»I can’t breathe«
»Bitte… ich kann nicht atmen…« Mit diesen gepressten Worten auf den Lippen starb am 25. Mai der Afroamerikaner George Floyd.
Er wurde verdächtigt, mit einem gefälschten 20-Dollar-Schein bezahlt zu haben. Eine vierköpfige Truppe von Polizisten hat ihn daraufhin gestellt und zu Boden gezwungen. Mit einem Knie auf dem Hals wurde er brutal festgehalten, bis er vor laufender (Handy-)Kamera erstickte.
Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art. Bei weitem nicht. Eine qualvoll lange Liste ungerechtfertigter und völlig unverhältnismässiger Polizeigewalt gegenüber Schwarzen Einwohnern der USA macht deutlich, dass Rassismus auch nach der Amtszeit des ersten Präsidenten mit afrikanischen Wurzeln noch nicht der Vergangenheit angehört.
Der Tod George Floyds, mitten in einem von der Pandemie-Krise geschüttelten Land, hat aber das Fass definitiv zum Überlaufen gebracht.
In mehr als 75 amerikanischen Städten füllten sich in den vergangenen Tagen die Strassen mit aufgebrachten, trauernden, zornigen Demonstranten, die nach Gerechtigkeit schreien.
Und ich?
Ich bin betroffen, irritiert, aber irgendwie auch sehr weit weg. Zwar habe ich Freunde in den Twin Cities (Minneapolis/St. Paul), die von der angespannten Situation, den Protesten und den Zusammenstössen mit der Polizei berichten. Wie wohl die meisten Schweizer*innen nehme ich das Ganze aber vor allem aus den Newsportalen und Sozialen Medien wahr. Was hat es mit mir zu tun?
Unsere Ausgangslage hier ist eine andere. Wenn ich auch nicht wage zu behaupten, die Eidgenossen hätten keinerlei Probleme mit Rassismus, so haben wir doch nicht dieselbe Geschichte wie die Vereinigten Staaten, und nicht dieselben Gräben, welche unsere Gesellschaft durchziehen.
Aber auch unter uns leben Menschen, denen zuweilen die Luft zum Atmen ausgeht. Menschen, die wir wenigstens metaphorisch zu Boden drücken, solche, die unser Unverständnis, unsere Vorurteile zu spüren bekommen.
Und auch uns ist dieser allzu-menschliche Reflex nicht fremd, das, was wir nicht kennen und verstehen, zunächst einmal als falsch und bedrohlich anzusehen. Evolutionsgeschichtlich hat uns dieser Reflex zweifellos vor vielen tatsächlichen Gefahren geschützt – er hat aber auch wertvolle Begegnungen verhindert und zahllose tragische Geschichten geschrieben.
In einer andern Haut
Es ist jetzt schon einige Jahre her, als ich zum ersten Mal Zeit mit einer Person verbracht habe, die sich als transsexuell versteht. Vorher hatte ich von diesem »Phänomen« nur in den Medien vernommen, aus hitzigen und ideologisch aufgeladenen Debatten, polemischen Berichten zu öffentlichen Sprachregelungen, oder dann aus philosophisch anspruchsvollen Auseinandersetzungen um Gender-Fragen.
Und jetzt sass sie vor mir. Oder besser: er. Aufgewachsen und erzogen als Mädchen, fühlte sich dieser Mensch in seinem Körper zunehmend unwohl. Und er suchte meinen Rat, als Pastor.
Ich verdanke dieser Begegnung (und es sind weitere gefolgt) einen Einblick in die Welt von Menschen, deren Lebensrealität mir bisher völlig unbekannt war. Menschen, die mitten unter uns leben, mit mir im Coop in der Warteschlange stehen, die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und dieselben Restaurants frequentieren – deren alltägliche Kämpfe und emotionale Befindlichkeiten mir aber erschreckend fremd waren.
Und diese Person hat etwas in mir geweckt: Eine Neugierde zu verstehen, mitzuempfinden, wenigstens ansatzweise nachzuvollziehen, wie es sich anfühlt, als diese Person zu leben.
Neugierig werden
Wir leben in einer globalisierten und pluralisierten Welt, in der sich Menschen verschiedenster Kulturen, religiöser, sexueller und weltanschaulicher Orientierungen denselben Lebensraum teilen. Um der Diversität an Menschen zu begegnen, welche heute in einem normalen urbanen Quartier wohnen, musste man vor wenigen Generationen noch eine Weltreise unternehmen (was den meisten natürlich verwehrt blieb).
Gleichzeitig – und es ist nicht so paradox, wie manche denken – leben wir in einer hochgradig fragmentierten Welt. Unterschiedliche Milieus, Subkulturen, Filterblasen koexistieren nebeneinander, ohne wirklich voneinander Notiz zu nehmen – ausser wenn es zu Spannungen und Interessenkonflikten kommt. Und dann eskalieren die Dinge oft schnell, weil man von Anfang an aneinander vorbeiredet, weil man auf demselben Globus gänzlich unterschiedliche Planeten bewohnt.
Und vielleicht liegt ja im Motiv der Neugierde der niederschwellige Anfang einer heilsamen Entwicklung. Könnte es nicht gerade die Neugierde sein, in die Haut des anderen zu schlüpfen, ein anderes Lebensgefühl nachzuempfinden, welche Brücken zwischen den Milieus schlägt und Filterblasen platzen lässt – bevor es zu Geschichten wie derjenigen von George Floyd kommt?
Das wäre doch ein Motto, das die Zeit nach Corona kennzeichnen könnte: Nicht »bleiben Sie zu Hause!«, sondern: »Gehen sie mal aus sich heraus!«