Ja, es gibt sie noch. Jene, die an Karfreitag die Qualen des Gekreuzigten verinnerlichen und glauben können, dass sein Leiden unsere leidende Welt heilt. Die allermeisten jedoch gehen da nicht mehr mit. Wenn ihnen Karfreitag nicht schnurzpiepegal ist, schütteln sie vielleicht noch den Kopf: Wie soll aus Leiden was Gutes werden? Ich kenne viele, die es leid sind, sich selbst als so schlecht ansehen zu müssen, dass es den Tod des Gottessohnes zu ihrer Erlösung brauchte.
Und doch leiden an Karfreitag alle irgendwie mit, nämlich an den gesetzlichen Beschränkungen, die es verbieten, Party zu machen. An Karfreitag soll es ruhig und ernstlich zugehen.
Jeder Karfreitag fällt irgendwann aus der Zeit
Wenn Deutungen des Kreuzes nicht länger als lebens- oder glaubensdienlich erfahren werden, büssen sie ihre Plausibilität ein. Das war schon immer so.
In der Alten Kirche stand der Sieg Jesu Christi über den Teufel lange im Zentrum der Kreuzestheologie. Bis sich die Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch richtete. Anselm von Canterbury gelang ein äusserst zeitgemässer Wurf, als er plausibel machen konnte: Christus tut gegenüber Gott etwas für uns, was wir nicht vermögen, nämlich Gott in rechter Weise zu ehren. Die neuzeitliche Theologie entdeckte, dass am Kreuz nicht Gott versöhnt wird, sondern unser Bewusstsein mit der Tatsache, dass Gott in Liebe mit uns versöhnt ist.
Ein Kreuz – viele Deutungen
Wie die Kirchengeschichte, so bietet uns auch das Neue Testament nicht die eine Deutung des Kreuzestodes Jesu. Es hat eher kaleidoskopischen Charakter: Sobald sich mit den Verfassern und Empfängern der neutestamentlichen Bücher der sozio-kulturelle Kontext, das Milieu, Zeit und Ort ein wenig drehen, ergibt sich ein anderes Bild des Gekreuzigten.
Durchkreuzungen sind möglich
Die Kreuzigung Jesu Christi ist ein Ereignis, das sich unseren Deutungen immer wieder entzieht. Es durchkreuzt sie, um sich so neu zugänglich zu machen. Ich halte es für möglich, dass dies gerade geschieht. Und zwar ausgerechnet an der Stelle, wo das achselzuckende, höfliche oder bissige «Karfreitag? Tut mir leid» erklingt.
Was, wenn sich das menschliche mit einem göttlichen «Es tut mir Leid» kreuzt und verbindet? Was, wenn in einer derartigen Karfreitagsbotschaft nicht nur ketzerischer, sondern trotziger Geist zu uns weht, der uns hilft, die leidvollen und verzweifelten Phasen unseres Lebens auszuhalten?
Schon immer ketzerisch – der leidende Gott
Wie kommt man auf die schrägen Ideen, die ich im Folgenden einbringen möchte? Ein paar theologische Grundinformationen können helfen, ich werbe um geduldiges Mitgehen.
Dass Gott leidet und Schmerzen empfindet, ja, dass er Reue vollzieht und ihm etwas leidtut, ist ein alter Gedanke der jüdischen Geschichten und Traditionen.
Trotzdem gehörte die Leidensunfähigkeit lange zum Kernbestand der christlichen Gottesvorstellung. Denn ein Gott, der von den Ereignissen in der Welt geschockt und aus der Bahn geschleudert würde, wäre weder vertrauens- noch hoffnungswürdig.
Ausgelöst durch die Erfahrungen zweier Weltkriege und des Holocaust gerät die Vorstellung von einem allmächtigen, die Geschichte lenkenden Gott ins Rutschen. Immer mehr Theologien verstehen den Kreuzestod Jesu als ein Leiden Gottes. Für die Prozesstheologie ist Gott der Leidensgefährte des Menschen, für Karl Barth wählt Gott unsere Leiden zu seinem eigenen Leiden und Dietrich Bonhoeffer dichtet 1944 aus dem Gefängnis:
«Menschen gehen zu Gott in seiner Not, finden ihn arm, geschmäht ohn Obdach und Brot, sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in seinem Leiden.»
«Gott ist nicht im Himmel, er hängt am Kreuz»
Mit diesen Worten spitzt Dorothee Sölle das Leiden Gottes zu und fährt fort:
«Die Liebe ist nicht überirdische, eingreifende, sich behauptende Macht – und das Kreuz zu meditieren kann heissen, von diesem Traum Abschied zu nehmen.»
Darum geht es hier: Das, was die Leiden Christi endgültig unerträglich macht, ist die Dunkelheit des Karfreitags, jene Gottesfinsternis (Martin Buber), die der Gekreuzigte durchlebt und gegen die er aufbegehrt: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?»
Gott erleidet den Gott, der nicht hilft
Noch etwas abstrakt und wie unmöglich klingt es so: Gott von Gott verlassen. Der Sohn erleidet die Verlassenheit vom Vater, der Vater den schmerzvollen Verlust des Sohnes. So tastet sich Jürgen Moltmann an den Skandal eines gekreuzigten Gottes heran.
Der Tod wird eine Erfahrung in Gott, und dabei – das ist hier der Clou für uns – erleidet er genau das, woran wir Menschen leiden: Einen Gott, der schweigt, nicht hilft und abwesend bleibt.
Doch damit immer noch nicht genug. Neuere Deutungen der Passionsgeschichte – etwa bei Magnus Striet und Ottmar Fuchs – gehen noch weiter.
Gott mutet sich das zu, was er den Menschen zugemutet hat
Gottes Zumutung geschieht mit der Freiheit, die der Schöpfer riskiert und seiner Schöpfung geschenkt hat. Denn diese Freiheit bedeutet, dass das Leben unfassbar schön und lustvoll, aber auch elend abgründig und leidvoll werden kann.
Das Kreuz Jesu, so die verwegene These, ist die Tat, durch die Gott sich selbst behaftet und die volle Verantwortung für sein riskantes Schöpfungswerk übernimmt. Er durchleidet das, was er selbst «verschuldet» und den Menschen zugemutet hat.
Nur als Leidender kann er zeigen, dass er wirklich alles, sich selbst gibt, um seiner Schöpfung treu zu bleiben.
Richtig ketzerisch – der Gott, der sich entschuldigt
Jetzt steht der traditionelle Karfreitag tatsächlich Kopf: Gott sühnt nicht nur die Schuld der Menschen, leistet nicht nur Genugtuung für das, was die Menschen schuldig geblieben sind, sondern er sühnt das, was er den Menschen zugemutet hat und ihnen schuldig geblieben ist.
Gott entschuldigt sich, aber nicht oberflächlich und beschwichtigend mi einem schnellen «Sorry», sondern todernst.
Glaubhafter kann Gott es nicht bereuen, den Menschen so viel Not und Leid zugemutet zu haben, als dass er sich das alles selbst zumutet.
Und was bringt das jetzt bitteschön?
Es kommt mir hier nicht darauf an, so innovativ, frech und ketzerisch wie möglich zu erscheinen. Ich selbst bin mit diesen Ideen unterwegs, weil ich zu ahnen beginne, dass sie zu einer zeitgemässen Botschaft vom Kreuz beitragen, die lebensdienlich ist. Dazu abschliessend ein paar konkrete Punkte:
Karfreitag heisst, wir machen uns ehrlich
Unsere Zeit erfordert von uns einen kristallklaren Blick auf Elend, Leid und Katastrophen im Kleinen wie im Grossen. Haben wir uns nicht zu lange eine falsche, bequeme und egoistische Hoffnung geleistet, mit der wir über die Abgründe des Lebens hinweggeturnt sind?
Wenn der Gott, auf den wir hoffen, sich diese Hoffnung nicht leistet, dann scheint es angezeigt, ihm durch seine Passion hindurch zu folgen. Dorothee Sölle stellt sich das so vor:
«In Jesu Passionsgeschichte wird eine entscheidende Wendung vollzogen: die Wendung von der Bitte, verschont zu bleiben, zu dem verzweifelt klaren Bewusstsein, es nicht zu werden. Der Weg von Gethsemane nach Golgatha ist der Abschied von der (narzisstischen) Hoffnung.»
Karfreitag heisst, trotzkräftig aushalten
Das Leben wird uns treffen, irgendwann sogar tödlich, alles andere ist privilegierte Illusion. Seine Widerständig- und Abgründigkeiten, ja, seine Sinnlosigkeiten aushalten zu können, das ist was Grosses und wird oft ungeduldig übersehen. Aber wie schaffen wir das?
Nicht, indem wir optimistisch und erwartungspositiv bleiben.
Solange wir zu schnell glauben, dass es wieder gut wird, dass Gott es wieder gut machen wird, sind wir noch gar nicht bereit, von echter Hoffnung überrascht zu werden. Wer den eigenen Karfreitag mit Pseudo-Osterhoffnung abkürzen will, landet in der Verzweiflung. Ostern muss warten.
So schwach und erbärmlich es klingen mag, aber der Glaube, dass Gott mit mir leidet, hilft mir, durchzuhalten und mich in meiner (Selbst)Verzweiflung zu ertragen.
Es tröstet, wenn Gott zu uns spricht «Es tut mir leid», dann darin liegt die Bestätigung, dass es okay und dem Leben angemessen ist, ein leidender Mensch zu sein, auch ein an Gott verzweifelnder.
Karfreitag heisst, zu protestieren
Mit einer fatalistischen Fixierung von Leiden aller Art hat das hier nichts zu tun. Denn dass Gott mit mir an einem Gott leidet, der abwesend ist und nicht hilft, entbindet kraftvollen Protest.
Wie nötig es ist, die Stimme derer laut zu stellen, die in ihrem Leiden sogar noch zum Schweigen gebracht worden sind, zeigen etwa die kirchlichen Missbrauchsstudien der letzten Jahre.
Zeitgemäss und lebensdienlich scheint mir ein Karfreitag, an dem wir zusammen mit dem Gekreuzigten aufbegehren gegen die Täter:innen und Umstände, die das Leben unerträglich und unmenschlich machen.
Dass wir dabei ketzerisch klingen können, nehmen wir tapfer in Kauf.
9 Gedanken zu „Karfreitag? «Tut mir leid», sprach Gott“
Vielen Dank für diesen Beitrag. Endlich mal etwas, was für mich (fast) weit genug geht…;-)
Danke für diese Reaktion sozusagen von der anderen Seite her. Es gibt sicherlich solche, denen mein Beitrag zu weit geht, was ja auch okay ist. Da bringt dieses “fast) weit genug” für mich ne schöne Balance rein.
“Reanimieren” – echt jetzt? Es scheint, dass sich beim Leiden des Autors im Grunde darum handelt: “Wenn ihnen Karfreitag nicht schnurzpiepegal ist, schütteln sie vielleicht noch den Kopf…” Es ist erstaunlich, wie schlecht man heute in der Kirche damit zurecht kommt, dass Karfreitag – und damit das Christliche an sich – nicht allgemeinverständlich ist. Dabei war es das noch nie. Besonders ärgerlich ist der Schluss, wo das Kreuz dazu herhalten muss, das herkömmlich Täter-Opfer-Schema noch zu bestätigen. Denn die bösen Täter, das sind ja immer die andern…
Ja, in der Tat leide ich daran, dass so viel Kommunikation des Glaubens heute mehr als dürftig ist, sowohl inhaltlich als auch formal. Ich denke nicht daran, damit zurecht kommen zu wollen. Für mich wäre das lieblos gegenüber allen, die kopfschüttelnd aussen vor sind. Das, was Paulus die Torheit und den Skandal des Kreuzes nennt, ist in erster Linie kein Problem des Verstehens, sondern ein Problem, dass sich aus dem Verstehen ergibt: Leiden, Schwachheit und Tod? Das ist der Gott, an den die Christen glauben? Lächerlich! Genau diesen Stein des Anstosses wollte ich ins Rollen bringen.
Hinsichtlich des Täter-Opfer Schemas verstehe ich nicht, inwiefern das bestätigt wird. Gerade weil ich doch kurz vor Schluss Selbstkritik an der eigenen Kirche übe. Diesen Anstoss wollte ich wirklich nicht erregen.
Hey,
Sehr interessanter Ansatz. Bzgl. der Wahrnehmung des Kreuzesgeschehens finde ich mich im Formulierten durchaus auch wieder. Schön beschrieben. Danke dafür!
Habe die letzten Tage “Auferweckung” von Ingolf Dalferth gelesen. Das hat mich noch einmal zum Nachdenken gebracht. Dalferth zeigt auf, dass alle Christologie letztlich vom Auferweckungsgeschehen als Initialzündung des Christentums auszugehen hat. Inkarnation, Kreuz usw. muss ohne Ostern letztlich stumm und unverständlich bleiben. Das hat, wie ich finde, durchaus etwas Zwingendes. Von daher frage ich mich, ob Theologien wie von Sölle etc., die doch sehr stark auf das Leiden und die Ohnmacht Gottes rekurrieren, nicht immer zu kurz greifen müssen, bzw. am eigentlichen, an der Pointe vorbei gehen (müssen) und ob es letztlich nicht unmöglich für christliche Theologie ist, das Kreuz ohne Ostern zu betrachten.
Natürlich kann sich niemand für etwas entschuldigen, an dem er nicht schuld ist. Gott kann nur seinesgleichen hervorbringen, also absolut freie Wesen. Das bedeutet, der Mensch ist nach dem Bild und Gleichnis geschaffen.
Ein solches muss sich infolge der eigenen Wesenhaftigkeit von seinem Schöpfer trennen um selbstschöpferisch tätig sein zu können (Sündenfall). Aber als Geschöpf kann sich ein Wesen natürlich nur – gegenüber der scheinbaren Übermacht der Natur – nur ohnmächtig fühlen. Folglich musste der Allmächtige selbst in die Ohnmacht des Menschen eingehen, um dieses geistig-emotionale Hindernis des Menschen zu überwinden, damit nun wahrhaft der Weg des Menschen frei ist für die Überwindung der Natur, zur Theosis. Das ist das objektive Karfreitagsgeschehen.
Bausteine zur Christologie: https://www.academia.edu/93328040/Christologie
Vielen Dank, lieber Andreas! Endlich ein Sehen und Verstehen des Kreuzes, in dem die Balken nicht zu kurz sind für unsre Welt und mitten in der Gegenwart abbrechen. Sie halten durch, auch wenn es länger als drei Tage bis Ostern dauert. Hoffnungsfrohe Tage für dich und das reflab-Team
Für diesen Artikel braucht es die Leidensfähigkeit, gegebenenfalls von den eigenen oder übernommenen Vorstellungen Abschied zu nehmen oder sie zumindest in Frage stellen zu lassen.
Das nehme ich als Kompliment, danke von Herzen. Nicht zuletzt auch, weil das Kreuz Christi von Anfang an im Clinch lag mit klassischen Vorstellungen von Gott. Wenn wir das heute beibehalten können, umso besser.