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 Lesedauer: 7 Minuten

Trau deinen Augen nicht!

Der Papst im Puffmantel

«Der 1. April ist der einzige Tag im Jahr, an dem die Leute mal überlegen, ob es stimmt, was sie in der Zeitung lesen.»

Dieser Spruch ist zum Monatsbeginn in den Sozialen Medien kursiert. Er hat zweifellos auch die Sympathien derjenigen gewonnen, die gerne von den «Mainstream-Medien» oder sogar von der «staatlichen Lügenpresse» reden und jede Gelegenheit nutzen, ihr Misstrauen gegenüber der Berichterstattung traditioneller Medienportale kundzutun. Die augenzwinkernde Ansage zahlt aber auch auf das Konto eines durchaus gerechtfertigten Verdachts ein, der gerade in jüngster Zeit erneut geschürt wurde:

Wir können im Blick auf das, was uns Printmedien und Fernsehsendungen vorsetzen, unseren Augen immer weniger trauen.

Das millionenfach geteilte Bild des Papstes in einem weissen Puffmantel bezeugt das eindrücklich: Es wurde von einer KI generiert und gibt einen fotorealistischen Eindruck davon, dass es inzwischen per Mausklick möglich ist, beliebige Personen in beliebigen Zusammenhängen «abbilden» (sprich digital generieren) zu lassen – und dass das Ergebnis von einer echten Fotografie immer weniger unterscheidbar ist.

Deepfake

Ähnliches konnte man aus dem Video Jordan Petersons schliessen, welches das Internet vor kurzem in Aufruhr versetzte: Der berühmte kanadische Psychologe und konservative Posterboy zieht in diesem Video unter dem programmatischen Titel «Germany is Fucked» mit spitzer Zunge über den «Haufen von Clowns und Freaks» her, welche die deutsche Regierung anführen – und beweist in der Erwähnung einzelner Verantwortungsträger und ihrer Unzulänglichkeiten detaillierte Kenntnisse der europäischen Verhältnisse.

Einziges Problem: Das Video ist von Anfang bis zum Schluss gefälscht. Peterson hat das alles nie gesagt und sich auch umgehend und vehement gegen die Instrumentalisierung seiner Person gewehrt. Es handelt sich um einen «Deepfake», ein mit Hilfe künstlicher Intelligenz erstelltes Medienprodukt, das einer tatsächlichen Filmaufnahme zum Verwechseln ähnlich sieht.

Der Gesichtsausdruck, die Tonalität der Stimme, das Vokabular und viele andere Eigenheiten wurden dem Original perfekt nachempfunden (wenngleich die Synchronisation von Ton und Bild bei genauerem Hinsehen noch optimierungswürdig war).

Die Wahrheit am Ende?

Die Frage drängt sich auf: Wenn das alles möglich – und mit immer weniger Kenntnis und Aufwand für eine immer grössere Menge von Anwendern zugänglich – ist: Werden Fotos und Videos in öffentlichen Medien in absehbarer Zukunft jede Vertrauenswürdigkeit einbüssen? Haben wir bald keine Mittel mehr in der Hand, um Abbildungen der Wirklichkeit von dreisten Fälschungen und Fiktionen zu unterscheiden?

Versetzen die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz der Wahrheit endgültig den Todesstoss, nachdem sie durch die von Trump eingeläuteten Ära von Fake News und «Alternativen Fakten» bereits angeschlagenen war?

Ich glaube nicht. Zum einen, weil es um die Verfügbarkeit der Wahrheit schon vor KI und Trump nicht hervorragend bestellt war.

Fakten liegen nicht herum

In den Diskussionen um die grassierenden Verschwörungstheorien während der Coronapandemie habe ich wiederholt darauf hingewiesen, dass man es sich zu einfach macht, wenn man abstrusen Ideen einfach unter Hinweis auf «die Fakten» entgegentritt. Ein ganzes Heer besorgter Journalisten hat sich in diesen verrückten Zeiten zum Anwalt der sauberen Trennung von «Tatsachen» und «Interpretationen» gemacht – und nicht wenige haben die Demokratie und die westliche Gesellschaft und überhaupt alles in Gefahr gesehen, wenn diese Differenz nicht strikt durchgehalten wird.

Wenn jeder nach seinen Interessen und Neigungen seine eigenen Fakten schaffen – und diese jetzt auch noch mit entsprechenden Bildern und Videos «beweisen» – kann, dann sind wir verloren!

Zu einem nüchternen und bescheidenen Realismus gehört aber leider auch das Zugeständnis, dass Fakten nicht einfach so auf der Strasse herumliegen, bereit, von jedem vernünftigen Menschen aufgesammelt und anerkannt zu werden – und dass die Trennung von Tatsachen und Interpretationen eine künstliche, theoretische ist, die an der Art und Weise menschlicher Wahrnehmung und Welterfahrung scheitert.

Wahrheit ist immer mittelbar

Wir haben keinen unmittelbaren und unverstellten Zugriff auf die Wirklichkeit, und in jede noch so banale Beobachtung fliesst unweigerlich eine Vielzahl von Rahmenbedingungen und Voraussetzungen, von Annahmen und Erwartungen, und ja: auch von Eigeninteressen und Neigungen mit ein.

Selbst die vielgerühmte «objektive» Wissenschaft bleibt davon nicht verschont. Jedes Experiment und jede Expedition ist bereits theoriegeleitet, jede Messung und jede Rechnung lebt von Voraussetzungen, deren Begründung keineswegs selbstverständlich ist.

Gerade unser Sprachgebrauch ist hier aufschlussreich: Wahrnehmungen und Beobachtungen der Wirklichkeit werden eben «gemacht» und nicht einfach gefunden – und ausgerechnet das Schlüsselwort in der Debatte um (mediale) Wahrheit und Lüge, das Beschwören unbestechlicher und unparteiischer «Fakten», leitet sich vom lateinischen Verb «facere» ab und trägt also die Bedeutung des «Gemachten» in sich. (Dass der «Fake» als Gegenbegriff zum «Faktum» mit aller Wahrscheinlichkeit von selben lateinischen Wort herstammt, könnte schon als etymologischer Flachwitz durchgehen…)

Gesundes Misstrauen

Mit anderen Worten: Schon vor der Erfindung künstlicher Intelligenz und perfekt gefälschter Fotos und Videos hatten wir Grund genug, medialen Berichterstattungen und visuellen «Beweisen» eine gesunde Portion Misstrauen und kritischer Distanz entgegenzubringen.

Dass sich die Aussage eines Bildes noch ohne handfeste Eingriffe durch die blosse Wahl des Ausschnittes vorzüglich manipulieren lässt, wurde vielfach demonstriert. Und natürlich gilt das auch für Texte: Sie brauchen gar nicht zu lügen, um unsere Aufmerksamkeit von bestimmten Zusammenhängen abzuziehen und uns bestimmte Folgerungen nahezulegen.

Die Wahrheit war immer schon prekär. Und richtig gefährlich ist nicht das Aufkommen fotorealistischer Fälschungen und Fake News, sondern die Annahme, die objektive Wahrheit läge auf der Hand – und die damit einhergehende Selbstüberschätzung.

Anstoss zur Mündigkeit

Der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller feiert das Aufkommen KI-generierter Bilder darum sogar als willkommenen Anstoss zur Mündigkeit unserer Gesellschaften: Sie treiben uns die letzten Reste einer «quasi-religiösen Naivität» aus und zwingen uns zu einem «kritisch-forschenden Verhältnis» zur visuellen Kultur unserer Zeit (Jörg Scheller: Der Papst im Puffmantel ist kein Untergangsprophet, Philosophie Magazin vom 31. März 2023).

Da ist sicher was dran.

Ein mündiger Umgang mit Medienberichten und besonders mit digitalem Bildmaterial lässt sich nicht vorschnell blenden, sondern fragt zurück nach deren Entstehung, nach den Urhebern von Texten, Fotos und Videos – und nach deren Motiven.

Medienkompetenz im 21. Jahrhundert bedeutet unausweichlich, nicht alles für bare Münze zu nehmen und sofort zu teilen, weil es die eigene Meinung und Agenda bestärkt – sondern noch einmal genauer hinzusehen, Zusammenhänge zu recherchieren und alternative Sichtweisen in Erwägung zu ziehen.

Verloren im Hasenbau

Wer sich dabei allerdings nicht hoffnungslos im Hasenbau des unabhängigen Quellenstudiums und digitaler «Faktenchecker» verlieren will, ist auf einigermassen vertrauenswürdige Ausgangspunkte angewiesen.

Wir können uns ein prinzipielles Misstrauen und die damit einhergehenden Eigenrecherchen schon rein zeitlich gar nicht leisten – zumal dann, wenn wir daneben noch ein halbwegs verantwortliches Leben zu führen beabsichtigen. Das Bemühen um einen mündigen, kritischen Umgang mit Medienerzeugnissen findet hier eine natürliche Grenze.

Was wir darum benötigen, sind Orte der professionellen Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Fragen sowie mit ihren Hintergründen und Entstehungsbedingungen: Portale, die uns Anlass genug geben, ihnen ein Grundmass an Vertrauen zu schenken – eben kein blosses «Vorschussvertrauen», sondern ein solches, das aufgrund transparenter Rahmenbedingungen und journalistischer Standards gerechtfertigt ist.

Zeitungen und so…

Das ist die Rolle, die ich den oft todgesagten Zeitungen wie auch dem öffentlich-rechtlichen Radio und Fernsehen zuschreibe.

Ich befürchte, dass der Rückgang der Abonnentenzahlen verdienter Intelligenzblätter wie auch der Zuschauerverlust qualitativ hochwertiger Fernsehsendungen in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Bedeutung steht, die ihnen in einer (post-)modernen Gesellschaft zukommt.

Gerade in der medialen Unübersichtlichkeit unserer Zeit können renommierte Zeitungen und staatliche Medienbetriebe vormachen, wie ein verantwortlicher und vertrauenserweckender Umgang mit Informationen aussieht – und damit zu Orten gelebter Medienkompetenz werden.

Dazu gehören klare Vorgaben hinsichtlich der Wahrhaftigkeit und Redlichkeit der Berichterstattungen, hinsichtlich der Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit der Recherchen sowie der Transparenz im Blick auf Interessenkonflikte. Und, ganz wichtig: Der Mut, Einseitigkeiten und blinde Flecken einzugestehen und gemachte Fehler richtigzustellen.

Wie ein guter Freund

Im besten Fall übernimmt eine Zeitung oder eine Fernsehsendung die Funktion eines kompetenten Freundes, dessen Einschätzung der Dinge wir ernst nehmen und vertrauensvoll erwägen, weil er sich als glaubwürdig und integer erwiesen hat.

Ja, weil wir wissen, dass er den Dingen auf den Grund geht und sich wie ein guter Freund traut, unsere hergebrachten Meinungen und Blickwinkel nicht nur zu bestätigen, sondern ihnen auch entgegenzutreten und uns zu neuen Einsichten zu bringen.

Im Dschungel alternativer Newsportale, skandalisierter Medienberichte und KI-generierter Bilder haben wir solche Freunde dringend nötig.

Denn auch wenn wir unseren Augen nicht immer trauen können, so helfen uns gute Freunde im wörtlichen wie auch im medial-metaphorischen Sinne, die Wirklichkeit nicht völlig aus dem Blick zu verlieren.

4 Kommentare zu „Trau deinen Augen nicht!“

  1. Alles ganz ausgezeichnet, bis auf einen kleinen Schnitzer: Öffentlich-rechtliche sind keine „staatlichen“ Medien. Sie sind vielmehr staatsunabhängig. Wer dauernd von „Staatsmedien“ oder „staatlichen Medien“ redet, das sind die Gegner des öffentlich-rechtlichen Konzepts auf der politischen Rechten und die Miesmacher in der Querdenker- und Verschwörungs-Szene.

    1. Sobald der Staat die Medien finanziell unterstützt, sind sie nicht mehr unabhängig. Das Sprichwort „wer bezahlt, befiehlt“ kommt nicht von ungefähr und schliesst die Medien mit ein. Unabhängig sind sie jedenfalls sicher nicht. Nach meiner Beobachtung und Erfahrung ist die schablonenhafte Einteilung von Links-Rechts die Verschwörungstheorie, denn die kritischen bis gegnerischen Stimmen kommen aus allen Lagern. Ohne den Mut auch quer zu denken, sind wir nicht in der Lage, gute Lösungen für komplexe Probleme zu finden.
      Nebenbei gesagt: ich war Jahrzehnte lang eine Linke, mittlerweile eher eine politisch Heimatlose, weil ich die von Links geforderte Meinungs-Gleichschaltung nicht vertreten kann. Also bin ich nun eine Querdenkerin ohne politisch rechte Konzepte? Und wer oder was ist mit Miesmacher genau gemeint?

  2. Susanne Gillmann

    Ich erlebe, dass junge Menschen (Konfirmand:innen) in einer ganz anderen Weise die Storys von Gott und Jesus Christus anzweifeln.
    Nämlich mit der Sorge, dass all das einfach Lüge ist.
    Ich bin manchmal hilflos, ihnen zu antworten, sie zu ermutigen, zu glauben. Und spüre zugleich die Sehnsucht nach einer Wahrheit, die mehr liefert als reine Fakten.

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