Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat gestern im Europaparlament die Aufnahme des Rechts auf Abtreibung in die EU-Grundrechtecharta gefordert. Dass dieser Vorstoss die Identität und Legitimität der Europäischen Union als Wertegemeinschaft stärken wird, darf bezweifelt werden. Und dass der Vorstoss erfolgreich sein kann, wird – selbst Macron – nicht erwarten. Auch Jahrzehnte nach rechtlichen Liberalisierungen in vielen westlichen Ländern bleibt die Abtreibungsfrage so konfliktreich und heikel, dass man zögert, sie überhaupt anzusprechen. Ihre blosse Erwähnung ist geeignet, heftige politischen Emotionen von links oder rechts wachzurufen.
Das gilt innerhalb der Gesellschaften, und das gilt auch auf internationaler Ebene. Von einem westlichen Konsens kann – wie der Blick in die USA beweist – hier ebenso wenig gesprochen werden, wie von einem europäischen. Polen hat erst kürzlich die Möglichkeit der Abtreibung massiv eingeschränkt. Selbst in Deutschland bleibt der Konsens brüchig und heikel, und auch hier wird nicht von einem Recht auf Abtreibung gesprochen, sondern nur von ihrer Straffreiheit (bis zum dritten Monat). Unter der Flagge der Abtreibung, das scheint ziemlich klar, wird man keine europäische Einigung erzielen.
Dass Europa in dieser Frage nicht geeint ist, zeigte nicht zuletzt die kürzliche Wahl von Roberta Metsola zur neuen Präsidentin des EU-Parlaments. Sie gilt als Abtreibungsgegnerin. Macrons unerwarteter Vorstoss für das Recht auf Abtreibung wurde entsprechend auch als Seitenhieb auf sie gewertet. Das ist aber – bei einem strategischen Kopf wie Macron – schwer vorstellbar. Eher muss man davon ausgehen, dass sich Macron mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen in Frankreich die Stimmen des progressiven Lagers sichern möchte.
Polarisierung der Mitte
Wir haben uns daran gewöhnt, zu glauben, dass die Polarisierung stets von den Rändern her geschieht, von «woken» Linken oder von Rechtspopulisten, während die «gemäßigten» links- oder konservativ-liberalen Politiker:innen besonnen um den Zusammenhalt der Gesellschaft besorgt sind.
Doch richtig ist das nicht.
Auch und gerade Sozialdemokraten, deren Sozial- und Wirtschaftspolitik sich schon lange nicht mehr von jener liberaler oder konservativer Parteien unterscheidet, haben bewusst kulturell umstrittene Themen besetzt, um linke Wähler:innen an sich zu binden. Der frühere spanische Ministerpräsident Jose Luis Zapatero hat offen erklärt, dass er geringfügige Umfragemehrheiten sowohl für eine Liberalisierung als auch gezielt zur «Polarisierung» der Gesellschaft eingesetzt habe.
Auch die Coronapolitik, besonders die Impfpflicht, scheint kein sonderlich geeignetes Mittel zu sein, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Besonders augenfällig wurde das, als Macron Anfang des Jahres in Richtung Impfskeptiker bemerkte: «J’ai très envie de les emmerder», er habe große Lust, die Ungeimpften zu nerven. Macron ist im Wahlkampf und rechnet sich offenbar aus, dass eine Polarisierung ihm nützt.
Genauso muss man seine jetzige Aussage begreifen. Macron ist kein Linker, aber angesichts der starken Rechten braucht er linke Wähler – und er wählt mit der Abtreibungsfrage ein hoch polarisierendes Thema, das geeignet ist, progressive Wähler:innen an sich zu binden, ohne eine soziale Politik machen zu müssen.
Dass es in Zeiten ohnehin gefährlicher gesellschaftlicher Polarisierungen wenig verantwortlich ist, auf diese Weise auf Stimmenfang zu gehen, dürfte klar sein. Gerade der Blick in die USA zeigt, wohin die ständige Vertiefung gesellschaftlicher Gräben führt: Am Ende ist die Demokratie selbst in Gefahr.
Aber vielleicht ist der (brüchige) Friede gerade in der Abtreibungsfrage ohnehin nicht zu halten. Zu gross scheinen die Widersprüche:
Wir sehen die immer grössere Sensibilisierung unserer Gesellschaften, die immer mehr auch den Umgang mit anderen Lebewesen einschliesst, als Fortschritt an. Wie sollte aber der Umgang mit ungeborenem menschlichen Leben davon ausgenommen bleiben?
Neues Verhältnis von Freiheit und Leben
Zudem fällt auf, dass jene Milieus, die sich in der Abtreibungs- und der Impffrage diametral gegenüberstehen, durchaus ähnliche Argumentationsmuster verwenden. So wie in der gegenwärtigen Debatte um die Impfplicht die einen sagen: «Mein Körper gehört mir» und die Verantwortung für andere geringer gewichten, so argumentieren in der Frage der Abtreibung die Befürworterinnen ähnlich («Mein Bauch gehört mir») und gewichten das Lebensrecht der Ungeborenen geringer. Beide Male wird mit individuellen Freiheitsrechten und Lebensschutz argumentiert, mit dem Schutz der Vulnerablen. Aber die einen denken dabei vor allem an die Alten und Vorerkrankten, die anderen an das werdende Leben.
Wir haben es mit schwerwiegenden Widersprüchen zu tun. Statt ihnen dauernd auszuweichen, ist es vielleicht an der Zeit, sie offen anzusprechen. Macrons Vorstoss könnte dazu genutzt werden, eine Debatte darüber zu führen, wie wir zum Lebensschutz stehen, wenn wir Leben in einem umfassenderen Sinne verstehen, was alte und gebrechliche Menschen ebenso einschliesst wie werdendes menschliches Leben und nicht-menschliches Leben. Wie stehen dann die Güter Freiheit und Leben zueinander? Und muss der Tendenz zum unbedingten Lebensschutz nicht, wie Michel de Montaigne wusste, eine Besinnung auf den Tod gegenübergestellt werden, weil nur so die Freiheit erhalten bleiben kann?
1 Gedanke zu „Europa, wie hältst du’s mit der Abtreibung?“
Hallo Johanna
erstaunlich wie schnell sich Parallelen und Ähnlichkeiten auftun, wenn man die Muster übereinander legt.
Es geht meist um die Verhältnismäßigkeit zwischen dem ich und dem wir. Dem Risiko und den Folgen für ich und für das wir. Alles hat eine Auswirkung. Fragt sich nur, mit welcher wir leben wollen. Eines gilt dabei zu beachten: Was man für sich selbst will, kann sich eines Tages auch gegen einen selbst richten. Das wird leider all zu oft unterschätzt und ungern akzeptiert.