Eine komplexere Welt
Zu einer Zeit, wo Menschen noch unter Engeln und Mächten gelebt haben, war ihre ganze Welt das Ergebnis von Taten oder Unterlassungen: Dämonen machten sie fürchten, Engel retteten sie, dunkle Mächte führten sie in Versuchung. Diese Menschen hatten Angst, wie wir, waren verliebt, wie wir, konnten geniessen und leiden, verzweifeln und sich freuen. Aber anders als wir lebten sie in einer komplexeren Welt.
Übel, das ihnen widerfahren ist, konnte viele Ursachen haben und es wurde nicht durch etwas, sondern durch jemanden bewirkt. Und jemand anderes konnte es abwenden.
Das Leben entwickelte sich in Beziehungen zu Heiligen, Göttern, Geistern, Dämonen, Engeln oder dem Teufel.
Wenn es dir schlecht geht oder dir Übel widerfährt, ist das ein Zeichen für eine gestörte Beziehung mit Gott. Sünden waren nicht nur schlechte Handlungen, sondern ein Beziehungsangebot an eine finstere Welt, der durch solche Handlungen oder Unterlassungen Tür und Tor in das eigene Leben geöffnet wurde. Krankheit konnte eine Folge von Sünde sein oder eine Prüfung, an der man wachsen kann. Katastrophen waren Strafen für einen schlechten Lebenswandel und der Tod der gerechte Lohn für die menschliche Sündhaftigkeit.
Unsere Welt
Wie anders ist unsere Welt! «Das Böse» bezeichnet politische Regionen, die ein Präsident besetzen will, «der Böse» ist ein erfolgreicher Athlet im Schweizer Nationalsport «Schwingen» und «die Bösen» sind all jene, die nicht tun, was ich will.
«Böse» ist kein Wort, das etwas in unserer Welt beschreibt, sondern ein Wort, das wir benutzen, um Menschen und v.a. ihre Handlungen zu deklassieren. Weil es in unserer Welt keine finsteren Mächte mehr gibt, ergibt es auch keinen Sinn, Naturereignisse oder Krankheiten als Handlungen zu begreifen.
Sünden sind keine Beziehungsstörungen mit einer Gottheit, sondern kalorienreiche Süssspeisen, promiskuitive Fehltritte, teure Einkäufe oder irgendwelche scherzhaft eingestandenen Kavaliersdelikte.
Ein Teil «des Bösen» wurde durch naturwissenschaftliche Erklärungen beseitigt und wird mittels technologischer Anstrengungen bearbeitet: Missernten, Tsunamis, Blitzeinschläge, Blutvergiftungen, Viren oder Hangrutsche. Mindestens dort, wo man es sich leisten kann.
Dadurch hat sich auch unser Erklärungsbedarf selbst verändert. Wir fragen nicht mehr: «Weshalb ereignet sich diese Pandemie? Was sollten wir daraus lernen? Wie könnten wir besser leben, damit uns Gott davor verschont?» Wir fragen uns: «Weshalb muss das gerade mir und gerade jetzt passieren? Ich hatte Urlaub geplant, den ich voll verdient habe!» Oder: «Was lernen wir aus der Pandemie, um künftige Pandemien zu verhindern?»
Wir sind nicht weniger wehleidig, als unsere Vorfahren und neigen wie sie dazu, das Leben persönlich zu nehmen.
Aber anstatt uns in Sinnfragen zu wälzen, sind uns Mittel gegeben, den Katastrophen des Lebens pragmatisch zu begegnen.
Wir entwickeln Impfstoffe, waschen uns die Hände, richten Tsunami-Frühwarnsysteme ein (wo man es sich leisten kann) oder verlegen unser Frustshopping ins Internet. Wir verändern die Gene unserer Pflanzen so, dass sie nicht von Pilzen befallen werden, installieren Blitzableiter und für alles andere haben wir Antibiotika.
WIE, nicht WESHALB
Wir neigen viel weniger dazu, die Welt zu interpretieren und nach einem Sinn hinter den Ereignissen zu fragen, sondern erklären und gestalten die Welt. Unsere wichtigste Frage ist die nach dem «Wie», nicht nach dem «Weshalb».
Das betrifft unseren Konsum, die Art wie wir lieben und Kinder bekommen, alt werden und lernen genauso, wie unseren Umgang mit Katastrophen und Krankheiten. Durch diese Verwandlung der Welt mit einem zweckrationalen Zauberstab ist das Böse nicht einfach verschwunden, sondern in Konzepte ausgewandert, die uns besser erklären und dann auch wirksamer verändern lassen, was geschieht.
Ein ganz beliebtes Auswanderungsland ist die Krankheit. Indem wir Mitmenschen pathologisieren, die seltsame Dinge tun, entmoralisieren wir ihre Handlungen. Die Alkoholikerin wir nicht «vom Teufel Alkohol» heimgesucht, sondern leidet an einer Krankheit. Ein Präsident, der notorisch lügt und Kinder von ihren Eltern trennt, ist nicht böse, sondern krankhaft narzisstisch. Der Kopilot, der sich im Cockpit eingeschlossen hat, um den Absturz der Airbus A320 in den französischen Westalpen herbeizuführen, ist kein Monster, sondern litt an einer psychotisch-depressiven Episode. Kranke kann man therapieren. Oder nach einer entsprechenden Diagnose daran hindern, grossen Schaden zu verursachen.
Pathologisierung und Entmoralisierung
So weit, so gut. Die Pathologisierung birgt allerdings zwei Gefahren: Die Erklärung kann leicht umgedreht werden. Dann sind kranke Menschen gefährlich. Und jemand ist verantwortlich dafür, dass sich ihre Gefährlichkeit nicht realisiert. Wir kennen diese Gefahr, von bewilligten Hafturlauben, die schief gehen, von Straftäter*innen mit vielversprechender Diagnose, die «rückfällig» werden und den ganzen emotionalen Debatten, die sich um diese Fälle herum spinnen. Und wir «erkaufen» die Entmoralisierung der Täter*innen durch Inkaufnahme abgestufter Freiheitsgrade und Zurechenbarkeiten.
Wer durch eine Krankheit getrieben Leid verursacht, ist zwar nicht böse aber auch nicht mehr frei. Und nicht selten fällt die Krankheitsdiagnose dort, wo ein Urteil stehen könnte: Wenn die Kinder verwahrlosen, der Präsident im Amt ist und das Flugzeug abgestürzt ist. Unwahrscheinlich, dass es aus der Perspektive der Betroffenen, der Kranken, einfacher ist, krank zu sein, als böse. Einer der schrecklichsten Verbrecher der letzten Jahre, der norwegische Massenmörder Breivik, wollte partout nicht an paranoider Schizophrenie leiden, sondern als voll zurechnungsfähig gelten. Er wollte seine schreckliche Tat als seine Handlung begreifen und nicht als ein Unglück, das ihm widerfahren ist.
Restbestände
Fälle wie diese zeigen: Unsere Gesellschaft kennt Kranke, die nicht mehr gesund werden können und dabei für immer eine Gefahr für andere Menschen bleiben. Sie werden ins Offside gestellt. Lebenslängliche Verwahrung. Diese Menschen sprengen den Rahmen dessen, was wir mit Krankheit erfassen können. Darum therapieren wir sie nicht. Darum haben sie auch keinen Platz in der Gesellschaft und keine Aussicht ihn je irgendwie zurück zu bekommen. Die Lebenslängliche Verwahrung ist der Restbestand des Bösen, der sich in Krankheit nicht auflösen will. Und damit ein Stachel im Fleisch einer aufgeklärten Gesellschaft.
Viel grössere Restbestände gibt es bei manchen religiösen Menschen. Vereinfacht gesagt, verstehen sie die Welt als eine Schöpfung Gottes, der sich ihnen liebevoll zuwendet. Aber wie kann es dann Krankheit, Katastrophen, Tod und Schmerz geben? Regiert da eine Gegengottheit mit?
Aber warum überwindet dann Gott seinen Gegner nicht? Warum lässt er zu, dass Menschen leiden? Und hat es schon mal jemandem genutzt, Gott um Hilfe zu bitten?
Man könnte sich ein perfides Bild denken: Wissenschaft vs Gott. Die Wissenschaft läge weit vorne mit Impfstoffen, Antibiotika, Frühwarnsystemen, Wetterkarten, Ambulanzen etc. Man kann natürlich behaupten, dass Gott durch diese Technologien hindurch wirke. Aber wirklich befriedigend ist das nicht. Die Welt wäre dann ein makaberes Escape-Room-Game. Gott hat ein Rätsel gestellt und Menschen so programmiert, dass sie es lösen können. Kann ja sein. Nur klingt diese «Erklärung» eher wie eine fromme Vertröstung als wie eine Idee, die unsere Forschung beflügelt.
Furcht UND Glaube
Man kann nun zweierlei tun. Denken oder im Glauben denken. Wer denkt wird sagen: Die Welt und all das, was passiert, kann ich nicht mit einem guten Gott vereinbaren. Also: Da ist kein guter Gott. Wer im Glauben denkt kann sagen: Ja, all das gibt es. Aber in mir ist auch die Hoffnung, dass mich nichts davon endgültig von Gott trennen wird. Und das gilt auch für den lebenslang Verwahrten. Denn böse, ist nicht was wir tun oder was uns geschieht. Sondern nur, was mich von dieser Hoffnung trennen könnte. Ich glaube nicht an das Böse. Auch wenn ich es fürchte.
Über das Böse habe ich mich mit Manu in der neuen Podcastfolge von Ausgeglaubt unterhalten.