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Opfer für die Selbstzufriedenheit

Die Corona-Pandemie hat unsere Gesellschaft nicht grundsätzlich auf den Kopf gestellt. Die Reichen sind weiterhin reicher geworden und während wir basisdemokratisch über die Corona-Massnahmen streiten, sind wenigstens wir Europäer:innen alle in der komfortablen Lage, über genügend Impfstoff und bewährte demokratische Verfahren zu verfügen. Wer hat, dem wird gegeben.

Wie eine Lupe

Aber die Corona-Pandemie wirkt für gewisse Phänomene und Zusammenhänge wie eine Lupe, die Dinge in unseren Lebenswelten vergrössert, die wir sonst kaum wahrnehmen. Die Gleichzeitigkeit von Wissenschaftsskepsis und blindem Wissenschaftsglauben etwa. Oder die weltweite Chancenungleichheit auf medizinische Versorgung. Die Möglichkeit auf Flugreisen zu verzichten. Oder die Doppelbelastung von Job und Familie.

In den letzten paar Tagen hat die Lupe einen weiteren interessanten Ausschnitt gezeigt: Unseren Umgang mit Starken und Mächtigen im Moment ihrer Schwäche.

In nur wenigen Tagen wurden der Verwaltungsratspräsident der Credit Suisse António Horta-Osório, der Premierminister des Vereinigten Königreichs, Boris Johnson und Novak Đoković, der beste Tennisspieler der Gegenwart, aufgrund von Verstössen gegen Covid-Massnahmen zu öffentlichen und internationalen Spottfiguren. Die Fälle und die Protagonisten unterscheiden sich stark. António Horta-Osório war wahrscheinlich als CS-Präsident zu stark für ein Gremium, das Veränderung braucht und selbst Teil des Problems ist. Und bleibt. Weil Horta-Osório über private Lappalien gestrauchelt ist. Johnson hat einmal mehr gelogen. Dieses Mal wahrscheinlich in einem Punkt, der vielen aufgrund persönlicher Entbehrungen zu nahe geht, als dass sie es dem Wirrkopf-Charme dieses blendenden Rhetorikers durchgehen liessen. Und Đoković? Ist eben Đoković. Schlecht beraten, Bewohner eines Universums, das sich um ihn selbst dreht.

Was ist falsch mit denen?

Wahrscheinlich wäre es mir kaum in den Sinn gekommen, diese Pressemitteilungen miteinander zu verknüpfen. Aber zufällig habe ich mir letzte Woche die Dokumentation über Martina Hingis angeschaut. Die 18-jährige Schweizerin ist als Nummer eins der Welt in Roland Garros angetreten, um mit dem letzten noch fehlenden Titel ihren Karriere-Grand-Slam zu komplettieren. Gegen Steffi Graf hat sie nicht nur das Finalspiel und die Nerven verloren, sie wurde vom Publikum ausgebuht, beschimpft und gedemütigt. Ich war fassungslos. Erwachsene Menschen, Tennisfans, buhen eine 18-Jährige aus? Was stimmt nicht mit denen?

Viele haben auf Twitter oder in Facebook gefragt, weshalb man über einen weissen, privilegierten Mann so viel Aufhebens mache, der in Australien gestrandet sei, wo es doch so viele wichtigere Probleme gäbe.

Man könnte auch fragen, weshalb Horta-Osório ausgerechnet über die wahrscheinlich zwei unwichtigsten Entscheidungen, die er im letzten Jahr getroffen hat – nach nur drei Tagen Quarantäne weiterzufliegen und das Wimbeldon-Spiel zu besuchen – gestrauchelt ist. Oder weshalb Johnson, der weit Krasseres und Unanständigeres zu verantworten hat als seine Teilnahme an einer Gartenparty in Corona-Zeiten, sich jetzt im Unterhaus fragen lassen muss, weshalb die gleichen Regeln nicht auch für ihn gelten. Als ob das jemals der Fall gewesen wäre.

Natürlich gibt es nichts schönzureden, wenn Horta-Osório sich nicht um Quarantäne-Bestimmungen schert, Johnson in just dem Zeitraum, in dem die Queen sich einsam von ihrem Mann verabschieden muss an einer Gartenparty teilnimmt oder Đoković sich mit Journalisten trifft obwohl er weiss, dass er positiv auf Covid-19 getestet worden ist. Hinter all dem steht ein Elitismus. Der ist zwar falsch aber nachvollziehbar. Wer täglich über 14’000.- SFr. verdient, als Teenager in den ATP-Zirkus einsteigt oder seinem Bubentraum «König der Welt» zu werden erstaunlich nahe kommt, kann den Bezug zu unserer Wirklichkeit verlieren. Spannender ist jedoch, dass uns das dermassen triggert.

Rührend und traurig

Unser Interesse und die ausufernde mediale Berichterstattung dazu hat zwei verschiedene Gründe. Einmal der Wunsch, den Menschen mit guter Kinderstube nie loslassen können, dass berühmte Menschen, Verantwortungsträger:innen, Mächtige und Entscheider:innen vorbildhaft handeln sollen. Nur wenn die Elite die Regeln einhält, kann das Fussvolk das auch. Dieser Grund ist im Kern rührend und traurig zugleich:

Wir wünschen uns Vorbilder, zu denen wir aufschauen können, die uns Orientierung versprechen und das Beste in uns wecken.

Weil wir uns nicht zutrauen, das Gute aus uns selbst heraus anzustreben und nach den Massstäben zu leben, die wir als richtig akzeptieren.

Zweitens als Verlangen, die eigene Bedeutungslosigkeit, das eigene Scheitern und das hinter seinen Idealen zurückbleibende Selbst in den warmen Mantel des Versagens anderer zu kleiden. Das ist nur traurig.

«Ich bin zwar weder so ehrgeizig noch so talentiert wie XY, aber schaut: Er hat in die Hosen gemacht.»

Gesichtsverlust

Es ist eine Errungenschaft unserer egalitären Kultur, dass Menschen ohne Ansehen der Person beurteilt werden und allen die gleichen Rechte zukommen sollen. Insofern ist es richtig, dass für Tennis-Asse, Wirtschaftscaptains und Regierungschefs gilt, was auch für die übrigen gilt. Die Fixierung darauf, ja das beinahe freudlose und zwanghafte, schadenfrohe und bittere Feiern, dass es jetzt «einen von denen da oben» erwischt hat, ist in freiheitlichen westlichen Gesellschaften nur peinlich. In Australien, dem Vereinigten Königreich und der Schweiz gilt Pressefreiheit. Prominente müssen dort sogar mehr einstecken als Krethi und Plethi. Wenn wir gegen Covid-Massnahmen verstossen, ob absichtlich oder nicht, droht uns schlimmstenfalls eine Busse. Diese Prominenten verlieren das Gesicht.

Eine Arena

Vielleicht freut das manche deshalb, weil sie insgeheim selbst gerne ein Tennis-Ass, ein Staatsoberhaupt oder ein Verwaltungsratspräsident wären: «Ja, ja, das ist halt der Preis, wenn man mit Sport Geld verdient/ein solches Amt will/eine öffentliche Person ist.» Mag sein. Der Preis, den die Spötter bezahlen, ist freilich höher. Statt sich von Horta-Osórios strategischem Geschick und analytischem Verstand, Đokovićs Wille und Nervenstärke oder Johnsons Wortwitz inspirieren zu lassen, vergleichen sie sich mit deren persönlichen Niederungen, bleiben dabei höchstens mittelmässig und werden selbst irgendwie hässlich.

Neid gab es schon immer. Die Geschichte Kains, der seinen Bruder Abel erschlägt, ist archetypisch. In der Tradition ist der Neid die sechste von sieben Hauptsünden, nichts, womit man sich öffentlich schmückt. Die philosophischen und theologischen Traditionen kennen ausserdem verschiedene Motive, um die Ambivalenz menschlichen Seins und Wirkens auszudrücken: Krummes Holz und aufrechter Gang, Sünder und Gerechtfertigter. Sie helfen, den Menschen nicht nur auf sein Handeln zu reduzieren und menschliches Handeln nicht grundsätzlich zu moralisieren, sondern dem, was jemand tut, mit Neugierde und Hoffnung zu begegnen.

Wo alles eindeutig und bewertbar werden muss, werden wir selbst zu einer Arena, in der wir, angetrieben durch die vierte Staatsgewalt, über andere den Daumen heben oder senken.

Selbstzufriedenheit

Ohne starke Motive, mittels derer wir unsere eigne Ambivalenz in den Blick bekommen, fehlt uns die Gabe Uneindeutiges auszuhalten und sich selbst im Spiegel des Versuchens und Scheiterns, des Ringens und Aufgebens zu erkennen. Man kann dann nur noch «konsequent» sein, also folgerichtig leben. Egal in welche Richtung. In Wirklichkeit leben wir unsere Leben aber nicht konsequent.

Wir wollen den Planeten retten und nach Bali in den Urlaub fliegen. Sind für Gleichberechtigung unserer Söhne und Töchter und surfen auf Youporn. Lieben unsere Haustiere und essen Schweine aus Mastbetrieben.

Das ist kaum zu ertragen. Und wer von sich nicht ein Bild als Sünder:in oder krummes Holz im Herzen hat, das nicht restlos in diesen Handlungen und Unterlassungen aufgeht, muss sich erleichtern.

Das geht am einfachsten dadurch, dass wir immer irgendjemanden finden, der schlechter handelt als wir selbst. Wenn der Präsident schwindelt, darf ich das auch. Das macht dann zwar nicht zufriedener, aber vielleicht wenigstens selbstzufriedener. Eine Welt ohne Rechtfertigungsidee, ohne Ambiguitätstoleranz braucht Altare für Menschenopfer. Es ist darum kein Zufall, dass das Britische Unterhaus zu einem Tribunal, Horta-Osórios Abgang vergoldet und Đoković als Messias verehrt wird.

1 Kommentar zu „Opfer für die Selbstzufriedenheit“

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