Der rote Tod
Der „Rote Tod“ wütet. Und der reiche Prinz Prospero lässt seinen Ruf ausgehen: Kommt her zu mir alle, ihr Verschonten und Gesundgebliebenen! Ich biete euch Zuflucht in einem abgeschiedenen Palast!
Draußen herrscht die Not. Aber die Grenzen sind dicht. Draußen tobt der Tod. Aber für manche gibt es ein Drinnen der Sicherheit.
Es ist leicht, sich über Prinz Prospero und seine tausend Freunde zu mokieren. Der eine oder andere politische Führer durfte sich in den letzten Wochen ja schon mit ihm vergleichen lassen. Es mag entlastend sein, auf die zu zeigen, die die Last verantwortlichen Lebens überhaupt nicht schultern wollen. Im Vergleich mit ihnen hält man so schön stand.
Unglück auf Distanz
Aber vielleicht hat Poe mit dieser Allegorie ja nicht nur einige im Sinn, sondern uns alle. Menschen sind so. Sie bringen das Unglück auf Distanz. Und dann suchen sie nach Zerstreuung. Und sie leisten einander Beihilfe beim Vergessen. Manche tun nichts anderes. Andere versuchen hilfreich zu sein soweit die Kräfte reichen. Aber vielleicht sind wir alle ein wenig wie dieser Prinz und die Seinen. Und Corona macht es sichtbar.
„Und die einen sind im Dunkel. Und die anderen, sind im Licht. Und man sieht die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ (Bertold Brecht)
So ähnlich ist es mit den Folgen der Erderwärmung, dem Raubbau an natürlichen Ressourcen oder der Akzeptanz von Ungleichheit und Ausbeutung als Preis für den Wohlstand derer, die in Sicherheit sind.
Tanz der Zerstreuung
Ist Corona nur die neueste Auflage des roten Todes? Und doch möchte ich Corona lieber mit einer anderen Begebenheit aus dieser Erzählung vergleichen. Manchmal – gerät der Tanz der Zerstreuung aus dem Takt. Jede Stunde wird das Vergnügen durch den Klang des Glockenschlags einer großen, alten Uhr unterbrochen.
„So lange die Schläge der Uhr ertönten, sah man selbst die Fröhlichsten erbleichen, und die Älteren und Besonneneren strichen mit der Hand über die Stirn, als wollten sie wirre Traumbilder oder unliebsame Gedanken verscheuchen.“
Obwohl eigentlich höchst vorhersehbar, ist der Glockenschlag regelmäßig die große Unterbrechung. So möchte ich Covid-19 sehen. Corona war ein Glockenschlag. Der Beginn der Pandemie war ein Einschnitt für uns alle. Plötzlich standen alle Räder still. Soviel Gemeinsamkeit gab es lange nicht oder nie. Social Distancing, Kontaktbeschränkung, Reiseverbote trafen Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Vermögen oder Herkunft.
Auf einmal schien es selbst zur Alternativlosigkeit Alternativen zu geben.
Lachen
Bei manchem keimte Hoffnung. Gerät nun die postfaktische Wissenschaftsverachtung ins Abseits? Oder ist es das Ende der kapitalistischen Globalisierung? Stoppt dieser Einschnitt den weltweiten Aufstieg populistischer Bewegungen? Oder stehen wir vor den Trümmern der freien Welt mit ihren offenen Grenzen?
Es gab einen globalen Moment, in dem solche Gedanken nicht sofort am Filter des Realitätschecks abprallten. Und dann schlug es ein letztes Mal. Und eine Zeitlang hallte der Klang nach. Und allmählich wurde es stille. Und es war wie im Schloss des Prinzen:
„Kaum aber war der letzte Nachhall verklungen, so durchlief ein lustiges Lachen die Versammlung.“
Was uns eben noch bis ins Mark erschütterte, verlor an Macht. Allgemeine Lockerungen setzen ein. Es war nur ein Glockenschlag. Puh, ganz schön laut. Aber es war ja auch nicht der erste seiner Art. Auch der Terror am 11. Sept. 2001 oder die Lehmann-Pleite setzten globale Schockwellen frei. Das waren vergleichbare Glockenschläge, die niemanden unberührt ließen. Was wurde damals nicht alles behauptet! Vom dritten Weltkrieg und vom Ende des Kapitalismus war die Rede.
Wie spät ist es?
Corona war ein Glockenschlag. Wie spät ist es auf unserer Weltenuhr? Welche Zeitansage teilt er uns mit? Im Schloss des Prinzen verkörpert der Glockenschlag den Einbruch einer Realität, der man nicht entkommen kann:
Wir sind zeitliche Wesen. Und jeder Glockenschlag macht es fühlbarer, als Worte es könnten: Leben ist endlich. Man entkommt diesem und jenem Sterben, aber niemals dem Tod.
Corona war ein Glockenschlag – und »Die Maske des roten Todes« verrät uns, was danach passiert.
Ein großes Weitermachen.
Alle machen weiter mit dem, was ihnen Sicherheit gibt. In der Welt des Prinzen wird weiter gefeiert, weiter musiziert und weiter getanzt. Draußen wird weiter gestorben. Gerade nach dem Glockenschlag entsteht nichts Neues. Was soll man denn nach der Erfahrung großer Verunsicherung auch sonst tun, als schnellstmöglich in Verhaltensweisen zu schlüpfen, die ein Maximum an Sicherheitsgefühl versprechen? Seit wann setzt Verunsicherung Kreativität frei? Weitermachen ist die Devise, vielleicht noch etwas schriller und extremer als zuvor, aber weiter im Takt. Das Zeitalter der Polarisierung hat uns wieder. Aluhut und Tugendstolz eifern um die Wette. Verunsicherung allein verändert nicht. Weder die Menschen im Schloss von Prinz Prospero noch uns.
Glockenschläge verändern nichts. Das müssten wir selber tun.