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 Lesedauer: 7 Minuten

Romantische Liebe? Funktioniert nicht.

Die grösste Schweizer Jugendstudie, die Erhebung der ch-x von 2013, zeigt, dass Familie, zusammen mit Beruf und Freundeskreis, für Jugendliche und junge Erwachsene sehr wichtig ist. Ungefähr 70 % wollen später heiraten, am liebsten im Alter zwischen 25–30 Jahren, und über 70 % wollen später Kinder haben. Am liebsten zwei und zwar in einer stabilen Beziehung, mit finanzieller Absicherung und mehrheitlich im Rahmen eines klassischen Rollenmodells. Die Mehrheit der befragten Frauen möchte in den ersten drei Lebensjahren der Kinder keiner ausserfamiliären Arbeit nachgehen.

Stabile Erwartungen

Man kann die Mentalitäten und Wünsche, die Menschen mit Familien- oder Partnerschaftsvorstellungen verbinden, durch Befragungen erheben. Sie verändern sich über Jahre hinweg nur geringfügig. Dass mittlerweile 2 von 5 Ehen geschieden werden, ändert nichts daran, dass Menschen sich stabile Paarbeziehungen und klassische Familienmodelle wünschen. Zu wissen, dass viele Menschen sich in Patchworkfamilien organisieren, oder anzuerkennen, dass viele Elternteile alleinerziehend sind, ist etwas anderes als der Wunsch, selbst in solchen Modellen zu leben.

Anzuerkennen, dass selbstgewählte Kinderlosigkeit ein Ausdruck feministischer Emanzipation sein kann, ist nicht gleichbedeutend mit dem Entschluss, selbst keine Kinder zu wollen.

Der Grund eine klassisch bürgerliche Ehe einzugehen liegt heutzutage nicht mehr in fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz anderer Familienmodelle und häufig auch nicht primär in der Furcht vor einer sozial prekären Lage, in die man geraten könnte.

Menschen heiraten denn auch nicht primär aus einem Nutzenkalkül. Pragmatische Gründe, wie eine Absicherung im Todesfall oder bei Trennung, sind laut Umfragen sekundär. Sie sind weit weniger wichtig als der Wunsch nach einer stärkeren Verbindung mit dem Partner oder die Vorstellung, dass die Eheschliessung ein echter Liebesbeweis sei.

«Wirklich ganz um mich?»

Menschen sind Romantiker:innen. Und um dies zu verstehen, braucht man keine Umfragen zu studieren. Erfolgreiche Reality-TV-Formate sind aufschlussreich genug. Der Bachelor zum Beispiel ist ein erfolgreicher, unabhängiger Mann – mindestens war es ursprünglich so gedacht und wird bis zur Peinlichkeit weiter so inszeniert –, der sich ausgetobt hat und jetzt endlich doch bereit ist für die eine grosse Liebe. Nun wird er von hingebungsvollen, seinem Erfolg entsprechend schönen Frauen umworben.

Trotz TV-Kameras, übler Intrigen der Konkurrenz und inmitten wirklich schlecht geskripteter Dialoge findet er schliesslich die grosse Liebe.

Und viel wichtiger: Die grosse Liebe wird von ihm gefunden. Beide müssen es immer wieder fragen und bestätigt bekommen: «Geht es dir wirklich, wirklich ganz um mich?» (Ja, es gibt das Format auch mit umgekehrten Geschlechterrollen. Es ist dann aber eigentlich eine endlos in die Länge gezogene Dessouswerbung, in der sich alle fragen, ob sie den Badboy oder den Softy nimmt.) Man kann das oberflächlich finden. Oder fake. Ist es auch. Aber wie der Cola-Santa-Claus nur funktioniert, weil er in uns irgendeine ungelebte Kindheitserinnerung zum Schwingen bringt, fiebert ein echter Teil in uns Zuschauer:innen wahrhaftig mit: Meint sie es wirklich ernst? Weshalb küsst er sie, wenn er doch mit der anderen…?

Unter der Oberfläche

Andere Formate werben genau damit, diese Oberflächlichkeit und dieses nonchalente Maybe-Gehabe – «Ich probiere mich mal durch und schau so ein bisschen, was mir gefällt…» – auszuhebeln. In «Liebe macht blind» (Netflix) sehen sich die Paare erstmal gar nicht. Stattdessen führen sie tiefsinnige Gespräche – halt so tiefsinnig, wie das geht – in zwei voneinander getrennten Kabinen («Pods»).

So soll sichergestellt werden, dass Oberflächlichkeiten wie Aussehen, Körpergrösse oder Hautfarbe keine Rolle spielen.

Wer sich verliebt, darf einen Antrag machen. Wird der angenommen, folgen vier Wochen, in denen das Paar einen gemeinsamen Traumurlaub verbringt, zusammenzieht und sich gegenseitig die Familie vorstellt. Danach wird geheiratet.

Ähnlich schnell, dafür weniger emotional, sondern «wissenschaftlich fundiert», geht es in der Kuppelshow «5 Senses for Love – Heirate dein Blind Date» zu und her. Die Paare dürfen sich hören, riechen, schmecken – Kopfkino aus! – und betasten. Wenn sie durch diese vier sinnlichen Phasen genügend Oxytocin ausgeschüttet haben und sich die Ehe versprechen, dürfen sie sich zum ersten Mal in die Augen blicken.

Heimliche Hoffnung

Man kann über all dies den Kopf schütteln. Nur Trash-TV! Stimmt. Aber was fasziniert an dieser Pärchenversuchsanlage? Wenn wir doch ganz sicher wären, dass das nicht funktionieren kann, weshalb schauen es dann so viele Menschen? Kick durch Fremdscham? Vielleicht auch. Aber ein Rest bleibt – und dieser Rest kann nicht weggelacht werden, sondern beschreibt einen wichtigen Aspekt, wie Menschen über Liebe, Ehe und Beziehung denken.

Es ist die – ausser in TV-Formaten – heimliche Hoffnung, dass da jemand ist, die oder der mich so liebt, wie ich bin, und mich dabei so sieht, wie ich mich selbst gerne sehen möchte. Um diese Hoffnung aufrecht zu erhalten, strengt man sich an, genau dies einem anderen Menschen zu suggerieren:

«Ich sehe dich. Du bist wundervoll. Doch. Wirklich.»

Wir wissen jederzeit, dass das nicht wahr ist. Das spielt aber keine Rolle, denn um zu wirken, muss es nicht wahr sein. Wir müssen nur glauben, dass der oder die andere dies wahrhaftig meint.

Kraft der Illusion

Die Kraft dieser Beziehungsform besteht in der Illusion eines Glaubens an einen eigenen Wesenskern, der anerkannt und geliebt werden muss. Wer sich geliebt fühlt, denkt nicht: «O.K., ich bin zwar klein und etwas dicklich, dafür aber manchmal witzig. Das reicht offenbar für die Zuneigung meines Partners.» Man denkt: «Ich bin komplementär mit den Wünschen und dem Begehren meines Partners. Er meint nur mich.» Diese Illusion übt eine ungeheure Macht aus. Denn wer dies wirklich denkt, versucht den Vorstellungen auch weiterhin zu entsprechen. Zu schlimm wäre ein Entzug an Zuneigung.

Denn das eigene Selbst wird ja erst anerkannt und gerechtfertigt, indem jemand es unter allen anderen Personen für besonders liebenswert hält.

Deshalb darf Liebe nicht oberflächlich sein: Der Körper wird sich verändern, die Haare werden an den guten Stellen dünner und an den dümmsten Orten mehr. Die Haut wird faltig. Und die Hände werden alt. «Aber ich, ich selbst, meine Essenz…»

Liebe tut nur so!

Liebe tut nur romantisch. Sie gaukelt einem vor, ganz exklusiv, einfach so, als man selbst gemeint zu sein. In Wirklichkeit ist es umgekehrt. Man verpflichtet sich, immer einen anderen mitzudenken: «Was würde sie sagen zu diesem Pulli?» «Hat er überhaupt Freude, wenn ich heute unsere Nachbarn einlade?»

«Findet er es irgendwie heraus, wenn ich mit meinem Kollegen schlafe?»

Besonders grausam sind jene Beziehungsformen, die sich gegenseitig erweiterte Freiheiten einräumen wollen. Offene oder halboffene Beziehungen. Sie setzen die Ungewissheit auf Dauer und zwingen sich gegenseitig, diese Unsicherheit als Liebe zu bejahen. Das mag ethisch sein. Grausam bleibt es trotzdem. «Informed Consent» ist gut für Patientenverhältnisse, nicht für Ehen.

Ein weltlich Ding

Der Ehe hat es auch ganz sicher nicht gut getan, religiös-metaphysisch überhöht zu werden. Weder als Sakrament, noch als Abbild der Gott-Weltbeziehung. Ehen sind sehr weltlich. Solche, die länger als 20 Jahre dauern, sind Arbeitsgemeinschaften, in denen zahlreiche Grossprojekte, Krisensituationen und Ausnahmezustände gemanaged werden, gleichzeitig mit unzähligen Kleinprojekten wie Urlauben oder Geburtstagen. Dafür werden Finanzpläne und Sparpläne erstellt, Aufgaben zugeordnet und Prioritäten verhandelt. Je nach Phase ist der eine oder die andere der stärkere Part des Teams. Oft wissen beide nicht weiter.

Die Spülmaschine

Ehen, in denen Menschen wirklich frei sind, sind Beziehungen, die sich vom Druck entlasten, einander zu gefallen. Nicht so, dass man sich des anderen sicher ist. Aber so, dass man nicht in einer permanenten Probezeit steckt. Dafür ist ohnehin kaum Raum. Denn meistens geht es weder um den einen noch um die andere. Sondern um ein Kind, das schreit, eine Stelle die gewechselt werden soll, eine Nachbarin, die Hilfe braucht, ein Auto, das repariert werden muss. Und immer um die Spülmaschine, die noch auszuräumen ist.

Man müsste eine neue TV-Show machen. Eine, in der beide neben einer Sirene einschlafen, beide gleichzeitig wegen ihres Jobs weg müssen und keinen KiTa-Platz für das Kind haben, betrunken ihre Mütter kritisieren und dabei in einem Haufen ungewaschener Wäsche sitzen müssen. Sie mit fettigen Haaren. Er mit Schweissrändern unter den Achseln des etwas zu engen Hemds. Das wäre romantisch.

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