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Wie erklärt sich das Böse?

Nicht nur evolutionsbiologische, sondern auch theologische und philosophische Erklärungen kommen hier an eine Grenze des Erklärbaren. Die Gräuel des zweiten Weltkrieges, für welche das Vernichtungslager in Auschwitz emblematisch steht, verschärfen das Rätsel des Bösen aufs Äusserste.

Peter und Manuel schreiten verschiedene Erklärungsversuche in der Theologie- und Philosophiegeschichte ab – von monistischen über dualistische Modelle – und weisen auf die Gefahr hin, das Böse durch die Einordnung in ein Sinnganzes zu verharmlosen und die Leidenden nicht ernst genug zu nehmen. Darum enden sie beim biblisch begründbaren Verzicht auf eine Erklärung, der aber nicht ohne Hoffnung auf die Überwindung des Bösen auskommt.

 

Zu den Beitragenden

Manuel Schmid ist Co-Leiter von RefLab. Er wurde mit einer religionsphilosophischen Arbeit promoviert und liebt es, unsere Zeit und Gesellschaft durch vertieftes Nachdenken und angeregtes Diskutieren besser verstehen zu lernen.  

Heinzpeter Hempelmann ist Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, Autor von über 40 Büchern und 500 Aufsätzen (viele davon sind hier kostenlos abrufbar). Er ist ausgewiesener Experte in Fragen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie der Lebensweltforschung – und er hat eine Leidenschaft für die verständliche Vermittlung komplexer philosophischer und theologischer Sachverhalte.

 

Weil die Folge nicht genügend Platz geboten hat, das Thema des Bösen und seines Ursprungs auszuführen – und vor allem weil die von Peter stark gemachte biblisch-hebräische Alternativposition nur angetippt werden konnte, hat Peter noch diesen vertiefenden Text nachgereicht: Für alle, die weiterdenken und tiefer graben möchten…!

 

I Unde Malum: Woher kommt das Böse?

Unde malum, zu deutsch: Woher kommt das Böse?, ist seit jeher die Formel, unter der Philosophen und Theologen die Fragen zu beantworten suchen: Was ist das Böse? Auf wen können wir es zurück führen? Gibt es das Böse oder gar den Bösen überhaupt? Es ist sinnvoll, verschiedene Gesichtspunkte und Ansätze zu unterscheiden.

(1) Widerfahrnis des Bösen 

Die Frage nach dem Ursprung und Wesen des Bösen entsteht an der unabweisbaren Erfahrung von unverschuldetem Leid und Ungerechtigkeit, von Not und Schmerz, die Menschen kontingent treffen. Sie entsteht gesteigert angesichts von Ungerechtigkeit, Grausamkeit, Folter und Unmenschlichkeit. 

Der Ukraine-Krieg ist ein aktueller, aber eben nicht singulärer Anlass für unsere Frage. Fraglich ist vielmehr, warum nicht schon ähnliche Formen der Inhumanität in Tschetschenien, Syrien, Georgien etc. entsprechende Reflexionen angeregt haben, von dem Leid ganz zu schweigen, das entsteht, wenn alle zwei Sekunden ein Kind verhungert. In diesem Jahr waren es die Erdbeben in der Türkei und den nördlichen Gebieten Syriens, aber auch der Bürgerkrieg in Äthiopien, verheerende Tropenstürme, Waldbrände mit allem Leid für Tier und Mensch. Aktuell drohen sich die Hungerkrisen südlich der Sahara noch einmal zu verschärfen und ausgerechnet die armen Länder Jemen und Sudan kommen nicht heraus aus Kriegen, die noch die letzten Überlebensressourcen fordern. Das ist nur ein selektiver Blick in die Gegenwart. Schauen wir zurück finden wir Kriege und Katastrophen ohne Ende. Immer sind konkrete Menschen betroffen, deren Leid durch so allgemeine Beschreibungen ja gar nicht adäquat adressiert werden kann. Die Apokalypse, das Ende der Welt und eines lebenswerten Lebens ist doch schon da errreicht, wo eine Mutter ihr Kind verliert (alle drei Sekunden auf unserer Erde, wegen Mangel an Nahrung, Trinkwasser und Medikamenten).

(2) Metaphysische Bestimmung: das Böse als privatio boni, als Mangel an Gutem

Das Böse erscheint in diesen Zusammenhängen als eine Störung; als etwas, was nicht sein soll; was die eigentlich zu erwartende Ordnung in Frage stellt. Klassisch ist die Bestimmung von Augustin, dass das Böse privatio boni ist, also ein – bloßer – Mangel an Gutem. Die Rede von Bösem setzt also metaphysisch ein Ordnungsdenken voraus.

Die biologisch im Menschen als einer Orientierungs-Waise angelegte Neigung, sich auf alles einen Reim zu machen, zur Not auch das Eckige zu runden, ist natürlich durch das Widerfahrnis von Bösem besonders herausgefordert. Metaphysische Systeme, die das Unbegreifliche begreifbar werden lassen, liegen nur allzu nahe. 

Augustin denkt als Neuplatoniker vom höchsten Guten her, das Gott ist. Es gibt Grade an Gutem, es gibt darum eben auch Defizite, Mangel an Gutem: Handeln, das zu wenig Gutes aufweist. Ist man wirklich von einem solchen Defizit betroffen, wird man eine solche Bestimmung wohl kaum als ausreichend bezeichnen. Ungerechte, unterdrückerische, versklavende Zustände als bloßer Mangel an Gutem; Leiden, bohrender, mich angreifender Schmerz als bloßer Mangel an Wohlgefühl; Tod als bloßer Mangel an Leben und nicht vielmehr als eine vernichtende Macht, die mich aktiv „fertig macht“ beim Verlust eines Angehörigen?

Auch alle anderen Versuche, Leid, Schmerz, Zerstörerisches einzuordnen, vermögen wenig zu überzeugen. Für klassisches metaphysisches Denken liegen sie nahe. Sie begreifen die Welt als Kosmos, als Ordnungsgefüge. Auch das Böse, das Widerständige soll hier eingeordnet werden. Damit wird man aber seiner Erfahrung Leben vernichtende, zerstörende Macht nicht gerecht. 

In der Seelsorge wirken sich diese Versuche desaströs aus. Sie laufen auf die Auskunft hinaus, dass das Widerfahrnis des Todes, des Bösen etc. ja letztlich „in Ordnung geht“. Durch diese Antwort, Erklärung auf der Theorie-Ebene hält sich der Antwortende das Phänomen vom Leib; er kann es so begreifen, und es muss ihn nicht mehr beunruhigen. Für den Betroffenen sind solche metaphysisch grundierten Auskünfte keine Hilfe: Sie lassen nicht verstehen, was er erlebt; sie muten ihm vielmehr zu, das, was er nicht fassen kann, als eigentlich richtig, normal, in der Norm und Ordnung begreifen zu sollen.

(3) Weltordnungsdenken: Das Böse als angeordnete Strafe

Die Konzepte, Widerfahrnisse des Bösen, im Rahmen eines Ordnungsdenkens zu begreifen, haben dann auch auf die Dauer nicht zu überzeugen vermocht. Aus dem Mittelalter kennen wir die Lösung, die in der Verkündigung der Kirche, v.a. radikaler Geissler propagiert wurde: Pest, Hungersnöte und Kriege sind eine Strafe Gottes. Notwendig ist Umkehr und Strafe, damit sich Gott euch wieder zuneigt,- ein Konzept, das durch Weltordnungsdenken bestimmt ist: Auf Sünde folgt notwendig Strafe. Ist das Böse ausgeglichen, kann es wieder gut werden. Erst eine Mentalität, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt und nicht mehr vom Kollektiv her denkt, stellt diesen Ansatz in Frage. Erst vorbereitet durch die Renaissance kann dann Neuzeit und Moderne fragen, worin denn die Schuld gerade geborener Kinder besteht. Eine kollektive Mentalität kann sie nach Bestandteil der Ganzheit denken, die die Menschen insgesamt betrifft („mitgefangen, mitgehangen“). Im 19. Jh. ist es dann etwa F. M. Dostojewskij, der in den „Die Brüder Karamasow“ die Theodizeefrage in diesem Sinne radikal zuspitzt und nach der Möglichkeit der Rechtfertigung des Leidens und Sterbens unschuldiger Kinder fragt.

(4) Monismus und Dualismus

Religionstheologisch und -philosophisch werden bis in die Gegenwart hinein zwei Positionen vertreten, die jede auf ihre Weise die Frage nach der Herkunft des Bösen zu beantworten suchen. Da ist einerseits der Monismus, von griech. monos, eins: Er führt das Böse auf die einzige und letzte Wirkursache, also Gott zurück. Neben ihm und außer ihm kann es ja schlechterdings nichts geben, sonst wäre er ja nicht Gott. Also muss auch das existierende Böse in irgendeiner Weise auf ihn zurückgehen, und sei es als Potentialität, die der Schöpfer in seine Geschöpfe hineingelegt hat, die aber doch dann zuvor auch in ihm vorhanden gewesen sein muss. Da ist der andererseits der Dualismus: Es gibt Gott, den guten Gott, und es gibt seinen Gegenspieler: den Bösen, den Demiurgen, dem ebenfalls göttliche Macht und Autorität zukommt. In apokalyptisch strukturierten Religionen ist dies ein gängiges Modell. Der Mensch findet sich dann zwischen Gott und Gegengott. Manichäismus oder Hinduistische Philosophie sind entsprechende Beispiel.

Weder dieses dualistische Denken noch das monistische sind aus christlicher Sicht angemessen, um die Erfahrung mit dem Gott der Bibel angemessen zu beschreiben. Zum einen gilt, für das monistische Denken: Der in seiner Menschenfreundlichkeit in Jesus Christus manifeste Gott zeigt uns Gott als Liebe, als Zuwendung, als den, der nur Interesse an der Rettung des Menschen hat und der alles daran setzt, den Menschen von dem Bösen zu trennen. Der Tod Jesu wird begriffen als Tod des Todes, verstanden als die stärkste Gegenmacht gegen das Leben. Am deutlichsten heißt es in 1. Joh 1,5 dass Gott nur Licht ist und dass keine Finsternis in ihm ist. Die Ambivalenz, die wir religionsgeschichtlich immer wieder finden (und die selbst M. Luther nicht ganz fremd ist, wenn er neben den Deus revelatus, den offenbaren Gott, den Deus absconditus, den verborgenen abgründigen Gott, stellt, den wir nicht verstehen), ist hier fern. – Zum anderen gilt, im Hinblick auf das dualistische Denken: Die Macht und Kraft des Bösen wird zwar anerkannt (man vergleiche v.a. die Offenbarung Johannis), aber es dominiert doch die Hoffnung und die durch die Auferweckung Jesu gefestigte Gewissheit, dass Gott als Quelle des Lebens die Leben vernichtenden Mächte überwinden wird. Das Böse bzw. der Böse wird nirgendwo zum Gegengott.

(5) Theodizee-Frage als Konsequenz

Die Existenz des Bösen stellt für modernes Denken die Existenz Gottes in Frage. Der englische Philosoph und Aufklärer David Hume greift auf den antiken Philosophen Epikur zurück, wenn er das Problem einer theistischen Position zum Bösen auf die Formel bringt: „„ […] Auf Epikurs alte Fragen gibt es noch immer keine Antwort: Ist er [=Gott] willens, aber nicht fähig, Übel zu verhindern? Dann ist er ohnmächtig. Ist er fähig, aber nicht willens, Dann ist er boshaft. Ist er sowohl fähig als auch willens? Woher kommt dann das Übel? […]“ (David Hume: Dialoge über natürliche Religion, übersetzt und herausgegeben von Norbert Hörster, Stuttgart [1981] 2004 [Reclam], 98f).

Wenn Gott gut (gerecht, Liebe etc.) und allmächtig ist, kann er das Böse nicht zulassen. Da er allmächtig ist, kann er es beseitigen; da er gut ist, muss er das, was er kann, auch wollen.

Wenn die Existenz des Bösen unabweisbar ist, kann Gott entweder nicht gut oder nicht allmächtig sein, ggf. weder gut noch allmächtig. Prämodern-traditionsorientiertes Denken kann Leiden dann und insoweit integrieren, als es ein Resultat des in der Welt wirksamen Gerechtigkeitshandelns ist. Pest ist furchtbar, aber sie ist gerechte Strafe, insofern akzeptabel und noch beruhigend, als der Tat-Ergehens-Zusammenhang ja offenbar intakt ist: Böses Handeln zieht schlimmes Ergehen nach sich. Die Welt an sich ist gut, Gott ist gut, aber der Mensch ist schlecht und defizitär. Für modernes Denken ist dagegen das Leid zum „Fels des Atheismus“ geworden (Georg Büchner in seinem Drama: Dantons Tod, III. Akt, Szene 1, erschienen 1835). Öffentlichkeitswirksam wird von europäischen Intellektuellen im Anschluss an das Erdbeben von Lissabon von 1755 die theologische Apologetik dieses Unglücks als Vorsehungshandeln Gottes bestritten. Voltaire macht sich in seinem philosophischen Roman „Candide oder der Optimismus“ (1759) über die rationalistische Lösung des Theodizee-Problems durch G.W. Leibniz lustig, diese Welt sei nicht gut, aber immerhin die beste (Wenn das die beste ist, wie werden dann die anderen aussehen?!).

Die Preisgabe der metaphysischen Rahmung des Weltbildes führt aber erst recht zur Frage nach der Qualität einer Welt, in der so etwas – nicht nur singulär – passiert. Nietzsche fasst das in dem Wort zusammen, die Moderne hätte zwar Gott abgeschafft, sei aber den Teufel/ das Böse nicht los geworden. Eine Rechtfertigung Gottes gelingt nur noch um den Preis der Verneinung seiner Existenz. Postmodern-pluralistisches Denken wird nicht durch die Theodizee-Frage belästigt, dies aber nur um den Preis eines Nihilismus, der sich vom Sinn der Sinnfrage verabschiedet hat: „Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte interpretieren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als ständiges Zeugnis einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlussabsichten; die eignen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob alles Fügung, alles Wink, alles dem Heil der Seele zuliebe ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit […]. Indem wir die christliche Interpretation dergestalt von uns stoßen und ihren Sinn wie eine Falschmünzerei verurteilen, kommt nun sofort auf eine furchtbare Weise die Schopenhauersche Frage zu uns: hat denn das Dasein überhaupt einen Sinn? jene Frage, die ein paar Jahrhunderte brauchen wird, um auch nur vollständig und in alle ihre Tiefe hinein gehört zu werden.“  (Fröhliche Wissenschaft, ed. Schlechte, Bd. 2, 227f)

Wenn es keine übergreifenden Ordnungen mehr gibt, können diese auch nicht gestört werden. An die Stelle der klassischen Notwendigkeit der Theodizee tritt jetzt aber die Notwendigkeit der Anthropodizee (Odo Marquard). Wenn es Gott nicht gewesen sein kann, ist der Mensch allein verantwortlich für die Weltgestaltung.

(6) Anthropozentrische Konzentration

Der neuzeitlich-aufgeklärte und moderne Mensch nimmt sein Schicksal selbst in die Hand und verbannt Gott ins „Blättchen“, ins Feuilleton. Philosophen der Aufklärung, allen voran I. Kant und G.E. Lessing, weisen den vernünftigen Weg aus Konflikt und Intoleranz, aus Krieg zum ewigen Frieden. Es dominiert eine optimistische Perspektive, vom Fortschritts-Positivismus August Comtes, einem Hegelianischen Glauben an die Vernunft, die sich in der Geschichte Bahn bricht,  über den marxistischen Historischen wie Dialektischen Materialismus bis hin zum Glauben an einen wirtschaftlichen wie technischen Fortschritt. Religionsphilosophisch bedeutet das: Die Welt ist zwar – noch – nicht gut, aber wir können sie besser: immer gerechter, freier, friedlicher, ökologischer machen. Je länger der neuzeitlich-moderne Mensch dieses Programm in immer neuen Anläufen verfolgt, umso höher wird der Druck, zu einem Erfolg zu kommen. Da der traditionelle Sündenbock – „Gott“ – nicht mehr zur Verfügung steht, verstärkt sich der Druck, nach Schuldigen zu suchen, kommt es umgekehrt darauf an, „es nicht gewesen zu sein“ (Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 1973).

(7) Aktuelle Zuspitzung: Das Ende moderner U-Topien. 

Ein Krieg mitten im Herzen Europas, nicht in Syrien und anderen nicht durch Aufklärung und das Konzept einer europäischen Nachkriegs- und Friedensordnung bestimmten Ländern bedeutet einen Schock. Das vom späten Kant entwickelte, auf Vernunft setzende Konzept „zum ewigen Frieden“, das seine späte, demokratische Ausformung in einer von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas repräsentierten Theorie kommunikativen Handelns findet, scheint krachend gescheitert. Dieser Krieg scheint – westeuropäischen – Theoretikern nur unvernünftig zu sein; und obwohl bis zum letzten Moment „miteinander geredet, das Gespräch gesucht wurde“, hat das Konzept der Einbindung und Veränderung durch Dialog nicht nur nicht funktioniert, es hat ebenso wie die merkantile Dimension: Wandel durch Handel, der Inhumanität Vorschub geleistet. In diesem Zusammenhang bricht die Frage nach einer Wirklichkeit, die gegen die moderne Wundermixtur von Vernunft, Fortschrittshoffnung und Dialog immun und resistent ist, erneut in aller Härte auf. Gibt es das Böse doch? Was ist denn da so widerständig, dass es sich der stärksten Macht des Menschen: der Vernunft, erfolgreich und auf Dauer widersetzt? Ist es wirklich nicht mehr als ein Mangel – noch nicht – realisiertem Guten?

Es macht die Sache nicht einfacher, dass das hier angewandte moralische Muster sich auch umdrehen läßt: Putin und Xi sehen den dekadenten Westen gemeinsam als Feind, weil er Kultur, Tradition, Zivilisation auflöst. Der Westen ist Manifestation des Bösen, diese muss in jedem Fall verhindert werden. 

II Verweigerung – Das hebräisch-biblische Denken des Bösen und seine Leistungsfähigkeit

Angesichts der Kalamitäten der verschiedenen Lösungsansätze lohnt es sich, sich zu vergegenwärtigen, wie in den biblischen Schriften mit dem Bösen umgegangen wird, und von dorther Anregungen zu empfangen.

(1) Monistische wie dualistische Ansätze werden vermieden. 

Es wird weder systemisch das Böse von einem alles bestimmenden Prinzip oder Ursprung her abgeleitet. Eine solche Ableitung und Einbindung würde es ja auch verstehbar und damit nachvollziehbar machen. (Hier liegen auch die Grenzen bzw. Probleme einer historiographischen Analyse: Wie konnte das NS-Regime, wie konnte, wie konnte der Holocaust passieren? Oder auch die Grenzen einer neurophysiologischen oder evolutionsbiologischen Erklärung: Das Böse erscheint durch solche „Erklärungen“ im Endeffekt immer als eigentlich „logisch“, eben weil es logisch-nomothetisch abgeleitet wurde; reduziert wurde auf ein bestimmtes Modell von Wirklichkeit.) Das Unbegreifbare wird dann begreifbar. Das Böse löst sich auf in Banalitäten. In den biblischen Schriften ist Gott zwar der Ursprung des Lebens, der Schöpfer, aber eben nicht derjenige, auf den das Böse, der Satan, die Schlange im Paradies zurückgeführt wird. Die Schlange im Paradies ist vielmehr der Einbruch in die gute Schöpfung. Sie ist unvermittelt da. Und auch der Engelsturz läßt die Frage offen, woher denn der Aufstand gegen Gott kommt; ebenso gibt das Hiob-Buch keine Antworten. Es wird lediglich erzählt, und es wird eine fundamentale Störung beschrieben. Die biblischen Schriften erliegen aber auch nicht der umgekehrten Versuchung eines dualistischen Systems, in dem das Böse/ der Böse quasi als Gegengott inthronisiert würde. Gerade ein solches dualistisches Weltbild würde das Böse ja systemisch absichern und garantieren. Es würde es erst zum Götzen machen. Die biblischen Redeweisen, vor allem die apokalyptischen Ansagen schildern ein dynamisches Geschichts-Szenario, für dessen Ende eine Hoffnung in Aussicht gestellt wird: dass sich die Kraft des Lebens gegenüber denen des Todes durchsetzt. „Sicher“ in einem rationalistischen Sinne ist die Erfüllung dieser Erwartung nicht. Wesentliche Elemente des biblischen Redens vom Bösen sind also (1) das Narrative, (2) das Dynamische und (3) das Elpische (von elpis, griech. für Hoffnung).

(2) „Erklärungen“ im Sinne von Ableitungen aus einer Ordnung werden vermieden. 

Im Rahmen eines qualitativen Seins-Denkens erscheint die als böse qualifizierte Wirklichkeit nicht als Teil der Wirklichkeitsordnung, sondern als deren nicht systematisierbare Gefährdung. Hier wird der sich für griechische Metaphysik nahelegende Trugschluss vermieden, das Böse, Leben Bedrohende, und das Gute/ Schöne, Leben Erhaltende lägen ontologisch auf einer Ebene. „Wirklich“ ist nur das, was Leben stiftet und erhält. Wesentlich für biblisches Reden vom Bösen ist damit (4) eine qualitative Ontologie. (Martin Heidegger hat in der ihm eigenen Sprache ähnliche Einsichten auszudrücken versucht, etwa wenn er sagt: Das Nichts nichtet,- ein Satz, der im Rahmen klassischen metaphysischen Denkens keinen Sinn macht. Wie kann etwas, das gar nicht existiert, etwas tun und bewirken? So ja mit einem gewissen Recht die Rückfrage analytischer Philosophie [R. Carnap].)

(3) Das Böse wird nicht abgeleitet, systematisiert; es entzieht sich ja seinem Wesen nach aller Ein-Ordnung. 

Es ist ja das, was die Lebens-Ordnung angreift; es ist das, was die Beziehungen zerstört, aus denen eine tragende Wirklichkeit besteht. In diesem Sinne ist der Teufel der Vater der Lüge (Joh 8,44). Er ist nicht zu greifen. (Um wieder exemplarisch auf den Ukraine-Krieg zurück zu kommen: Drei Tage vor Einmarsch in die Ukraine versichert der russische Außenminister Lawrow zum wiederholten Male: Wir haben nicht vor und werden nicht in die Ukraine einmarschieren.) Rede ist nicht gleich Rede. Es gibt ämät, verläßliche Rede, und es gibt Trug, böse Rede, die dem Zusammenleben den Boden unter den Füßen wegzieht. Das Böse ist das Diabolische, das das Leben/ die Wirklichkeit in ihr Gegenteil ver-kehrt. Hier kommt eine fünfte Spezifikation biblischer Rede über das Böse dazu: (5) Kennzeichnung des Bösen als des Diabolischen und daraus resultierend: Verzicht auf Deskription: Das Böse kann nicht beschrieben werden, weil es sich seinem Wesen nach der Beschreibung entzieht, wie ein schwarzes Loch Lichtstrahlen aufsaugt, die dessen Erkennbarkeit verhindern. Nicht das Böse selbst wird beschrieben, sondern nur seine Aus-, besser: Ver-Wirkungen.

(4) Apokalyptische Redeweisen beschreiben dynamische Zuspitzungen und Ausbrüche des Bösen mit entsetzlichen Folgen

Wer die Bilder von den Massakern in Butcha (Oblast Kiew) oder Aleppo gesehen hat, wird von der Offenbarung Johannes nicht mehr als Mythen- oder Märchenbuch reden;  das Totenfeld von Hes 32 ist dann nicht mehr die  Weltanschauung hinter der Aufklärung und ihrem Menschenbild Zurückgebliebener. Das Böse und – noch einmal zugespitzt: – der Böse besitzen Macht-Charakter; es ist mehr als bloßer, zu behebender Mangel an Gutem. Es gibt Zusammenballungen destruktiver Macht; sie werden gedeutet als Vorwegereignungen einer letzten alles einbeziehenden destruktiven Anstrengung des Nihil, das ein – traditionell ontologisch gesprochen – „Grundzug“ unserer „Wirklichkeit“ ist. Hier ergibt sich ein sechstes Merkmal biblischer Rede von dem Bösen: (6) Das Böse als nihilistischer Grundzug unserer Wirklichkeit oder besser: als Counterpart des Lebens manifestiert sich immer neu in – meist unerwarteten – Konzentrationen überaus mächtiger destruktiver Macht. 

(5) Personale und systemische Rede vom Bösen als Annäherungen

Die Personifizierung des Bösen ist ein Mittel, diese Wirklichkeitserfahrung adäquater auszudrücken und unter diesem Aspekt mindestens diskutabel, auch wenn klar ist, dass auch diese Bestimmung („der Böse“) letztlich eine Verharmlosung bedeutet. In der apokalyptischen Bildwelt ist auch von „Tieren aus dem Abgrund“ (Offenb Johannis Kap. 12+13) die Rede, und i.A. an Einsichten der Kritischen Theorie ist über die personale die systemische Qualifikation einzuholen. Der aus jüdischer Tradition denkende Max Horkheimer als einer ihrer Hauptvertreter kritisiert mit Recht den Begriff einer einseitig technischen Vernunft (Traditionelle und kritische Theorie, 1937), die den destruktiven Macht- und Gewaltcharakter staatlicher, wirtschaftlicher, juristischer, wissenschaftlicher Systembildungen nicht gerecht wird.

Im Bereich evangelischer wie weithin auch katholischer Theologie hat man sich im Bestreben als aufgeklärt und modern qualifiziert zu werden, vom Bösen nahezu gänzlich verabschiedet. Theologie ist weithin sprach-los geworden angesichts des Grauens in unserer Welt. Sie erschöpft sich dann in ethischen Impulsen, für die man sie nicht braucht angesichts einer säkularen humanistischen Ethik, die die ursprünglich christlichen Anliegen konsensfähig transformiert hat. So obliegt es heute Literatur, Philosophie, Kunst und Film (man vgl. nur die zahlreichen Streaming-Serien, in denen apokalyptische, der Angst und Unsicherheit Ausdruck gebende Angebote heftig nachgefragt werden), diese bedrängendste aller Wirklichkeitserfahrung zu artikulieren.

(6) Kreuzestheologische Qualifikation des Bösen

Eigentlich müßte es vor allem einer Theologie, die bei ihrer Sache bleibt, möglich sein, von ihrer Mitte her eine wirklichkeitserschließende Kraft zu entfalten.  Steht doch in ihrer Mitte, jedenfalls dann, wenn sie theologia crucis sein will, das Kreuz des Sohnes Gottes. Wenn christliche Theologie nach Paulus nichts anderes weiss als Christus und ihn als gekreuzigt (1. Kor 2,2), dann bedeutet dies: Dieses Kreuz qualifiziert in einzigartiger Weise Gott als den, der sein Leben einsetzt, um diese Welt zu retten; den Menschen als den, der selber Gott sein möchte und ihm Widerstand leistet; der Gott selbst dort tötet, wo er ihm als Liebe in Person begegnet; dieses Kreuz qualifiziert schließlich auch diese Welt: Es ist ihr Erdboden, in die der Stamm des Kreuzes gerammt wurde; ihre Geschichte, in der das Wort Gottes buchstäblich mund-tot gemacht worden ist. 

Nicht eine spekulative Metaphysik, wohl aber der hoffnungsvolle Blick auf das „Lamm wie geschlachtet“, als das der auferstandene Kyrios in der Offenbarung Johannis erscheint (Kap.5) helfen, das Böse richtig einzuordnen und vermögen eine Perspektive auf die endliche Überwindung zu geben.

(7) Fazit 

Die metaphysische Frage nach der Ursache und den Gründen des Bösen kann nicht beantwortet werden. Aus diesem Grund ist auch eine Theodizee, die Gott und das Böse in einen argumentativen Zusammenhang bringt, nicht möglich.

Die im Alten und Neuen Testament erzählte Geschichte von der Passion Gottes am und für den Menschen gibt keine Erklärung des Bösen, hilft aber zu einem angemessenen Verständnis und Umgang mit ihm. Sie ist (a) narrativ, erzählt vom Widerfahrnis des Bösen und ist nicht systemisch, nimmt ihm nicht durch Ein-Ordnung seinen alle Lebensordnung zerstörenden Charakter; das Böse kann nicht theoretisch erörtert werden. Sie ist (b) dynamisch und nicht statisch; sie begreift es als Macht, nicht nur als Zustand oder Struktur. Das Böse wird nur „erfasst“ und „begriffen“, wo es bekämpft wird; wo man sich Leben einsetzend auf es einläßt. Sie behandelt (c) das Böse nicht im Sinne griechischer Ontologie als eine seinsmäßige Größe, sondern spricht ihm im Rahmen einer qualitativen Ontologie jedes Sein ab. Es kann keine Verhandlungen mit dem Bösen geben und keine Absprachen, die verbindlich wären. Es muss – am Leib Christi – dingfest gemacht werden. Erst sein Tod ist der „Tod des Todes“ (Hebr 2,24). Sie ist (d) elpisch und nicht theoretisch-deskriptiv. Sie ist nicht rückwärtsgewandt erklärend und  ableitend, sondern zukunftsorientiert. Sie erklärt nicht Tod und Verderben, sondern eröffnet Über-Lebensperspektiven.

3 Kommentare zu „Wie erklärt sich das Böse?“

  1. Stephan Schmid-Keiser

    Das Böse erklären – bleibt unmöglich. Es einzuordnen – dennoch notwendig. Danke deshalb für diese philosophisch und bibeltheologisch geprägten Reflexionen. Sie sind nicht leicht verständlich. Da sie mit dem Hinweis auf Überlebensperspektiven enden, sende ich hier wenige Hinweise aus Spuren des Nachdenkens über das Böse, dem durch die ganze Geschichte der Menschheit immer neu ausufernden Phänomen.

    Ein erster Zugang (Anfang August 2022)
    Stephan Schmid-Keiser

    Vom Bösen als unergründlichem Phänomen, zu dem sich Schuld und Sünde gesellen Mt 6,7-15

    Einfach so verstrickt in Schuld zu stecken, glaubt kaum jemand mehr. Zwar beschlich die Menschen vor Jahren schon ein dumpfes Ahnen, an den Entwicklungen globaler Erwärmung durch Übernutzung endlicher Ressourcen mitbeteiligt zu sein, doch direkter Verstrickung in die Schuldmechanismen wollen wir nicht bezichtigt werden.

    Bösen Verhältnissen ausgesetzt
    In einer Mischung von Unglaube und Faszination hörte man die Rufe der Klimajugend, die warnten vor dem drohend ruinierenden Abgrund, der sich mit den Klimakatastrophen der Gegenwart aufgetan hat. Unterdessen brennen Wälder und Gegenden, die es bisher nicht traf. Wir sind bösen Verhängnissen ausgesetzt. Dafür hat die Bibel Begriffe wie Schuld und Sünde als Warntafeln aufstellt. Konfrontiert mit ihnen sehen wir uns vor struktureller und persönlicher Schuld. Und wie nun kriegerische Handlungen in jüngerer Zeit zeigen, bleibt immer wieder Böses ungestraft. Dies verschärft sich, nachdem die Weltordnung der letzten Jahrzehnte aus den Fugen geraten ist und die Nationen einer neuen Art von «nihilistischem Autoritarismus» gegenüberstehen, «der mit Sinnlosigkeit und Absurdität wuchert und nicht mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft».[1]

    Kein jenseits von Gut und Böse
    Michail Prischwin (1873-1954), Agraringenieur und Literat in der Sowjetzeit handelte in seinen Tagebüchern von «tiefstem historischen Unrecht», und sollte «bis auf weiteres recht behalten»: «Etwas erreicht allmählich unser kleinbürgerliches Bewusstsein, und zwar: dass das Böse ganz ungestraft bleiben und das neue triumphierende Leben auf den Leichnamen der gemarterten Menschen (…) heranwachsen kann ohne Gedächtnis an sie».[2] Die Durchsetzung nationalistisch bestimmter Strukturen in den Einflussbereichen von Ost und West hat sich unterdessen weltweit fortgesetzt. Als auf sich selbst verschlossene Wertegemeinschaft sieht sich etwa die russische Welt (russkij-mir)[3], von der sich zahllose, ehemals mit ihrer Sprache verbundene Menschengruppen distanzieren, wie Wolodimir Rafejenko, Professor für russische Philologie, der von Donezk weg in ein Dorf nördlich von Kiew geflohen ist. Befragt, woher das Böse komme, führte er aus: «Was zählt, ist die Fähigkeit, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Und dort, unter Dauerbeschuss, hat man keinen Gedanken an die Ursache des Bösen verschwendet. Ja, alle Sinne waren geschärft, vor Angst, gegen die man ankämpfen musste. Das Empirische erschreckender als jemals zuvor in meinem Leben. Und doch kam das Metaphysische nah heran, starrte auf mich und berührte mich körperlich. Der Sommer des Herrn war einen Schritt entfernt, und ich wusste, dass es nicht schlimm wäre, zu sterben. Schlimm wäre es, einen schmachvollen Tod zu sterben. Ich bat Gott, sollten meine Frau und ich dazu verdammt sein, in dieser Datscha umzukommen, uns einen schnellen Tod zu bringen.»
    Und weiter: «Wenn du die russischen Greueltaten nicht siehst, wenn du Russland nicht als anthropologische Katastrophe wahrnimmst, dann weigerst du dich bewusst, dies zu tun. Auf diese Weise trennen sich Gut und Böse.» Mit biblischem Blick meint Rafejenko, «dass es gerade die guten Absichten sind, die uns sehr oft den Weg des Bösen leiten. Man kann eine bestimmt Absicht haben, sie aber nicht in die Tat umsetzen. Zudem sind Menschen häufig ausserstande, zu verstehen, dass es nicht eine Absicht ist (die tatsächlich gut gemeint sein kann), welche eine Handlung mit Sinn erfüllt. Eine Handlung erlangt ihre wahre Bedeutung ausschliesslich aus dem Wahrnehmungshorizont der anderen. Aus diesem Grund heisst es in einem guten Buch: ‘An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.’»[4]

    Wird Gott vergeben?
    Genau darauf setzt die Einführung ins Gebet, das Jesus seine Leute lehrt. Unmittelbar nach dem Gebetstext verlautet Jesus: «Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euch auch euer Vater im Himmel vergeben. / Wenn ihr das nicht könnt, kann auch Gott euch nicht vergeben.» (Mt 6, 14f.) Das ist im politische-militärischen Kontext der Gegenwart, in der ein neuer Imperator kein Pardon kennt, eine Provokation ersten Ranges. Versöhnungsprozesse aber werden zu einer alles verändernden Zielsetzung, vorausgesetzt die Verstrickungen in Schuldzusammenhänge werden nicht verdrängt. Resultiert im Aufarbeiten von Kriegsverbrechen schliesslich das Eingestehen schwerster Schuld, ist dies mehr als wünschenswert. Das persönliche Verdrängen der Schuld beginnt dort, wo Lügengebäude errichtet und das Eingestehen von Verbrechen zum Landesverrat erklärt wurde. Dies umschrieb Hanna Arendt 1964: «Je grösser die Zahl derjenigen ist, die der Lügner überzeugt hat, desto geringer ist die Chance, dass er selbst noch zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden kann. Daraus folgt, dass die Lüge in der Öffentlichkeit (…) ungleich gefährlicher ist als das private Schwindeln.»[5]

    Schuld und Sünde
    Schuld und Sünde durchwirken das Kleid des Bösen. Sie provozieren im alltäglichen Diskurs kaum mehr zum Nachdenken. Eine lapidare Erkenntnis, die Alfred Delp noch vertrat, scheint aus dem Gedächtnis geschwunden. «Die Schuld gehört zum Leben wie das tägliche Brot.» Faktisch kommt niemand darum herum, sich auch belastender Schuld zu stellen, wie eine Bildreihe schildert: …. ich kann Schuld vertuschen oder übertünchen, einfach so und sagen: «Dieses Mal war’s mein Kavaliersdelikt.» «Mein Farbtopf hier enthält eben meine ‚Erbanlagen‘!» // …. ich kann das für mich schwere ETWAS hinter eine Wand rollen, verdrängen und schlicht mich selbst betrügen. Auch noch so spät, ETWAS rollt wieder zurück, weil nicht vergebene Schuld unser Leben prägt. // …. ich kann belastende Schuld verschönern oder dekorieren und fantasievoll mitteilen: «Das habe ich im Interesse meiner Firma getan, als ich Tausende von Franken auf das andere Konto verschoben habe…» // …. auf andere abschieben können, beruhigt mich. Uralt ist dieses Verfahren. Als Adam die Verantwortung auf Eva abschiebt, erhebt er heimlich Vorwürfe gegen Gott und Eva schiebt munter auf die Schlange weiter und heute sagen Menschen: «Es war Befehl von oben – ich musste gehorchen.» //…. als geborene Detektive ermitteln wir gerne im Leben anderer Menschen, erfinden Skandalgeschichten. Jesus kann es nicht lassen und sagt dazu: «Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge!» // …. aus eigener Kraft mich ganz aus der Verwicklung in schuldhafte Erfahrungen befreien, das wird jemand kaum allein können. Das Beratungs- und Beichtgespräch hat seinen Sinn darin, dass Menschen den persönlichen Zuspruch der Vergebung, das lösende Wort im Namen Christi an ihren persönlichen Namen erfahren können. // …. Wenn schon kann ich als kleiner Mann meine Last gut aufteilen. Schuld nach eigenem Ermessen und auf eigene Bemessung kultivieren. Dass dieser Trick in den Augen Gottes nicht aufgeht, erzählt seine Geschichte mit der Menschheit. Denn Gott liebt die Menschen zu sehr, als dass er seinen Frieden in ein geteiltes Herz verschenkt. Gott interessiert der ganze Mensch.[6]

    Gut und Böse erkennen
    Wer Böses erleidet, fällt mit seinem Leben in einen Un-Sinn, was das Leiden vervielfachen kann. Am Ende müssen wir dazu stehen, dass der letzte Sinn des Bösen nicht erkannt werden kann. So gesehen ist das Gegenteil des Bösen der Sinn, nach dem wir als zwiespältige Menschen verstrickt in Schuld und Sünde suchen. Auch stammen wir nicht einfach aus gutem Ursprung oder aus einer heilen Kindheit. Wir würden uns dadurch ein verlorenes Paradies vorgaukeln. Befreiend ist es darum, wenn der Anfang des Lebens auf der Erde von der Bibel so geschildert wird: Am Anfang war die Erde wüst und leer, es herrschte sprichwörtliches tohu-wa-bohu, Finsternis lag über dem Abgrund. Noch war das später so genannte Paradies da. Erst nur der Garten Eden als geschützter Ort, wohin Gott die Menschen stellte, Sicherheit vermittelnd sie vor dem Bösen schützte. Ein Akt, der ihnen die Freiheit nicht nehmen sollte, war doch in der Mitte des Gartens der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gesetzt.

    Nun kann echte Schuld als zu grosse Last belasten. Beim Unterscheiden in Gesprächen mit Seelsorgenden und Psychologen wird sie angesprochen, erkannt als ein Gemenge von Triebschicksal, eigentlicher Schuld, misslungener Erlebnisverarbeitung oder Fehlentwicklung.[7] Mit der Anerkennung eigener Schuld bietet sich die Chance, eine innere Wandlung zu vollziehen. Nüchtern und ehrlich kann die geistliche Autorin Jacqueline Keune notieren: «Ich bleibe vieles schuldig und leide mit zunehmendem Alter daran, auch wenn ich glaube, dass nichts in dieser Welt ganz fertig zu werden braucht und Fehler menschlich machen. (Als Kind hätte ich wohl gesagt: Sünden, obwohl es keine waren. Heute, wo es welche sind, bringe ich das Wort nicht mehr über die Lippen.)»[8]

    [1] Anna Schor-Tschudnowskaja: Russlands tiefe Leere, in: NZZ 23. April 2022, 21
    [2] Einordnung durch Judith Leister: Eine Stimme gegen das himmelschreiende Unrecht, in: NZZ Sa 16. Juli 2022, 39. Abschliessendes Zitat aus Michail Prischwin: Tagebücher, Band II. 1930 bis 1932, Berlin 2022
    [3] Zu den ideologischen Begründungen durch Wladimir Putin vgl. https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-278/186517/analyse-die-ukraine-aus-sicht-der-russkij-mir/ und seiner nach ihm benannten Ära https://en.wikipedia.org/wiki/Russian_world
    [4] «Die Russen haben Putin erschaffen. Er ist ihr Fleisch und Blut». Gespräch der Harvard-Historikerin Marci Shore mit Wolodimir Rafejenko, in: NZZ Sa 23. Juli 2022, 32f. 33. Vgl. zur nüchternen Einsicht des Völkerapostels: «Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, das treibe ich voran.» (Röm 7,19) Robert Vorholt: Der Beitrag der neutestamentlichen Exegese zum Nachdenken über das Böse, in: Christian Brüning, Robert Vorholt: Die Frage des Bösen. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments. Neue Echter Bibel Themen 6, Würzburg 2018, 63-126, ebd. 105-107
    [5] Zit. von Anna Schor-Tschudnowskaja aaO.
    [6] Vgl. Bilder in: neue gespräche für Familien und Gruppen 36 (2006) Heft 4
    [7] Anselm Grün: Vergib dir selbst. Versöhnung – Vergebung, Münsterschwarzach 1999, 97
    [8] Jacqueline Keune Mir immer neu gut. Eine Besinnung, in: auftrag, April 2007, 20

    Ein zweiter Zugang (März 2022)
    https://www.kath.ch/medienspiegel/kriege-konfrontieren-mit-dem-boesen/

    Ein dritter Zugang (2020)
    Stephan Schmid-Keiser: Wenn Gott zur Sprache kommt. Zur Erschliessung des Lesejahre B, Regensburg 2020, 213-230 zu
    Reden von Gott auf dem Prüfstand. Das Böse und die Hoffnung auf Allversöhnung – Über das Böse aus psychotherapeutisch grundierter Sicht – Hoffnung auf Allversöhnung? – Von Gott sprechen in den Brüchen der Welt (mit Impulsen aus Ottmar Fuchs: Der zerrissene Gott. Das trinitarische Gottesbild in den Brüchen der Welt, Ostfildern 2014).

    Angesicht des faktisch Bösen im Leben von uns Menschen steht ein gründliches Überdenken unserer Gottesbilder an…

    Stephan Schmid-Keiser, Dr. theol., Stutzrain 30, CH-6005 St. Niklausen LU

  2. Ich habe das Vertrauen in Gott, dass die Zulassung des Bösen ein Fallbeispiel, ein Exempel, ist. Es soll den Meschen und Engeln ein für alle Male zeigen, dass nicht Satans Art und Weise die Welt zu regieren – er ist wie Jesus sagte, der Herrscher der Welt -, sondern nur Gottes theokratische Herrschaft dem ewigen Wohl aller dient. Die Zeit der Zulassung des Bösen wird zu Gottes Zeit ein Ende haben, dann wird sein Reich, seine Regierung, erfüllen was Offenbarung 21,3-4 sagt: „Dann hörte ich eine laute Stimme vom Thron her sagen: „Das Zelt Gottes ist bei den Menschen, und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein. Und Gott selbst wird bei ihnen sein. Und er wird jede Träne von ihren Augen abwischen, und den Tod wird es nicht mehr geben. Auch wird es weder Trauer noch Aufschrei noch Schmerz mehr geben. Was früher war, ist vorbei.“

    1. Es ist einfach nur wunderschön. Dass ich Gott begegnen durfte, bleibt ein Wunder, für das ich Sprache finde, um diesen «Zustand» zu beschreiben. Danke für den wertvollen Beitrag!

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