Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 3 Minuten

Schutzpanzer im Alltag

Manchmal lege ich mir am Morgen einen Schutzpanzer an.

Ich ziehe Kleidung an, die mich stärker fühlen lässt. Höre Musik, die mir Drive gibt. Wenn ich in Zürich aus dem Zug steige, richte ich mein Gesicht zu einem kontrollierten Ausdruck und beginne, aufrechter zu gehen.

Hatte ich im Zug noch Tränen in den Augen, weil mich etwas emotional beschäftigt hat, blinzle ich sie weg.

Ich lasse Privates am Bahnhof zurück – es wartet dort, bis ich Feierabend habe – und schlüpfe in meine professionelle Rolle.

Ein schwerer Panzer, mit Glitzer verziert

Man könnte schliessen, dass das eine Verkleidung sei. Aber ich bleibe ja ich, in diesem Schutzpanzer, in dieser Rüstung.

Ich möchte nicht zu einer anderen Person werden, sondern einfach etwas weniger verletzlich sein.

Die empowernde Musik, die ich höre, gefällt mir. Genauso wie die Kleidung. Der Panzer hilft mir und gibt mir Kraft.

Ich bin froh, dass ich ihn habe, und deshalb habe ich ihn mit Glitzer verziert und auf der Innenseite einen glänzenden, weichen Stoff angebracht.

Mit dem Panzer kommen die schwierigen Dinge weniger an mich ran. Einige Aspekte von mir sind vielleicht weniger sichtbar – und deshalb weniger angreifbar. Was auf mich zukommt, tut mir weniger weh.

Wenn der Panzer zu schwer wird

An manchen Tagen ist der Schutzpanzer aber auch zu schwer.

Manchmal schleife ich ihn im Laufe des Tages mehr schlecht als recht mit mir herum und er verrutscht immer mehr. Und wenn ich Pech habe, fällt er mir irgendwann runter.

Dann stehe ich da, mitten am Tag, völlig zerbrechlich, und alles trifft mich hart. Alle Pfeile und alle Steine prallen ungeschützt auf, und meine eigene Haut ist zu dünn für all das.

Wenn ich Glück habe, bemerkt aber auch jemand, dass mir der Panzer runterfällt.

Wenn ich Glück habe, sagt jemand in einem sicheren Moment zu mir: «Du hast heute nicht so Energie, ist alles ok?» Und wenn ich Glück habe, nimmt mir diese Person den Panzer für einen Moment ab und kümmert sich um mich.

Eine stärkende Umarmung

Dann kann ich durchatmen. Ich hole einen Moment lang Luft und kauere mich hin. Vielleicht weine ich dann auch kurz ein bisschen.

Vielleicht fragt die andere Person sogar, ob ich eine Umarmung möchte. Und ich spüre diese Umarmung, ohne Schutzpanzer, direkt und sanft und stärkend.

Und wenn ich danach den Schutzpanzer wieder anziehe, ist er ein bisschen leichter.

Die Welt ein bisschen sicherer machen

Natürlich wäre es schön, wenn die Welt so wäre, dass niemand einen solchen Schutzpanzer bräuchte. Aber so ist es halt nicht.

Was wir aber tun können, ist, einander einen Moment lang den Panzer, die Rüstung abzunehmen. Verletzlichkeit erlauben.

Dafür zu sorgen, dass die Umgebung einen Moment lang so sicher ist, dass unser Gegenüber seinen Schutzpanzer nicht mehr braucht. Durchatmen kann, Luft holen, und vielleicht kurz ein bisschen weinen.

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