Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 4 Minuten

Was ich nach einem Monat mit meiner behinderten Freundin gelernt habe

Diesen Sommer habe ich einen Monat mit meinen besten Freundinnen verbracht. Eine davon ist behindert, im Sinne von stark eingeschränkt in ihrer Mobilität.

Es war nicht das erste Mal, dass ich mit jener Freundin Zeit verbrachte, dennoch hat mir diese längere Zeitspanne miteinander die Augen nochmals anders geöffnet. Mir gezeigt, wie stark ich die Welt in einem uneingeschränkten Körper erlebe.

Keinesfalls möchte ich mich hier nun als Expertin für Behinderung aufspielen, das wäre unglaublich anmassend. Da verweise ich gerne auf meine Kollegin Sarah Staub und deren Theologie der Behinderung.

Nichtsdestotrotz ist es angebracht, meine ableism-Brille – und damit die ableism-Brille von vielen unter uns – mal abzunehmen und anzuschauen.

Langsamkeit statt zack, zack

Wenn ich zum Beispiel zum Strand gehen wollte, hiess das: Ich nehme mein Tüechli, meine Badehose, vielleicht etwas Wasser mit und gehe. Zagg, eine Sache von zwei Minuten.

Mit meiner Freundin an den Strand zu gehen hiess: Wir brauchen einen Stuhl, damit sie sitzen kann, einen Sonnenschirm, genügend zu trinken, etwas zu essen, ich half ihr jeweils, die Schuhe anzuziehen und packte ihre Wanderstöcke ein, wenn’s zum Strand etwas bergab ging.

Dort angekommen, trug ich all diese Dinge an unser Plätzli, ging zurück, um sie abzuholen und ihr bei manchen steilen Tritten meine Schultern zum Abstützen anzubieten. Sobald sie eingerichtet war, sprich auf dem Stuhl sass, ging ich zurück, um das Auto zu parkieren.

Das ganze Prozedere dauert einiges länger als meine üblichen zwei Minuten. Und ja, ich fand das nicht immer toll.

Meine Bewegungen zu verlangsamen, ihr meinen Arm zu geben, wenn wir ein paar Schritte gingen, damit sie sich abstützen konnte – nein, das war nicht immer zu hundertprozentig was ich wollte.

Voll präsent bleiben, auch wenn die Situation nicht «delicious» ist

Die Situation fordert mich heraus darin, in einer hörenden Haltung unterwegs zu sein und dem zu folgen, was wir «delicious» nennen. Was heisst es denn, wenn ich zum Beispiel beim Schuhe Binden denke: «Voll nöd delicious»?

Nun. Das ist nicht ganz einfach, und Regeln oder Verallgemeinerungen gibt es hier keine. In meinem Fall war es absolut «delicious», mit meiner Freundin zum Strand zu gehen oder mit ihr Dinge zu unternehmen. In meiner Wirklichkeit existiert diese Art von Mathematik jedoch nicht, dass man manchmal echli doofe Dinge halt einfach erdulden muss, damit man dann zum Guten kommt. Nei Danke, dieses Spiel spiele ich nicht mehr.

In unserem Beispiel hier hiess es vielmehr: Ich bleibe präsent mit diesem «voll nöd delicious»-Impuls und schaue, woher er kommt.

Aha. Da fühlt sich jemand verantwortlich für meine Freundin, da hat jemand das Gefühl, Leela müsse etwas tun.

Wenn ich derart präsent bin, von Moment zu Moment, dann spüre ich: Das darf sich getrost wieder zurück entspannen, ins pure Sein.

Muss, wer mit Einschränkungen lebt, leise sein?

Herausfordernd fand ich auch, sowas wie einen Unwillen zu bemerken; einen Unwillen ihrer Unselbständigkeit gegenüber. Die so gar nicht zu ihr passt. Doch zu wem passt sie schon?

Muss, wer mit Einschränkungen lebt, eine leise Persönlichkeit haben? Sich nicht exponieren? Wie anmassend von mir!

Und wer von uns ist ohne Einschränkungen unterwegs? Niemand. Wir haben alle unsere «blind spots», blinde Flecken, die unsere Leben mühsamer machen, als sie sein müssten. Oder eigentlich sind.

Auch meine eigenen blind spots, meine Glaubenssätze waren und sind mir im Alltag extreme Hindernisse. Doch sie sind auch absolut notwendig und es ist nicht ein Problem, dass sie mir Steine in den Weg legen. Like, whatever karma you are working through, it is perfect.

Es geht mir in meinem Leben nicht darum, diese Verstrickungen loszuwerden – sondern durch sie hindurch mehr zu sehen, dank ihnen mehr von der Realität zu sehen und freier und freier zu werden. Auch Samadhi oder Moksha, jener Zustand der Befreiung aus dem Rad der Samsara, ist nicht so, wie unser Kopf sich das vielleicht gerne zusammenreimen möchte.

Nächstenliebe ist Selbstliebe ist Gottesliebe

Und so sehe ich: Meiner Freundin einen Monat lang die Schuhe anzuziehen und zu binden, deckt jene Stellen in mir auf, die diese nazimässige Denkweise «weniger als perfekt ist nicht OK» festhalten wollen. Jene Stellen, wo ich hart bin mit mir, mit meinen eigenen Unzulänglichkeiten.

Schön, fühlen die sich endlich sicher genug, sich zu zeigen. Wenn sie gesehen werden, können sie ebenfalls nach Hause gehen, in dieses Meer der ewigen und ungebrochenen Liebe.

Was wiederum die Begegnung mit Behinderung und Einschränkung in der Welt (aka dem Spiegel) total verändert. Und ich meiner Freundin voller Liebe die Schuhe anziehe oder ihr das Zmorge bringe.

Die liebevolle Zuwendung zu ihr in diesem Akt ist gleichzeitig liebevolle Zuwendung zu mir.

Ist Gottes liebevolle Zuwendung zu sich selbst – zu der Schöpfung, zu dir, zu mir. Nächstenliebe ist Selbstliebe ist Gottesliebe. Das zu erleben und nicht bloss zu denken dünkt mich eine zimli fantastische Sache.

Foto von Angelo Pantazis auf Unsplash

2 Kommentare zu „Was ich nach einem Monat mit meiner behinderten Freundin gelernt habe“

  1. Hallo, schön, dass du dir die Zeit genommen hast für jemand, dessen Leben nicht so easy ist…und dabei auch die Zerrissenheit gespürt hast…
    Ich erlebe das mit meiner Mutter, die 90 ist, und alles geht nur noch ganz langsam, wie in Zeitlupe (für mich) und den Moment auszuhalten und zu erleben ist nicht einfach, aber wertvoll.
    LG Det

  2. „Nicht einfach, aber wertvoll“ – ja genau! Und letzlich nährend oder erfüllend für alle Involvierten, wenn die Handlung / Beziehung nicht von Glaubenssätzen getrübt ist.. da sind wir wieder beim „nicht einfach“, nöd wahr;)
    Herzlich, Leela

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