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 Lesedauer: 7 Minuten

Pfingsten? Her mit dem intensiven Leben!

Ein hochintensives Sprach- und Hörerlebnis

Fünfzig Tage (pentekoste = Pfingsten) nach der Auferstehung Jesu geschieht in Jerusalem etwas Ausserordentliches: Frauen und Männer, die sich bis dahin verunsichert und ängstlich zurückgezogen haben, treten in der Öffentlichkeit auf. Und wie! Mutig, selbstbewusst und mit wundersamer Wirkung. Denn obwohl sie in Aramäisch reden, hören die Menschen im internationalen Publikum die Worte in ihrer jeweiligen Muttersprache. Ungehemmtes Sprechen und Hören.

Wer sich noch daran erinnert, wie der Turm von Babylon auf dem Weg gen Himmel wegen Sprachenverwirrung stecken blieb, erlebt ein blaues Wunder: Vom Himmel braust der Geist Gottes herunter, breitet sich unter den Menschen aus und verbindet sie über jegliche Sprachbarrieren hinweg.

Sich selbst als geisterfüllt begreifen können

Die überwältigende Erfahrung, ergriffen zu werden und andere zu ergreifen, führt bei allen Beteiligten dazu, dass sie etwas begreifen:

«Wir sind erfüllt, inspiriert und ermächtigt vom Geist Gottes!»

Dieser Geist Gottes war schon in der Geschichte Israels am Werk, in den Taten einzelner Menschen oder Gruppen, die alle anderen in die Zukunft mitrissen. Der Höhepunkt der Geistgegenwart Gottes ereignete sich im Leben Jesu, der daher als einzigartig Geistgesalbter – Messias und Christus – geglaubt wurde. Und nun hat Gott diesen Geist über alle Menschen ausgeschüttet und damit demokratisiert.

Die berühmteste Geistgeschichte der Christenheit

An Pfingsten entstand das Sendungs- und Selbstbewusstsein des frühen Christentums:

«Der Geist Gottes zieht uns in seine Geschichte hinein und ermächtigt uns, sie weiterzuschreiben.»

Deshalb ist Pfingsten die prominenteste Geisterzählung in der Geschichte der Kirche. Sie hat einen Sog, der bis heute nicht abgerissen ist. Der Punkt, an dem uns dieser Sog erfassen kann, ist die grosse Sehnsucht nach einem intensiv gelebten und gefühlten Leben.

Wo sind die intensiven Lebensmomente nur geblieben?

Die Erinnerung an sie mag noch da sein: Momente, in denen uns etwas angesprochen, erregt, berührt, emotional überwältigt, erstaunt und verwundert hat. Man könnte von Rührung sprechen oder auch von Begeisterung, in der wir uns auf lebendigste Weise animiert fühlen.

Als Kleinkinder erlebten wir alle zwei bis drei Minuten einen Begeisterungssturm, so die Hirnforschung. Und auch die Kindheit und Jugend waren voll von jenen «Awe-Momenten», die mittlerweile wissenschaftlich erforscht werden.

Wo aber sind sie hin, und was ist mit den grossen Emotionen passiert, die mit ihnen einhergehen? Viele Erwachsene fragen sich das heute.
Statt die erhellenden Diagnosen zu wiederholen, die uns erklären, wie es dazu kam, möchte ich im Folgenden lieber versuchen, unserer Sehnsucht nach intensivem Leben eine pfingstliche Orientierung anzubieten.

Nichts berührt uns mehr als ergriffene Menschen

Eine vielversprechende Frage bei der Erforschung von Awe-Momenten oder den sogenannten Gipfelerfahrungen des Glücks und der Erfüllung (Abraham Maslows «peak experiences») ist die hier: Was begünstigt und stimuliert diese Erfahrungen? Eine Umfrage unter 2600 Personen ergab, «dass die moralische Schönheit uns in ehrfürchtiges Staunen versetzt wie nichts anderes. Sehen oder hören wir von Menschen, die mutig, grossherzig oder ethisch integer handeln, sind wir ergriffen» (Elke Hartmann-Wolf in Psychologie heute, 12/23, S. 16).

Menschen, die von etwas ergriffen sind, etwa einem Projekt, einem Anliegen für andere, der Schönheit der Welt, berühren uns und stecken uns mit ihrer Ergriffenheit an.

Verfolgen wir diese Spur noch ein wenig weiter.

Ergriffenheit – hoch und heilig

Die Pfingstgeschichte berichtet von Menschen im Zustand des Ergriffenseins. Das, wovon sie ergriffen sind, ist etwas Göttliches und Heiliges. In solch religiösen Erfahrungen stellen sich nicht nur die erhebenden bis euphorischen Gefühle ein wie jubelnde Freude oder verblüfftes Staunen. Wir werden unter Umständen auch erschüttert und halten ehrfürchtig inne, weil wir etwas Grosses, Erhabenes und Überwältigendes ahnen. Ähnlich wie die Religionspsychologie spricht die noch junge Ehrfurchtsforschung  von dem Gefühl, «in der Gegenwärtigkeit von etwas Grossem zu sein, das unsere Vorstellung von der Welt transzendiert» (Psychologie heute, 12/23, S. 15).

Ergriffenheit – alltäglich und still

Die Trigger für intensive Lebensmomente müssen aber gar nicht übernatürlich, spektakulär oder grandios sein. Die liebevolle Geste, das Reh auf der Wiese, ein inspirierendes Gespräch, eine  Scheibe Brot, der wohlriechender Raum oder sonst irgendein Weltausschnitt genügen. Und oft macht die Ergriffenheit dabei keinen Lärm, sondern hält uns in stiller Andacht. Schwingen unterschiedliche Emotionen im selben Moment zusammen, wird es besonders intensiv: Die rauschende Freude einer Hochzeitsfeier geht einher mit melancholischen Gefühlen des Loslassens.
Die Wunder des Lebens finden sich mitten im normalen, schlichten Klein-Klein unserer Tage. In diesem Sinne ist der Heilige Geist alltagstauglich. Einer meiner Lehrer aus der Zeit in Vancouver, Eugene Peterson, hat es einmal so gefasst:

«There is no place on this earth that is without potential for holiness, or potential for unearthing holiness. Right where we are. With these people we are with.»

Ergriffenheit – tief und dezent

Intensiv ist das Leben auch dort, wo es auf dem Spiel steht und wir es als widerständig und abgründig zu spüren bekommen. Wenn ein Unfall geschieht, ein Mensch geboren wird oder stirbt, die Erde bebt. Gerade an dieser Stelle mag ich das Konzept «Ergriffenheit» besonders. In weiten Teilen meint er zwar das, was wir als Begeisterung erfahren.

Aber ich kann nicht sagen «Ich bin begeistert von Deiner gesundheitlichen Not». Wohl aber bin ich davon berührt und ergriffen.

Dann schweige ich, seufze mit der Welt, leide mit den Menschen oder noch besser: packe helfend an.
Ich liebe die leisen und stillen Weltverändernden, die mit ihrer dezent glühenden, unauffälligen Ergriffenheit viel wichtiger sind, als wir oft wahrnehmen.

Von Anfang an hat das Christentum den Geist von Pfingsten auch in den Tiefen des Lebens gespürt und gerade dort tröstend bis trotzig am Werk gesehen.

Ergriffen sein – eine der wünschenswertesten Lebensweisen

Mein Versuch, die gegenwärtige Sehnsucht nach intensivem Leben mit der Geistergriffenheit von Pfingsten zu verbinden, ist kein weiteres Angebot zur Steigerung des eigenen Lebens. In dieser Logik des erfüllten Lebens werden wir immer dazu neigen, Hochmomente auf Dauer stellen zu wollen. Das führt höchstens zu Formen der Besessenheit. Wie oft haben wir es schon erlebt, dass sich Erlebnis- und Begegnungsqualitäten nach extensiver Ausdehnung oder quantitative Vermehrung nicht vertiefen, sondern abgegriffen anfühlen.
Auch muss nicht eigens betont werden, dass es eine Menge übler Geister gibt, von denen wir uns besser nicht ergreifen lassen. Ergriffenheit ist nicht per se gut.
Worum es geht:

Pfingstliche Ergriffenheit ist eine Art zu leben, in der wir uns für die Möglichkeiten des Guten offenhalten, ja, uns mitten in sie hineinhalten.

Ich bin so frei und lasse mich ergreifen

Dass uns der Geist Gottes mit der Fülle des Lebens erfasst, können wir nicht autonom-aktiv machen. Gleichzeitig sind wir einem solchen Erlebnis aber auch nicht passiv ausgeliefert. Wir können uns aktiv dazu verhalten und unter Umständen verweigern, was sehr wichtig sein kann, wenn wir uns überwältigt und dadurch vielleicht bedroht fühlen.

In der Mitte zwischen «ergreifen» und «ergriffen werden» liegt, dass wir uns ergreifen lassen.

Für den Religionsphilosophen Jörg Splett ist das der Grundvollzug unserer Freiheit in allen Bereichen unseres Lebens, sei es in der Beziehung zur Welt, zu Gott oder auch zu uns selbst.

Ich mach mich auf und übe

Was wir also tatsächlich tun können, ist, unsere Wahrnehmung zu sensibilisieren. Denn dadurch entwickeln wir ein Gespür dafür, was in unserem Leben die günstigen Bedingungen sind, die Ergriffenheit möglich, vielleicht sogar wahrscheinlicher machen. Zum Glück haben wir da heute eine Fülle an Übungsangeboten. Auf eines, das mir aufgefallen ist, möchte ich hinweisen. Es ist das Interventionsprogramm, welches Arndt Büssing, Professor und Gesundheitsforscher an der Universität Witten/Herdecke entworfen hat.

Ich lasse mich über meine Grenzen herausreissen

Awe-Momente, Ergriffenheitserfahrungen und ehrfürchtiges Staunen haben nachweislich gesundheitsfördernde Wirkung. Sie befreien uns von einer unguten Selbstfixierung, helfen beim Umgang mit den Herausforderungen des Lebens und fördern unser Wohlbefinden. Bewegende Momente, die wir gemeinsam erleben, stärken unsere Verbundenheit.
Sehr bescheiden und doch beherzt schrieb Franz Kafka in seinen Tagebüchern von der raumgreifenden und weitenden Wirkung des Ergriffenseins:

«Ich fühle allzusehr die Grenzen meiner Fähigkeit, die, wenn ich nicht vollständig ergriffen bin, zweifellos nur eng gezogen sind. Und ich glaube selbst im Ergriffensein nur in diese engen Grenzen gezogen zu werden, die ich dann allerdings nicht fühle, da ich gezogen werde. Trotzdem ist in diesen Grenzen Raum zum Leben und dafür werde ich sie wohl bis zur Verächtlichkeit ausnützen.»

In solchen Sätzen resoniert für mich der Pull-Faktor der Pfingstgeschichte. Es muss ja nicht immer so wild und ekstatisch zugehen wie damals. Aber sich ergreifen zu lassen, um die eigenen Grenzen auszureizen, ja, vielleicht auch mal zu übersteigen, darauf hätte ich grosse Lust. Und daher rufe ich an diesem Tag umso eindringlicher:

«Komm, Schöpfergeist!»

Photo by Atahan Demir on pexels.com

9 Gedanken zu „Pfingsten? Her mit dem intensiven Leben!“

  1. Vielen Dank für die Erinnerung an diese Ergriffenheitsmomente der Kindheit und des Alters. Ein Ansatz, der mich seit meinem Literaturstudium bis heute begleitet, ist von Emil Staiger, einem Schweizer Professor für Literatur, der trotz einiger unrühmlicher Phasen seines Lebens wegweisendes für die Germanistik geschaffen hat. Zur Rezeption von sprachlicher Kunst empfahl er: “Begreifen, was mich ergreift.” Manches Mal wünschte ich mir das auch in der alltäglichen Begegnung.

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    • Tolle Ergänzung, lieber Sven-Erik, danke dafür.
      Bei Jörg Splett ist mir die Grundfigur auch begegnet. Er setzt dem Primat des Begreifens das Ergriffensein entgegen. Schön formuliert in seinem Buch “Gott-ergriffen”: Und solches Sich-Erfassen-Lassen ist – so die Kern-These dieses Buchs – vor Aktiv und Passiv die Grundvollzugsweise von Sein und Leben in allen seinen Dimensionen, der ethischen, ästhetischen, erotischen, sexuellen wie religiösen: überall steht am Anfang ein Ergriffenwerden, das man nicht (autonom-aktiv) machen kann, dem man jedoch auch nicht rein passiv ausgeliefert ist; denn man kann sich verweigern.

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      • Warum nur nimmt dieses Ergriffen-Sein so sehr ab, lieber Andi? Haben wir eventuell gar keine Zeit oder gar keinen Raum mehr dafür. Ist es dieses “und dann braucht man ja auch noch Zeit einfach nur dazusitzen und vor sich hinzuschauen” von Astrid Lindgren oder eher das “Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es loszuwerden” von Goethes Werther?
        Staunen, hinschauen, sich berühren lassen, berührt werden, Rührung wahrnehmen, zulassen, sich darauf einlassen. Kann das Glaube leisten? Hat es nicht mit dem Loslassen von gewussten und gemachten Sicherheiten zu tun? Da greift etwas nach mir, in mir, auf das ich keinen Einfluss habe. Für mich schwingt hier immer etwas von dem “wenn ihr nicht werdet wie die Kinder” mit. Die sich mitreißen lassen, vereinnahmen, begeistern, ergreifen. Nicht von großartigem, sondern von momentan wichtigem, besonderem, situativem. Ja, Du hast recht mit Deinem Hinweis auf Jörg Splett, das ist alles in allem ethisch, ästhetisch, erotisch, sexuell und religiös. Und vor allem ganzheitlich, nicht nur kognitiv, oder am wenigstens kognitiv, vielmehr körperlich spürbar, eine durchdringende Erregung von Körper und Geist.

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