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 Lesedauer: 5 Minuten

Tanz am Abgrund. Ein Besuch im Johann-Jacobs-Museum

Eine Comicfigur versucht ihre Verfolger abzuschütteln, springt in rasantem Tempo über Dächer oder Schluchten, immer das Ziel – sich in Sicherheit zu bringen – vor Augen. Alles gelingt mühelos. Doch plötzlich wird die Comicfigur gewahr, was sie tut und wo sie sich befindet. Sie stockt und stürzt in den Abgrund.

Sich über den Abgrund hinweglachen

Animationsfilme zeigen diese Szene in unzähligen Variationen, weil eines klar ist: Wer sie sieht, bricht in lautes Lachen aus. Vielleicht wegen der Bewegung, die so abrupt und unvorhersehbar von der Horizontalen in die Vertikale wechselt. Vielleicht wegen der Schadenfreude, dass es die Comicfigur und nicht mich getroffen hat. Vielleicht auch wegen der Option, die mir eröffnet wird: Wenn ich nicht runter schaue, überwinde ich jeden Abgrund. Schön wär’s.

Besuch im Museum

Der Direktor des Johann-Jacobs-Museums, Roger M. Buergel hat uns diese Szene in Erinnerung gerufen als wir neulich dort waren. Nicht, weil er sich mit Comics beschäftigt, sondern weil er uns an dieser Szene klarmachen wollte, wie das Museum mit seinen Themen umgeht und wie es seine Ausstellungen konzipiert.

Ursprünglich war das Johann-Jacobs-Museum ein Kaffee-Museum. Doch irgendwann haben die Verantwortlichen gemerkt, dass das Thema Kaffee zu eng gefasst war. Wer vom Kaffee erzählt, muss auch vom Kakao erzählen und vom Silber und von den Handelswegen und vom Kolonialismus.

Globale Verflechtungen

Wer anfängt, über Zusammenhänge nachzudenken, landet schnell bei der Erkenntnis, dass die globalen Verflechtungen komplex sind. Nicht nur, weil Menschen schon immer miteinander Handel getrieben, sich bekämpft und bewundert haben. Sondern auch, weil sich in jedem zwischenmenschlichen Handeln immer verschiedene Motive mischen. Nur gute oder nur böse Motive gibt es nur in der Fiktion. Und auch, weil die Dinge und Werte, die da über den Globus wandern, an jedem Ort und zu jeder Zeit eine andere Bedeutung haben.

Das bedeutet zugleich, dass unsere europäischen Kategorien – wie Nationen, Kulturen und Epochen – nur bedingt taugen, die globale Komplexität zu ordnen und zu verstehen. Von Afrika oder China aus kommen andere Kategorien und Sichtweisen zum Tragen.

Etwas herausfinden wollen

Um nicht – wie bei der Comicfigur – in den Abgrund globaler Komplexität zu stürzen, sondern, um ihn sichtbar zu machen, hat sich das Johann-Jacobs-Museum Folgendes vorgenommen:

Es will in seinen Ausstellungen nicht Wissen darstellen, das man sich aneignen kann. Es will mit seinen Ausstellungen etwas herausfinden, damit auch die Besucher*innen selbst etwas herausfinden.

Darum folgen die Ausstellungen der Bewegung der Dinge über den Globus und durch die Zeit. In der aktuellen Ausstellung ist die «MS Basileia» der Ausgangspunkt. Ein Frachtschiff der schweizerischen Handelsmarine, dessen Matrosen in den 60er Jahren auf ihren Fahrten eher zufällig Ereignisse gefilmt haben. Die im Nachhinein historisch bedeutungsvollen Filmausschnitte werden konfrontiert mit Exponaten von Künstler*innen und Forscher*innen: Ein Bild, das die Gewalt auf einem Flüchtlingsboot einfängt. Ein Dokumentarfilm über die gefährliche Demontage eines riesigen Schiffswracks durch kollektive Handarbeit in Pakistan. Ein handbemalter Teller aus Meissen Porzellan, auf dem Waren von einer Dschunke auf ein grosses Segelschiff geladen werden. So sehr sich die Exponate gegenseitig aufladen und bereichern, so sehr sind die Lücken und Abgründe spürbar, die dazwischen liegen. Eine «grosse Erzählung», die alles zusammenhält, gibt es nicht.

Hier wird nicht Geschichte unterrichtet. Hier werden Geschichten erzählt.

Die eigene Geschichte miterzählen

Herr Buergel erwähnte, dass manche Besucher*innen etwas ratlos aus ihren Ausstellungen gingen, weil sie den Zusammenhang zwischen den Dingen nicht verstünden und sie ein Gefühl der Beliebigkeit beschliche. Das verstehe ich gut; es ist mir genauso gegangen. Bis ich begriffen habe, dass es nicht nur um das geht, was ich sehe, sondern auch um das, was in mir vorgeht.

Meine reiche Grosstante fällt mir ein, die so stolz auf ihr Meissen Porzellan war, dessen Schönheit sie bewunderte. In so einem kleinen bemalten Teller stehen der Schrecken der Ausbeutung und die Schönheit des kunstvollen Materials untrennbar nebeneinander. Beides gilt.

Oder ein Video von Steve McQueen, das ich in einer anderen Ausstellung gesehen habe. Dort werden Bilder der Kobalt-Verarbeitung in sterilen Labors, nur durch Roboterarme in immer gleichen Bewegungen ausgeführt, Bildern aus dem Kongo gegenübergestellt, wo Kinder und Jugendliche auf riesigen Halden mit Plastiksieben und blossen Händen Kobalt schürfen. Ein künstlerischer Zugriff, der in seiner Anschaulichkeit auch gleich ins eigene Herz greift.

Komplexität erweitern

Indem ich die Geschichten der Ausstellung mit meinen eigenen Geschichten verknüpfe, ordne ich die bestehende Komplexität der Dinge nicht, um sie handhabbar zu machen. Sondern ich erweitere sie durch meine eigenen Geschichten. Mache sie aber auch unausweichlich, weil jede Form der erzwungenen Eindeutigkeit auch mich und meine Geschichten beschneiden würde.

Als Herr Buergel uns die Geschichte mit der Comicfigur erzählte, dachte ich, er wolle die Abgründe des Nichtwissens überspringen, indem er sie sichtbar macht und Brücken aus Geschichten darüberlegt. Jetzt denke ich, er möchte, dass wir uns alle als Teil des Abgrunds betrachten. Weil es nicht darum geht, sich in Sicherheit zu bringen. Sondern weil es darum geht, dass wir uns dazugehörig fühlen.

Vielleicht fühle ich mich darum nach jedem Besuch im Johann-Jacobs-Museum immer so angeregt und lebendig. Obwohl das Leben dabei nicht einfacher geworden ist. Oder vielleicht gerade darum?

Wer sich für die Ausstellung „Ein Schiff wird nicht kommen“ interessiert, findet hier weitere Informationen.

 

Foto von cottonbro von Pexels

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