgekehrt. Auf alle Fälle waren Glück und Unglück gleichmässig über meine Löwin verteilt. Bei der Kollegin lief es mit ihrem Schwein-/Wasserfrau-Jahr ähnlich. Wir klappten die Zeitschriften zu und kochten, passend zur kulturellen Aneignung, veganes Pad Thai.
Kulturelle Aneignung
Spätabends lag ich neben der Freundin im Bett und grübelte noch immer über den astrologischen Kampf zwischen glückseligem Huhn im Jupiter und saturngeplagter Löwin.
Wenn ich ehrlich war, beschäftigte es mich. Es ging doch um meine Zukunft und jemand behauptete, mehr zu wissen. Ich fand das leicht übergriffig, besonders nach einem Jahr, in dem alles, aber auch wirklich alles auf den Kopf gestellt worden war. Da wollte ich doch wissen, was 2021 bereithielt!
Gleichzeitig fand ich die Situation absurd komisch. Hier hatten ein paar kapitalistische Schlauköpf*innen den Horoskop-Markt erweitert, indem sie ein «exotisches» Horoskop einführten. Etwas weniger kolonialistisch formuliert nennt man das kulturelle Aneignung. Selbst wenn zwei Dinge ähnlich aussehen, müssen sie in ihren jeweiligen Kontext eingebettet werden.
Chinesische Erdzeichen und babylonisch-griechische Sternzeichen unterscheiden sich schon alleine durch ihre Funktion: Chinesische Erdzeichen gehören zu einem astronomisch berechneten Kalender. Die Sternbilder der babylonisch-griechischen Tierkreiszeichen haben Menschen in Zeiten vor GPS-Satelliten geografisch orientiert und gaben Auskunft zur Jahreszeit. Den Zeitschriften war das egal. Dort interessierte das individuelle Glück.
Privilegien und ihre Probleme
Das mit dem Glück war ein weiterer Punkt: Bemerkenswert finde ich, dass sich diese Jahreshoroskope ausschliesslich mit Bedürfnissen beschäftigen, die sich auf der maslow’schen Bedürfnispyramide im oberen Bereich ansiedeln lassen: Glück, Erfolg, Wohlstand, körperliche Fitness, romantische Beziehungen, Selbstbewusstsein und Selbstverwirklichung. Nichts davon ist existenziell. Zeugt das von der Privilegiertheit derer, die überhaupt die Zeit und das nötige Kleingeld für solche Zeitschriften hatten? Oder ist das ein Versuch, mittelloseren Menschen – und anscheinend vor allem Frauen – das Blaue vom Himmel zu versprechen?
Ich denke an meine eine Grossmutter: Sie hat ihr Leben lang als Kellnerin gearbeitet und besitzt eine schmale Rente. Wenn diese Zeitschriften davon sprechen, dass man trotz aller positiven Veränderungen, die man durch das Horoskop für sich erwirken wird, die «liebe Mutter» oder die «liebe Grossmutter» bleib – richtet es sich dann an sie? Oder lesen Menschen diese Zeitschrift, die sich wirklich nur um das oberste Drittel der Maslow-Pyramide zu kümmern brauchen? Klar erscheint mir Folgendes:
Horoskope per se sind wohl kaum verwerflich. Sie legen offen, wie viele Menschen sich nach einem zufriedenstellenden Leben sehnen.
Ich reagierte ja offensichtlich auch darauf. Nur über den Tisch ziehen lassen wollte ich mich nicht. Deshalb störten mich drei Dinge immens, als ich um halb Zwei morgens noch immer wach lag:
- Welche Dinge oder Eigenschaften als Schlüssel zum Glück betrachtet werden: viel Geld, Macht und Einfluss, ein schöner Körper, wegweisende, positive Freundschaften sowie eine romantische, sexuell hochaktive Paarbeziehung. Toll. Dann haben herausfordernde Lebensphasen keinen Platz, Singles sind arme, bemitleidenswerte Wesen und es gibt keine Tage, an denen man selbst oder Lieblingsmensch*innen zu viele Take Away-Pommes Frites futtern und die Jeans knapp sitzen dürfen. Eigentlich ein Paradox: Man soll endlich sich selbst lieben, das rät einem das Horoskop auch, aber trotzdem perfekt aussehen. Erklärt mir das.
- In Horoskopen dreht sich alles um die eigene Befindlichkeit. Wie glücklich werde ich sein? Werde ich glücklicher, erfolgreicher, besser als Mitmenschen sein? Ich finde es anstrengend, sich dauernd mit sich selbst auseinanderzusetzen und einen Glücksmassstab ans eigene Leben zu halten. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion halte ich für enorm attraktiv, ja lebensnotwendig. Doch wenn es in ein «Ich, mich, meiner, mir, ach Herr, segne diese vier» ausartet, wird mir schlecht. In Individuen zu denken, ist Privileg und zugleich Bürde einer westlich-europäischen Gesellschaft. Und wie Glücksforschende inzwischen herausgefunden haben, funktioniert Glück als Lebensziel nicht. Stephan und Manu haben dazu einen super Podcast gemacht.
- Skeptisch bis arg wütend werde ich, wenn Horoskope als bestimmendes Schicksal daherkommen. Die eigene Geburtszeit entscheidet über einen glücklichen oder unglücklichen Lebensverlauf? Wie sollte es möglich sein, dass alles bereits vorherbestimmt ist? Eine solche Sicht suggeriert, dass man sich nur passiv dem eigenen Schicksal ergeben muss und alles seinen gewollten Lauf nehmen wird. Im positiven Sinn macht das durchaus Spass: Es fühlt sich an wie wohliges Gekrault- und Gebauchpinselt-Werden, wenn man liest, dass man heute eine «bedeutsame Begegnung» haben wird, dass einem «aufregende Zeiten» bevorstehen oder dass heute eine «glückvolle Überraschung» auf uns wartet. Das Leben fühlt sich an wie im Flow, man badet in der Schoggi und kann gelassen der eigenen Zukunft entgegenblicken. Schwieriger wird es, wenn man unter einem ungünstigen Stern geboren wurde. Oder wenn, wie etwa für das Erdzeichen des Hundes, 2021 ein «Jahr der persönlichen Herausforderungen» wird. Das soll man einfach so über sich ergehen lassen? Hat nichts mitzureden? Soll sich passiv seinem Unglück ergeben? Das nenne ich mal Opium fürs Volk. Wo bleibt die persönliche Handlungsfähigkeit? Ich will die Verantwortung für gute wie für schlechte Tage/Wochen/Monate nicht externalisieren, sondern akzeptieren, dass das zum Leben dazu gehört. Manchmal kann ich mehr dazu beitragen, dass Tage gut oder schlecht werden. An anderen flattert die blöde E-Mail in den Eingang, ich verschütte den Kaffee, bevor ich einen Schluck getrunken habe, oder versuche, beim Zähneputzen Kerzen auszupusten. Aber es ist mein Leben. Und das gebe ich nicht aus der Hand.
Ein neues Ende
Ich habe mein Horoskop jetzt umgeschrieben. Here it goes: Meine Löwin jagt das Huhn, weil sie hinter dessen Glück her ist. Unterwegs trifft sie auf die PETA, die ihr ein schlechtes Gewissen macht. Sie wird vegan und bringt das Huhn auf einen Demeterhof. Das Huhn ist so gerührt, dass es der Löwin sein Glück schenkt. Die Löwin geht damit auf Weltreise. Leider verschluckt sich das Huhn kurz darauf an einem Dinkelkorn und fällt ins Koma. Die Löwin fühlt sich auf ihrer Reise so alleine und hat genug davon, mit tausend anderen durch Angkor Wat zu tingeln, dass sie auf den Demeterhof zurückkehrt. Sie küsst das Huhn, dieses spuckt das Dinkelkorn aus und gemeinsam trinken sie noch heute ihre selbstgejagten Himbeer-Smoothies. Ich weiss nicht mehr, wann ich eingeschlafen bin. Aber ich weiss, dass Huhn und Löwin glücklich geworden sind. Ohne mich.
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