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 Lesedauer: 5 Minuten

Vom Charisma des gebeutelten Lebens

Wer dazu steht, dass das eigene Leben eher so lala bis schrecklich läuft, macht den ersten Schritt aus der „Tyrannei des gelingenden Lebens“ (Gunda Schneider-Flume). Auf diese Weise frei zu werden von etwas, ist wichtig. Noch schöner wäre es, frei zu werden für etwas. Mein Recht, unglücklich zu sein, kann ich so lange feiern, wie ich dafür beglückende Aufmerksamkeit und Anerkennung bekomme. Danach bleibt es, wie es ist. War’s das jetzt? Oder betrete ich mit dem Schritt aus den Zwängen des gelingenden Lebens einen neuen Weg in die andere Fülle des misslungenen Lebens?

Nicht gerade beneidenswert, aber höchst faszinierend

Ich bin beschenkt mit Menschen, denen hat ihr Lebensverlauf das Glück auf den Kopf gestellt. Die Härten und Zumutungen ihres Lebens gehen kurioserweise einher mit Begabungen, die sie selbst und ich nicht missen wollten.

Wie man das beschreiben kann, fand ich bei Helmut Schmidt, dem verstorbenen Altkanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er erinnert sich an den glühenden Sozialdemokraten Herbert Wehner: „Man merkte ihm an, daß er eine schwierige und möglicherweise auch schuldbelastete persönliche Geschichte hinter sich hatte. Die Folge war eine zerklüftete Persönlichkeitsstruktur. Aber Wehner hatte Autorität, ich möchte sie die Autorität des gebeutelten Lebens nennen“ (Außer Dienst, S. 16).

Wie schön wäre es, wenn jemand eines Tages so von mir schreiben könnte. Von meiner chronischen Gehörerkrankung seit Kindheit oder meinem selbst- bis fremdverschuldeten Scheitern. Von jenem erhofften und begehrten Teil meines Lebens, der mir einfach nicht vergönnt war – mein ungelebtes Leben.

Wie schön aber ist es, dass ich konkrete Menschen vor Augen habe, denen ich die Autorität, ja, das Charisma des gebeutelten Lebens zuschreibe.

Ich beneide sie nicht für ihren Lebensweg, aber zugleich wäre ich gerne wie sie, nämlich eine Seele von Mensch. Bevor ich aber dem wohltuenden Geheimnis dieser Menschen noch ein wenig nachspüre, braucht es einen dringenden Hinweis.

Denkfehlerwarnung

Achtung! Ein folgenschwerer Denkfehler richtet seit langer Zeit ziemlich Schaden an. Er geht so: Wir erleben bei uns selbst oder anderen, wie aus notvollen Lebensbedingungen etwas Gutes und Neues erwachsen kann. Da ist man echt baff und schüttelt im Rückblick staunend den Kopf. So weit so gut. Aber jetzt abstrahieren wir diese Erfahrung und setzen sie an den Anfang der Geschichte. Als hätten wir eine göttliche Perspektive, aus der heraus wir erklären könnten: Gott hat die notvolle Lebenssituation herbeigeführt und orchestriert, um dadurch das Leben nach vorne zu bringen. Eine Art geistlich-theologisches Prinzip, dass man gerne mit Römer 8,28 abkürzt: „Denen, die Gott lieben, dienen alle Dinge zum Besten.“

Ich kann nur davor warnen, das durchgeschüttelte Leben von Menschen geistlich zu bagatellisieren und schön zu theologisieren. Es gibt tragische Lebensverläufe, die für die Betroffenen bis zum Schluss sinnlos bleiben. Das muss – gerade in der Kirche – erlaubt und barmherzig mitgetragen sein.

Ein hör- und spürbares Seufzen im Heiligen Geist. Eben auch ein kirchliches Charisma, durch das Gott sein liebendes Faible für „zerbrochene Herzen“ und „zerschlagene Geister“, „glimmende Dochte“ und „geknickte Rohre“ ausleben kann (Ps 34,19; Jes 42,3).

Wenn Mitleid entwürdigt, könnte Staunen angesagt sein

Aber gibt es nicht auch ein anderes Charisma? Der Theologe Jürgen Moltmann hat es sogar gewagt, vom „Charisma des behinderten Lebens“ zu sprechen (Der Geist des Lebens, S. 205-207). Ein provokativer Perspektivenwechsel, der aber lebensdienlich sein kann. Denn die Entwürdigung der Geplagten und Schwachen geschieht ja nicht nur dadurch, dass sie von den vermeintlich Starken und Glücklichen ausgeblendet und an den Rand gedrängt werden. Entmündigung des gebeutelten Lebens ereignet sich auch dort, wo es nur mit Mitleid behandelt wird. Die Menschen, die ich jetzt vor Augen habe, verdienen aber mein Staunen. Etwa so: Sein Lebensradius wurde durch die Folgeschäden einer Vergiftung schmerzhaft enger. Aber wenn ich ihm begegne, betrete ich einen weiten Raum, der meine Lebensschritte leicht macht. Ihr zauberhaftes Klavierspiel verstummte, als der Krebs ihren Arm lähmte. Wie ist es möglich, dass sich in ihren Worten und Gesten das wohlklingende Leben derart ausbreitet und sie sogar eine Klavierklasse mitorganisiert? Und warum wird er nicht endgültig bitter, sondern bleibt liebenswürdig und hingabefähig, obwohl seine Ehe von Anfang an nicht das war, was er sich erträumt hatte?

Leben versprühen, ohne sich dabei gut zu fühlen

Menschen wie diese sind für mich Charismatiker. Was sie an Schönheit, Erhabenheit, Güte und Energie versprühen, mag einer Welt, die in ganz bestimmten Glücksvorstellungen verheddert ist, wie von einem anderen Stern vorkommen.

Ich erfahre es als die geerdete Gegenwart des Heiligen Geistes, die mir wohltut. Aber ich weiss mittlerweile auch: Den Gebeutelten bringt ihr Charisma häufig nichts, schon gar nicht, wenn man sie ständig darauf anspricht. Sie leben oft als Begeisterte, ohne dass daraus automatisch eine Selbstbegeisterung wird – ein Seufzen kann und darf bleiben.

Geistgewirkte Wiedererkennungseffekte

Trägt eine Gemeinschaft, deren Atmosphäre vom Heiligen Geist des Gekreuzigten durchweht ist, vielleicht entscheidend dazu bei, dass die vom Leben Zerbrochenen sich selbst neu erkennen? Moltmann deutet solche wechselseitigen Wiedererkennungseffekte an: „In der Passion Jesu Christi hat Gott das kranke, schwache, hilflose und behinderte Menschenleben angenommen und es zum Teil seines ewigen Lebens gemacht … Im Bild des gekreuzigten Gottes können die Kranken und Sterbenden sich wiedererkennen, weil dieser sich in ihnen wiedererkennt“ (S. 205).

Der Geist Gottes scheint die Glücksgrenzen, die wir uns selbst auferlegt haben, flüssig zu machen. Etwa indem ich auf die Gottähnlichkeit und das Charisma der Gebeutelten achte. Dann erkenne ich womöglich, wie mir mein Leben entgleitet, weil alle Energien darein fliessen, jedes noch so kleine Unglück unbedingt zu verhindern – oder zu verdrängen. Wer sind jetzt eigentlich diejenigen, denen das Leben misslingt, und die, denen es gelingt?

5 Kommentare zu „Vom Charisma des gebeutelten Lebens“

  1. Traurigste Menschen versuchen oft,
    andere glücklich zu machen,
    denn sie wissen wie es ist,
    sich vollkommen unnütz zu fühlen.
    Und sie wollen nicht,
    dass jemand anders sich auch so fühlt.
    Robin Williams

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