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Eckhart Tolle: Jetzt! Die Kraft der Gegenwart

Heute geht’s um das bekannteste Buch des modernen Weisheitslehrers Eckhart Tolle. Das Gespräch findet allerdings unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen statt: Stephan ist das Buch in den vergangenen Jahren sehr wichtig geworden, während Manuel bis vor wenigen Wochen weder vom Titel noch vom Verfasser je etwas gehört hat. Mit dem esoterischen Jargon kann er wenig anfangen, und auch sonst hat er einige kritische Anfragen an Tolles Spiritualität der Selbstfindung. Stephan liest ihn wesentlich wohlwollender und sieht zahlreiche Parallelen zur christlichen Tradition – sogar mit seinem Christusverständnis kann er erstaunlich viel anfangen…

Ein spannendes und spannungsvolles Gespräch, das auch jenen zu empfehlen ist, die das Buch nicht kennen.

32 Kommentare zu „Eckhart Tolle: Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“

  1. Ein starkes Gespräch, das unser Innerstes berühren kann.
    Stephan, danke, dass du Tolle ausgewählt hast!!

    Ich denke, ET bringt bei Stephan eine tiefe Wahrheit zum Schwingen, dass letztlich alles im Jetzt stattfindet. Der Verstand erzeugt eine Vergangenheit und eine mögliche Zukunft. Das müssen wir erkennen. Das ist kein positives Denken, es ist einfach ein Erkennen.
    Genau in diesem Moment jetzt, dieser Moment ist das Tor, durch das wir gehen können. Gemeinsam mit Jesus.
    Wie Stephan sagt: Dies heilt uns in vielen Situationen.

    Und gegen Ende eine ganz starke Frage:
    Was würde uns Jesus heute sagen und würden seine Wort etwas bewirken?

    Danke! Großes Hörkino, mit Stephan in Hochform. Sorry Manuel 😉

    1. Lieber Tom, herzlichen Dank, dein Feedback freut mich sehr! Über deine Frage denke ich öfters nach 🙂 Ich bin gar nicht sicher, ob Jesus soooo stark durch das gewirkt hatte, was er sagte. Vielleicht war es eher sein Auftreten insgesamt?
      Jesus heute? Vielleicht so zerbrechlich und schön wie Billie Eilishs Sound und so friedlich-kämpferisch wie Luther Kings Reden…? Herzlicher Gruss!
      Stephan

      1. Stephan, sehr schöner Vergleich mit Billie Eilish.
        Zerbrechlich und doch gewaltig.

        Mir fällt immer wieder „Der Großinquisitor“ von Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ ein.
        Als Jesus die blutlosen Lippen des Großinquisitors küsst und geht.
        Spüren wir diesen Kuss heute.

  2. Hallo ihr zwei,
    für mich gerade eine super interessante und hilfreiche Folge! Da kam vieles zusammen, was mich gerade beschäftigt und was ich aus der christlichen Meditation kenne.
    Ich kann Manus kritische Position und sein Unwohlsein in vielen Punkten gut nachvollziehen. Die Trigger habe ich auch aus meiner Prägung.
    Hinsichtlich des Trigges „Der Verstand ist dein größter Feind/ Du musst deinen Verstand ausschalten“ glaube ich, dass die evangelikalen Charismatiker etwas anderes meinen als Tolle und andere Achtsamkeitslehrer. Stephan hat es, denke ich, versucht mit der Umschreibung, dass die Charismatiker dennoch wieder im Verstand bleiben. Aus meiner Erfahrung geht es im evangelikalen Sinne NICHT darum, den Verstand, also diese ganzen Gedanken, die mich hindern, in der Gegenwart (Gottes) zu sein, beiseite zu lassen, mich nicht von ihm in diesen Strudel hineinziehen zu lassen, der mich wegbringt vom Jetzt und von Gottes Gegenwart, die immer nur im Jetzt erfahrbar ist. Sondern im evangelikalen Sinne ist damit gemeint, dass man über Bibelworte oder auch das, was man gepredigt bekommt, nicht so viel nachdenken soll, keine wissenschaftliche Exegese betreiben soll, sondern das einfach „so nehmen“ soll, „wie es dasteht“ (obwohl das ja auch schon Auslegung ist, wie wir alle wissen 😉 ).
    @Manu: Kannst du mit dieser Unterscheidung etwas anfangen?

    Stephans Sätze zu der Erzählung mit dem Blinden haben mich gerade in einem wichtigen Denkprozess voll erwischt und ein Stück weitergebracht. Das war super, vielen Dank!

    1. Danke Katharina für die ermutigende Rückmeldung!
      Ja, das kann schon sein, dass in den pfingstlich-charismatischen Warnungen vor dem Verstand auch eine Angst vor wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Bibel mitschwingt. Ich persönlich habe solche Aufrufe meistens im Zusammenhang mit der Vertrauensfrage gehört: Verlass dich nicht auf das, was dir dein (begrenzter, nur mit innerweltlichen Vorgängen rechnender) Verstand vorgibt, sondern verlass dich auf Gott.
      Eine gewisse Berechtigung wird man dieser Ermutigung nicht absprechen können, da es ja wirklich rationalistische Engführungen des Denkens gibt, die ein gesunder Glaube aufzusprengen vermag. Aber die Antithese zwischen Verstand und Glaube ist im Ganzen sicher nicht biblisch abgesichert…
      Ich hab übrigens dazu auch einen Blogbeitrag geschrieben, der voraussichtlich nächsten Dienstag erscheinen wird.
      Herzliche Grüsse
      Manuel

      1. Lieber Manuel,
        Ja, stimmt, diesen Aspekt kenne ich auch. Gerade in Kreisen, in der „Wunder“ eine große Rolle spielen. Aber auch da ist ja mit „verlass dich nicht auf deinen Verstand“ etwas anderes gemeint als das, was Tolle beschreibt.
        Ich bin gespannt auf den Blogbeitrag!

        1. Ich bin mir da eben nicht so sicher, ob Tolle wirklich etwas anderes meint mit seiner Ablehnung des Verstandes.
          Tolle schreibt zum Beispiel wörtlich:

          «Was ist das größte Hindernis, das dem Erfahren dieser Realität im Wege steht? – Identifikation mit deinem Verstand. Dadurch werden Gedanken zwanghaft. Die Unfähigkeit, das Denken anzuhalten, ist eine schlimme Krankheit, aber wir sehen das nicht so, wir halten es für normal, weil fast jeder darunter leidet. Der unaufhörliche geistige Lärm hindert dich daran, den Raum innerer Stille zu finden, der vom Sein untrennbar ist. Er erschafft außerdem ein falsches Verstandgeborenes Selbst, das einen Schat-ten von Angst und Leiden wirft. Wir werden uns das alles später noch genauer anschauen.
          Ich frage dich: Kannst du dich von deinem Verstand befreien, wann immer du möchtest? Hast du den Knopf zum Abschalten gefunden? Wenn nicht, dann benutzt der Verstand dich. Du bist unbewusst mit ihm identifiziert, deshalb weißt du nicht einmal, dass du sein Sklave bist.
          Die gute Nachricht ist, dass du dich von deinem Verstand befreien kannst. Das ist die einzig wahre Befreiung.»

          Bei allen Versuchen, ihn wohlwollend zu lesen: Ich kann diese Verteufelung des Verstandes einfach nicht nachvollziehen. Im besten Fall ist er einfach sprachlich sehr ungenau und redet von Verstand, wenn er in Wahrheit ein Teilphänomen des Verstandes meint. Aber die Idee, den Verstand «ausschalten» zu können, ist ja an sich absurd. Und für jemanden, der den Verstand so gering schätzt, schreibt Tolle dann doch erschreckend lange Bücher…;-)

          1. Lieber Manuel,
            Danke für das Zitat. Das ist hilfreich.
            Ich würde daran doch entschieden kritisieren, dass es weder aus wissenschaftlicher Sicht möglich ist, den Verstand abzuschalten, noch dass es die Achtsamkeitspraxis zum Ziel hat. Zumindest so, wie ich sie sowohl im psychologisch-säkukaren, als auch im buddhistischen und auch im kontemplativ-christlichen Rahmen kennengelernt habe und praktiziere.
            Da geht es nirgends darum, sich des Verstandes zu entledigen oder ihn zu stoppen. Sondern immer nur darum, den Fokus der Aufmerksamkeit zu lenken – vom Gedankenstrudel des Verstandes hin in die Wahrnehmung, von der Vergangenheit und Zukunft ins Jetzt. Der Verstand darf dabei immer da sein. Aber er bestimmt mich nicht. Und allein in diesem Sinne geht es darum, dass man sich nicht mit ihm identifiziert und sich „befreit“. Aber nicht so, dass man ihn ausschaltet.

          2. Manuel,

            ET aschreibt von
            „Identifikation mit deinem Verstand“,
            „Zwanghafte Gedanken“,
            „Die Unfähigkeit, das Denken anzuhalten“.

            Ist dies nicht genau z.B. deine Situation mit den Velos im Kinderplanschbecken?
            Wir können in solchen Momenten praktisch mit beobachten, wie sich der Verstand aufschaukelt und sich angegriffen fühlt.
            Wie der Verstand protestiert, wenn du wegen fehlendem Booster nicht ins Bad kommst?
            Und das lässt sich praktisch in fast allen Situationen beobachten.

            ET:
            “It may look as if the situation is creating the suffering,
            but ultimately this is not so – your resistance is.”
            Dein Verstand erzeugt suffering.

            LG
            Tom

          3. Haha, danke für die psychologische Ausdeutung der Hallenbad-Story… das hat man davon, wenn man persönliche Geschichten in Podcasts erzählt…;-)
            Ja klar, das kenne ich natürlich, dass die Gedanken frei drehen und einen auch zum Verhängnis werden können. Aber die Alternative kann ja nicht sein, das Denken «abzustellen». Ohne denken könnte man übrigens auch Tolles Buch nicht lesen…;-)

  3. Eckart Tolle hat in der Vergangenheit häufig die Meditation über Psalm 46, Vers 11 empfohlen. Gibt man die Stichwörter im Internet ein findet man mehr Treffer zu Eckart Tolle als zu anderen Webseiten. Wenn ich in der Meditation den Vers spreche „Sei still und wisse: Ich bin Gott.“, so höre ich darin Gottes Ansprache an mich. Ich werde wirklich immer ruhiger und erkenne in der Stille die Gegenwart Gottes. Im Gespräch wurden ja immer wieder die Psalmen thematisiert. Diese Gemeinsamkeit von Tolle und dem „Dialog mit Gott“ (in den Psalmen) ist mir dabei noch nennenswert erschienen.

  4. Ich kann Manuel mit den Begrifflichkeiten sehr gut verstehen. Vielleicht hätte ich eher das von Tolle selbst gesprochene Hörbuch empfohlen. Da merkt man wie er doch aus einer Haltung der eigenen Erfahrung spricht und sich etwas schwer damit tut die treffenden Worte zu finden. Mit renommierten Schriftstellern oder Philosophen sollte man ihn wohl lieber nicht vergleichen. Seine Gegenwärtigkeit zu erleben (und sei es nur per Hörbuch oder Youtube) kann man sich aber sicher einmal geben 😉

  5. Die Ablehnung des Verstandes bei den Charismatikern hat absolut nichts mit dem zu tun, wovon Tolle spricht.
    Bei Tolle geht es darum im JETZT zu sein. Das kennt der „normale“ Mensch und der Charismatiker überhaupt nicht. Es hat eher etwas mit dem Zazen zu tun. Es geht eben darum, nichts fest zu halten, sich nicht durch einen Gedanken in weitere Gedanken verführen zu lassen. Es geht um einen von Problemen losgelösten Zustand.
    Ich selbst praktiziere zwar weder Zen noch folge ich Tolle, aber ich kann aus meiner christlichen Praxis des Lebens in der Erlösung – weil ich ewig bin, und es für das Ewige keine Probleme gibt – das Gemeinsame sehen.
    https://manfredreichelt.wordpress.com/tag/mystik/

    1. Danke Manfred für die Rückmeldung! Dass die Vorstellungen Tolles mit den Charismatikern nichts zu tun haben, kann ich eben nicht glauben. Ich sehe da vielmehr eine enge Verwandtschaft an zentralen Punkten. Immerhin verdankt Tolle seinen Vornamen der Faszination für einen Charismatiker seiner Zeit (Meister Eckhart)…;-)

      1. Die Überwindung von Verstand und Ichbezogenheit, wenn auch durch unterschiedliche Praktiken, ist sicher eine Gemeinsamkeit von Charismatikern und Buddhisten. Die erlebte Einheit wird von Charismatikern entsprechend der Schrift eher als eine Begegnung mit dem Auferstandenen interpretiert. Hier kommen sie schnell in den Konflikt mit der Wissensgesellschaft, wo die körperliche Auferstehung eines Toten nach mehreren Tagen als absurd deklariert wird. Der logische Schritt ist die erlebte Einheit über die wissenschaftliche Evidenz zu stellen. Daraus entsteht eine gewisse Unversöhnlichkeit mit der Wissenschaft. Der Buddhist interpretiert die erlebte Einheit eher als Beweis für eine wissenschaftliche Evidenz der Ungetrenntheit von Ich und Welt. Zum Beispiel besteht alles was existiert aus dem selben Baukasten an Molekülen. Sich als getrennt von allem wahrzunehmen gilt eher als Missverständis, dem es auf die Spur zu kommen gilt. Man merkt, dass es bei dieser Interpretation der erlebten Einheit weniger Konfliktpunkte mit der heutigen Wissenschaft gibt. Auch wenn Charismatiker und Buddhisten in der selben Weise den Verstand und die Ichbezogenheit überwinden, so ist es meiner Meinung nach die Interpretation des Erlebten, welche das Erlebte als (grundsätzlich) unterschiedlich aussehen lässt. Zwar ist die Einordnung der erlebten Einheit mit der Vernunft bzw. dem Verstand fundamental wichtig. Sich aber ganz von einer scheinbar wissenschaftlichen Rationalität, auf Kosten der erlebbaren Einheit, vereinnahmen zu lassen ist sicher unfruchtbar. Genauso wie in eine Art fundamental Opposition zur Wissenschaft zu gehen. Ich kann die erlebte Einheit (unio mystica) sehr wohl mit der Begegnung mit dem Auferstandenen in Einklang bringen. Ab einem gewissen Punkt spielt für mich der Glaube die physikalisch-körperliche Auferstehung eines Toten keine Rolle mehr, wenn ich dem Auferstanden in Form, Licht und Wirklichkeit begegnen kann, die nicht an einen physikalischen Körper gebunden ist.

      2. Ich selbst war und bin in einem gewissen Sinne noch Charismatiker. Meister Eckhart, dessen Schriften mich kurz nach der Bekehrung wirklich ansprachen, würde ich nicht als solchen bezeichnen. Er war Mystiker, ein Denker, dessen Gedanken stets um das Eine kreisten. Ihm ging es um das Leben im SEIN. Interessant ist da, dass ein Zen-Meister auf ihn aufmerksam wurde und ihn als „Bruder im Geiste“ ansah. Er schrieb das faszinierende Buch „Der westliche und der östliche Weg“ (D.T. Suzuki), indem er die Parallelen zwischen Zen und der Mystik Eckharts aufzeigt.

        Wenn unser Verstand spricht, dann sprechen wir ja nur zu uns selbst, mit allen unseren Erfahrungen, Eindrücken, Überlegungen und leben nicht im SEIN. Darum aber geht es letzten Endes in allen Erlösungsreligionen. Der Zen ist praktisch die Kurzfassung des buddhistischen Weges: Du bist schon Buddha. Im Christentum würde es heißen, du bist schon Christus. – Das alles im Sinne Goethes „Werde, der du bist!“ – Kurz, es geht, wie bei Tolle um die Disziplin, sich nur mit dem zu beschäftigen, was man in Wahrheit ist. Dem Charismatiker ist aber noch so vieles andere wichtig. Er weiß kaum, wer er ist. Er hat in diesem Sinne keine Disziplin, sondern ist „ausschweifend“. Deshalb beinhaltet sein, nicht auf den Verstand zu hören, lediglich dem WORT zu glauben in dieser oder jener Angelegenheit.

  6. Tolle hat etwas Faszinierendes, jedenfalls hat mich sein Buch sehr gepackt, als ich es vor vielen Jahren zum ersten Mal in die Hand bekommen habe. Da gibt es sicher einiges, das man lernen kann. Wenn Tolle „lebe im Jetzt!“ sagt, ist das nicht so weit entfernt von Jesu „macht Euch keine Sorgen um den morgigen Tag“. Und tatsächlich gibt es sowohl bei Meister Eckart, als auch bei „Cloud of Unknowing“ und anderen christlichen Mystikern die Vorstellung, dass die Wahrheit im Letzten nicht mit dem Verstand ergreifbar ist. Im Zen sowieso. Dennoch halte ich Tolle letztendlich auf Grund seiner philosophischen Vorannahmen für problematisch. Es ist letztendlich doch die Buddhismus-Light-Soße, die sich wie im „Kurs in Wundern“ so scheinbar leichtverdaulich mit einer gewissen Version des Christlichen mischen lässt. Die Grundannahme, dass nur das JETZT Realität konstituiert, dieses nicht mit dem Verstand erfassbar ist und sogar dem Wesen nach bereits göttliche Attribute hat, ist so vollbeladen mit Theorieannahmen, die in der Philosophiegeschichte der letzten 2000 Jahre diskutiert (und meistens dann verworfen!) wurden, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. In welcher Hinsicht bin ICH nur das, was ich in diesem Moment bin? Ist es tatsächlich nur mein imaginierter Schmerzkörper, der das Leiden bringt (sehr nah an Buddhas Annahme)? Oder bin ich nicht vielmehr – ja ist nicht die ganze Welt? – geschichtliches Wesen, zu dem Vergangenheit, Herkunft, Erbe, Schuld, Verstrickung und eben auch Zukunft ganz wesentlich gehören? Trifft das nicht auf das Sein generell zu? Liegt uns das Sein tatsächlich nur im Jetzt vor oder konstituiert nicht vielmehr die Dauer der Seienden überhaupt erst unsere Möglichkeiten, auf so etwas wie Sein schließen zu können? (Die gesamte Ontologie ringt seit Parmenides um diese Fragen, doch selten wurden sie so leichtfertig beiseite gewischt wie bei Tolle.) Auch die Theorie, dass das Sein letztendlich göttlich sei, wurde schon so oft intensivst diskutiert (Panentheismus). Wenn alle Seienden (gemäß welcher Modalität eigentlich?) am Sein partizipieren, dann ist alles göttlich. Im Hinduismus ist diese Vorstellung relativ weit verbreitet. Doch das Göttliche ist dann eine Substanz, in der sich Licht und Schatten, Gut und Böse mischen. Weder ist die radikale Differenz, noch die Objektivität des Bösen, noch ein tatsächliches göttliches Du als personales Gegenüber dann denkbar. Ja, man kann noch weiter gehen: auch ein Ich ist nicht mehr denkbar. Die konsequenteste Anwendung der hinter Tolles stehenden Denkmodelle scheint mir genau das zu sein: auch das Ich ist nicht wirklich existent, es ist nur ein Jetzt-Punkt, ein aufflackerndes Bewusstsein. Der von Manuel aufgeführte Kritikpunkt der Vernunftfeindlichkeit ist konsequent in Tolles System. Doch welche kritische Instanz gibt es denn, das eigene Jetzt-Erleben in das weitere Leben oder gar in soziales Zusammenleben zu integrieren? Hier fällt auf, wie individualistisch, ja sogar egozentrisch dieses JETZT gedacht ist. Wo genau ist der Sitz von Liebe, Vertrauen, Treue, Solidarität, Gesellschaft, Dialog, Zusammenhalt in diesem System? Wo der Sitz von Wahrheit und Rationalität? Wo der von Ethik? Kann Tolles JETZT nicht vielmehr als Auflösung der mit all diesen Konzepten einhergehenden Belastungen gelesen werden?
    Dass eine solche Lehre attraktiv sein kann, gerade, wenn man verkopft ist, ist offenkundig. Dass man daraus auch etwas lernen kann: geschenkt. Doch wenn man das Ganze weiterdenkt (vielleicht weiter als Tolle das aussprechen will), wird es abgründig.
    Aber danke, dass Ihr Euch mit diesem Buch beschäftigt habt. In der spirituellen Szene gab es die letzten 15 Jahre wahrscheinlich kein einflussreicheres als dieses. Und auch in Teilwahrheiten kann man ja Wahrheiten entdecken.

    1. Ich beziehe mich hier auf das gekürzte Zitat von Johannes Hartl:
      „Auch die Theorie, dass das Sein letztendlich göttlich sei, wurde schon so oft intensivst diskutiert (Panentheismus). […] Weder ist die radikale Differenz, noch die Objektivität des Bösen, noch ein tatsächliches göttliches Du als personales Gegenüber dann denkbar.“

      Gott als SEIN zu sehen hört sich vielleicht trivialisierend, esoterisch oder unbiblisch an. Doch stellt sich Gott nicht als der ICH BIN und seinen Sohn als den DU BIST (mein Sohn) vor? Was ist denn ICH BIN und DU BIST anderes als SEIN? Der Vater und der Sohn sind ein ICH BIN im beidseitigen DU BIST. Die tiefere Dimension des SEIN ist damit die Begegnung und die Beziehung. Wenn der Mensch (Adam) sich aus dem SEIN (dem beidseitigen DU BIST) entfernt, so verlässt er die Einheit mit Gott. Der Sündenfall ist geschehen. Der Mensch, der als Subjekt und Relation gedacht war, wird zu einem Objekt und einer Identität. Er verlässt seine wahre Natur (die Einheit mit Gott) und findet sich in Trennung, Misstrauen und dem Gefühl von Verlassenheit wieder. Die „radikale Differenz, die Objektivität des Bösen“ sind dann denkbar, wenn sich der Mensch von Gott abwendet und sich mit seinem Verstand (!) fälschlicherweise als ein Es, ein Objekt, ein Ich getrennt von Gott erkennt (und danach auch erfährt). „Ein tatsächliches göttliches Du als personales Gegenüber“ ist dann denkbar, wenn der Mensch in das beidseitige DU BIST mit Gott eintritt und sich und Gott als ein ICH BIN, als ein SEIN, im beidseitigen DU BIST, erkennt. Bei der Objektivität des Bösen folgt die Erfahrung dem Verstand. Beim göttlichen Du als personales Gegenüber folgt der Verstand der Erfahrung. Folgt die Erfahrung dem Verstand so offenbart er sich als listige Schlange (1. Mose 3), die den Menschen (Adam) in Adam und Gott und Adam und Eva spaltet. Folgt der Verstand der Erfahrung so erfüllt er das wichtigste Gebot Gottes: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Verstand“. (Lukas 10, 23, Mt 22,37)

    2. Lieber Johannes, vielen Dank für die engagierte und ausführliche Reaktion auf das Tolle-Gespräch! Ich teile deine kritischen Einschätzungen und Intuitionen weitgehend. Zugleich beobachte ich, dass mich die erkenntnistheoretische Unbescheidenheit (oder mindestens Unbedarftheit) und die esoterisch angereicherte Begrifflichkeit des Autors derart abstößt, dass ich vielleicht gar nicht mehr im Stande bin, ein solches Buch mit der nötigen Unvoreingenommenheit zu lesen und zu würdigen. Was die Egozentrik betrifft: Man könnte Tolle natürlich wohlwollender zu lesen versuchen und etwa sagen, dass der Mensch nach seiner Überzeugung wohl erst dann zu wahrer Empathie und ethischer Verantwortung fähig wird, wen er im JETZT angekommen und also ganz bei sich ist. Wie viele andere Selbsthilfebücher und Lebensratgeber, die den Schlüssel zum gelingenden Leben in einer inneren Fähigkeit oder Entdeckung suchen, scheint mir auch Tolles Werk zumindest nicht genügend gegen eine individualistisch-egomanische Lesung abgesichert zu sein.

    3. Ich denke, man missversteht Tolle, wenn man ihn mit philosophisch/theologischen Maßstäben beurteilt. Ihm geht es ALLEIN um eine ganz bestimmte Haltung dem praktischen Leben gegenüber und nicht um irgendwelche Reflexionen. Das hat er mit vielen sogenannten Satsang-Lehrern gemein, wie z.B. Samarpan, oder einer, der nur unter „Artur“ bekannt ist.

  7. Beim Thema Eckart Tolle trennen sich wohl die Nicht-Universalisten von den Universalisten 🙂 Rob Bell würde ihm vermutlich eher mit Neugierde als mit aufgestellten Haaren begegnen. „Love wins“ oder auf deutsch „Das letzte Wort hat die Liebe“ von Rob Bell wäre doch auch mal ein Buch mit Impact (zumindest in den USA). Ich würde Eckart Tolle, u.a. bei der Wahl seines Künstlernamens, absolute Unbedarftheit unterstellen. In einem Vortrag hörte ich ihn humorvoll, aber recht ernsthaft sagen, dass er einen sehr niedrigen IQ hat. Von einem System in Tolles Büchern zu sprechen wäre meiner Ansicht nach wohl eine totale Übertreibung. Aber ein bisschen mehr Raum, ein bisschen mehr Gegenwart und ein bisschen mehr Erfahrung von Raum in der Gegenwart würden wohl jedem gut tun 🙂

    1. Da gebe ich dir absolut recht, Benjamin! Und ich wollte auch nicht behaupten, dass sich von Tolle nichts lernen lässt oder dass ich von ihm ein wissenschaftliches Reflexionsniveau erwarte. Ich merke einfach, das mich die Form seines Denkers davon abhält, in so richtig an mich ranzulassen. A propos Universalismus: wir werden uns Rob Bells Buch in dieser Staffel noch vornehmen – und ich bin ein ziemlicher Fan vonihm… 🤩

  8. Hallo ihr beiden

    Was mich erstaunt hat war, dass die Schüpfungsgeschichte in eurem Talk nicht vorkam. Ich deute das „Sein“ im Paradies als dieses ganzheitliche Eins-sein mit sich selber und mit Gott.
    Für mich symbolisiert das Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis die Abspaltung des Verstandes vom blossem Sein.
    In der Meditation erfahre ich das Aussteigen aus diesem inneren Dialog und Eintauchen ist „Sein“, in die göttliche Realität ausserhalb von Raum und Zeit.
    Dazu sehr interessant: Christian Schwarz mit der Energie-Triologie.

  9. Vielen Dank für dieses Gespräch. Ich kenne Tolle ja nur von Zeitschriften. „Wichtigster Spiritueller Lehrer“ wird er da genannt. Das hat mich immer abgeschreckt. Durch euer tolles vor allem ringendes! Gespräch habe ich ein differenzierte Bild bekommen ohne das Buch zu lesen. Oder es mit mehr Lust einmal zur Hand zu nehmen, sollte es mir unter die Finger kommen. Und ja, was er über Jesus sagt, das leuchtet mir auch ein.
    Aufgehorcht habe ich, als Stephan sagte: „Es überzeugt, weil es wirkt (oder anwendbar ist)?“ Das ist in gewisser Weise ein schlagendes Argument und wird eben auch gerne in der „Eso-Szene“ verwendet: Wer heilt, hat Recht… naja,
    aber daran krankt es auch oft an und in unseren Kirchengemeinden: Wir bieten zu wenig an, um sich spirituell auszuprobieren und überhaupt sein Christsein als spirituell zu begreifen. Wenn ich sowas mit älteren Kollegen anspreche, dann werden immer wieder die alten Feinbilder rausgeholt, ohne sich über die Weiterentwicklungen zu informieren oder mal auszuprobieren (das geht ja unter Theologen gar nicht – etwas ausprobieren…) 😐

  10. Ich kenne das Buch noch nicht , aber habe jetzt den Eindruck , das könnte etwas für mich sein . Der Ansatz Tolles , so wie er von euch dargestellt wurde, erinnert sehr an die ACT (Acceptance and Commitment) von Russ Harris in der Verhaltenstherapie . Harris ist Psychotherapeut und nach eigenen großen Leiderfahrungen darauf gekommen . Er vermeidet spirituelle Begriffe , aber das Bewusstwerden seiner selbst im Hier und Jetzt und Entdecken der „beobachtenden Ichs“ in emotionalen Krisen scheint mir dasselbe zu sein , was Tolle sagt , nur mit anderen Worten . Diese Haltung soll sogar Schizophrenen , Traumapatienten und von Angst – und Zwangsgedanken Geplagten zu mehr Lebensqualität helfen , da sie ihren quälenden Gedanken nicht mehr ausgeliefert sind . Ich selbst profitiere auch davon . Ich bin grundsätzlich offen für alles , was hilft , ohne es zu verherrlichen . Hier scheint mir doch eine große Lebensweisheit dahinter zu stehen , da ist es m.E. gar nicht nötig , es christlich abzusichern . Vielleicht sollte man einfach den Konkurrenzneid lassen und es auch feiern , wenn Leute sich selbst helfen können ohne Gottesbezug . Vielen Dank für das Gespräch und die immer interessanten Diskussionen in den Kommentaren

      1. Lieber Manuel , gerne . Eine kleine Korrektur noch : die ACT Methode wurde von den Psychologen Steven Hayes , Kelly Wilson und Kirk Strosahl entwickelt und ist eine anerkannte Schule der Verhaltenstherapie . Inwieweit das auch von Tolle inspiriert ist , müsste man recherchieren , es würde mich nicht wundern . Harris ist nur derjenige , der ein paar Bücher für den Laien herausgegeben hat, welche mir von meiner Therapeutin empfohlen wurden . Ganz bestimmt kann man aus theologischer und philosophischer Sicht vieles an Tolle kritisieren , da kann ich nicht wirklich mitreden ; ich wollte nur auf die belegbare psychologische Wirksamkeit solcher Konzepte hinweisen .
        Liebe Grüße

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