Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 5 Minuten

Warum ich nicht allein sein kann

Es gibt wohl keine grössere Herausforderung, als einen Freitagabend entspannt allein zuhause zu verbringen. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich in der schaumgefüllten Badewanne, eingehüllt in den wohlriechenden Duft meines Zitronengras-Tees in einen bewegenden Roman abtauchen. Doch schon als ich das Badezimmer betrete, denke ich: «Welcher Mensch in meinem Alter sitzt freitagabends alleine zuhause?!» Ich nehme den Roman hervor, doch halte verunsichert inne: «Lese ich dieses Buch nur, um aus meinem traurigen Alltag zu flüchten?»

Und schon nach wenigen Augenblicken versinke ich statt im Badeschaum im Selbstmitleid.

Mach dich sichtbar!

Manchmal scheint das Alleinsein aber auch mühelos zu gelingen. Man kann allein zu einem Kraftort pilgern, allein im Kraftraum trainieren oder allein kräftig für die Uni büffeln. Doch ist das wirklich Alleinsein? Bin ich nicht ständig innerlich begleitet von meinen Freunden, meiner Familie und meinem zukünftigen Arbeitgeber, die alle staunen werden über meine Ausstrahlung, meine Ausdauer und mein Auskennen? Oft entpuppt sich das Alleinsein, als eine Allein-Performance, bei welcher das Publikum physisch erst später dazustösst, aber mich in meinem Kopf ununterbrochen anspornt.

Vielleicht fällt es mir ja gerade deshalb so schwer, allein zu sein, weil ich mich daran gewöhnt habe, mich selbst zu inszenieren. Sobald sich der Vorhang schliesst und ich nichts mehr vorzuführen habe, werde ich unruhig: «Ich kann doch nicht allein hier sitzen! Ich muss doch meine Spuren in der Welt hinterlassen und zeigen, dass mein Leben eine Bedeutung hat.» Unweigerlich folgt der nächste Gedanke: «Vielleicht hat mein Leben gar keine Bedeutung und es stört eigentlich niemanden, wenn der Vorhang für immer geschlossen bleibt.» So wechseln sich Performance und Einsamkeit ab, weil ich das eine nicht pausenlos durchhalten und das andere in der Pause nicht mehr von mir fernhalten kann.

Einfach «real» sein – geht auch nicht

Wie kann ich die Performance pausieren, ohne vom Sog der Einsamkeit erfasst zu werden? Ein Bekannter hält eine einfache Antwort bereit: «Ich hab meinen Insta-Account gelöscht um mein Leben nicht mehr inszenieren zu müssen. Ich will einfach real sein.» Doch bei näherem Hinsehen ist es weder möglich noch sinnvoll, immer «einfach real» zu sein. Wenn mich zum Beispiel jemand fragt, wie es mir geht, dann gibt es nicht nur eine echte Antwort. Mein Innenleben ist so komplex und chaotisch, dass ich mich jedes Mal entscheiden muss, welche Teile ich diesmal auf die Bühne treten lasse. Egal ob ich diese Entscheidung bewusst oder unbewusst treffe: Alles, was ich nach aussen sichtbar mache, ist nur eine kleine Auswahl von dem, was in mir drin abgeht.

Jede bewusste Kommunikation ist, genau genommen, eine Performance.

Natürlich gibt es graduelle Unterschiede, je nachdem wie bewusst ich meine Kommunikation steuere. Die skeptisch hochgezogenen Augenbrauen der Personalbeauftragten beim Bewerbungsgespräch fordern mehr Performance von mir als die lachenden Augen meiner besten Freunde. Doch selbst bei den Menschen, die mich nicht einmal ansehen müssen, um zu wissen, was ich denke, bleibt ein kleiner Rest an Performance. Auch sie sehen nicht frei in mein Innerstes, sondern sind Zuschauer von dem, was ich auf der Bühne meines Lebens präsentiere.

Durch das Innenleben scrollen

Ein Kommunikationsgeschehen ganz ohne Performance würde bedeuten, dass mein Gegenüber mein ganzes Innenleben vor sich hat und selbständig durch jedes Detail scrollen kann. Wenn ich mir vorstelle, dass meine indiskrete Nachbarin auf all meine Gedanken und Gefühle zugreifen könnte, wäre das äusserst unangenehm. Doch wenn es jemand wäre, dem ich vertraue, und der beim Blick hinter die Kulissen weder beschämt wegschaut noch kritisch beurteilt, könnte es dann nicht sogar befreiend sein? Ich werde gesehen, ohne mich sichtbar zu machen. Ich muss mich nicht mehr verhalten, um wahrgenommen zu werden. Die Performance ist pausiert, und bin trotzdem nicht einsam.

Wenn wir der biblischen Beschreibung von Gott folgen, dann hat sein liebevoll durchleuchtender Blick die Kraft, unsere Performance zu durchbrechen: Er kennt und versteht jeden Gedankenhauch und jeden Gefühlstropfen, noch bevor ich diese selbst fassen kann. Bei Gott gibt es kein «auf» und «hinter» der Bühne: Der Vorhang ist zerrissen.

Ich setzte mich gern diesem göttlichen Blick aus, der in die Tiefe meines Herzens vordringt. Oft sitze ich dazu einfach in der Stille, lasse meine Gedanken wie Wolken an mir vorüberziehen und spüre dazwischen die Wärme der Gegenwart Gottes. Manchmal bringe ich meine Gefühle zu Papier, und entdecke, wie mir Gott zwischen den Zeilen begegnet.

Und nicht selten werden alte, liturgische, betende Worte zu einem Spiegel, in welchem ich mich selbst zu erkennen beginne.

Ich empfinde das Gebet als einen Dialog, den ich nicht selbst führe, sondern von dem ich geführt werde: Gott scrollt durch mein Inneres, und ich darf dabei zusehen. Beten hilft mir, allein sein zu können. Denn ich fühle mich verstanden, obwohl ich mir kein Gehör verschaffe, und ich fühle mich gesehen, obwohl ich keine Spuren hinterlasse. Mein Leben ist sichtbar, obwohl – oder gerade weil – ich keine Menschen um mich habe.

Oft enden meine Gebete in einem leisen Schmunzeln. Wenn man mit demjenigen spricht, der die Fäden der Welt zusammenhalten muss, dann nimmt man sich selbst plötzlich nicht mehr so ernst. Das Selbstmitleid verschwindet. Mit einem guten Gefühl kann ich endlich versinken – im Roman, im Schaum, und im Alleinsein.

Anna Näf wurde dieses Jahr zur Pfarrerin ordiniert und tritt bald in Winterthur eine Stelle als Jugendarbeiterin an.

Bild: Unsplash

2 Kommentare zu „Warum ich nicht allein sein kann“

  1. Gerd und Christine Spranger

    Gerd und Christine Spranger
    Liebe Redaktion,
    Liebe Anna Näf,
    ihr Artikel hat uns gut gefallen und spricht viele Lebensbereiche an. Vor allem der Impuls: „Jede bewusste Kommunikation, ist genau genommen, eine Performance.“ Und doch sehen wir uns täglich in unserem Umfeld mit dem ‚Allein sein‘ konfrontiert. Es ist eine nicht ganz neue Erscheinung in unserer Gesellschaft, das Allein sein. Die Pandemie hat es uns vielleicht wieder mehr in das Bewusstsein gerückt. Allein sein heißt in die Einsamkeit abzurutschen und das erleben wir im engen Kreis der Familie. Ja, sicher auch Gebet hilft hier und ist unverzichtbar.

    Der Partner (Opa) ist vor einigen Jahren gestorben, Oma ist jetzt alleine und es macht ihr zu schaffen. Erst kürzlich haben wir eine Studie gelesen, die ihren Beitrag umfänglich bestätigt. Einsamkeit macht krank, mehr noch als das Rauchen, fanden Wissenschaftler dreier renomierten Universitäten heraus.

    Aber auch junge Menschen rücken immer mehr in die Einsamkeit. Soweit es um das Funktionieren in der Schule, im Studium oder im Beruf geht, scheint alles mehr oder weniger gut zu laufen. Privat aber sind die Kontakte dünn gesät, am Ehesten noch die über die sozialen Netzwerke. Unterhaltung online ist aber nicht das Gleiche, als sich etwa mit Freund*innen auf einen Cappuchino zu treffen, sich persönlich gegenüber zu sitzen und Menschen in einer schönen Umgebung um sich zu haben.

    Allein sein macht was mit uns, weckt Selbstzweifel und nimmt uns Lebensqualität. Ein gutes Netzwerk, gute Freund*innen hingegen bereichern, ebenso gute Gespräche. Sie geben uns den nötigen Schwung für den Alltag. Und wohin mit all unseren Ideen und Gedanken wenn kein persönlicher Austausch stattfindet? Oft schon haben wir unsere Freundschafts- und Ehebande gefestigt. Was wäre ein Urlaub ohne einen Partner, einer Partnerin oder gute Freund*innen?

    Sogar bei unseren Enkeln erleben wir es sehr intensiv, wie sehr sie den Kontakt zu Freund*innen suchen. Es dauert dann häufig nur wenige Minuten, bis sie lachend und laufend gemeinsam etwas unternehmen. Kinder sind so herrlich unkompliziert. Sicher können wir von ihnen lernen. Aufeinander zugehen, sich vertrauen und Zeit schenken, keine Hintergedanken und im Hier und im Jetzt den Tag erleben, das Leben genießen.

    Was kostet die Welt? In diesem Sinne nicht viel. Ein wenig Zeit und Empathie, ein paar nette Worte und kleine Hilfen im Alltag. Und „so Gott will“, erreichen wir auch die Herzen.

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