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 Lesedauer: 4 Minuten

Auf Entzug

Festliches kann befremden

Dieses Jahr bin ich besonders froh um die vielen Feiertage von Ostern bis Pfingsten. Nicht weil mir so festlich zumute wäre, sondern weil sie der Lähmung, in die ich durch den lock down gefallen bin, etwas entgegengesetzt haben: Rhythmus im Stillstand, Leichtigkeit trotz Schwere, Festliches statt Ratlosigkeit. Manchmal wurden mir dadurch kleine Epiphanien von Freiheit zugespielt, manchmal blieb mir das Festliche fremd; ich konnte nichts damit anfangen.

Eine Transformationsgeschichte

Vielleicht auch, weil die Feiertage nicht nur meinen Alltag beleuchten, sondern auch ihre eigene Geschichte erzählen. Eine Transformationsgeschichte derjenigen, die den Tod Jesu miterlebt haben, also seiner Jünger*innen. Ostern erzählt davon, wie gegenwärtig ihnen der tote Jesus war. Auffahrt erzählt davon, wie er ihnen entschwindet. Und Pfingsten erzählt davon, was in ihnen von Jesus lebendig bleibt.

Trauer um Verlust

Man könnte auch sagen: Hier wird ein Trauerprozess beschrieben. Eine Bekannte erzählte mir unmittelbar nach dem Tod ihres früh verstorbenen Mannes, sie sei voll Liebe. Sie strahlte eine intensive Festlichkeit aus, die ich nie vergessen werde. Und ein anderer erzählte mir von einer grossen Traurigkeit, die sich über sein Leben gelegt hatte. Ein Jahr nach dem Tod seiner Mutter habe er zu ihr gesagt: Das war ja schön das Spiel, aber jetzt ist es gut, jetzt kannst Du wieder vorkommen. Die Trauer kam, nachdem er realisiert hatte, dass sie nicht mehr kommt. Er habe sich wie auf Entzug gefühlt.

Dieses Bild des Versteckspiels, das nicht aufgelöst wird, hat mir die Erfahrung des Verlusts ins Herz gebrannt. Wenn ich daran denke, empfinde ich noch heute tiefes Mitleid mit meinem Bekannten, obwohl er schon lange nicht mehr trauert.

Verluste sind nicht nur traurig

Manche Verlusterfahrungen haben das Zeug, massstäblich zu werden. Aber eigentlich sind Verlusterfahrungen ein normaler Bestandteil unseres Lebens. Und wir machen damit sehr unterschiedliche Erfahrungen; manchmal sogar gar keine.

Nämlich dann, wenn wir neue Möglichkeiten ergreifen und das, dessen wir dadurch verlustig gehen, gar nicht bemerken. Ich denke an die Idole meiner Jugend, ohne deren Lieder und Bücher ich meinte, nicht leben zu können. Dann waren sie einfach weg und wurden durch anderes ersetzt.

«Nicht auszudenken, was mir alles entgangen wäre, wenn ich sie nicht verloren hätte.»

Manchmal schwirrt mir eine Melodie oder eine Textzeile durch den Kopf. Dann lächle ich, weil ich noch genau weiss, was damals so wichtig war. Oder eben nicht mehr.

Es gibt auch Verluste, die wir aktiv herbeiführen. Wir trennen uns von Partnern, wir künden Freundschaften auf und wir verabschieden uns von Überzeugungen. Wir sind dabei traurig, verstört oder melancholisch. Aber wir spüren die Notwendigkeit, diesen Verlust zu ertragen. Oder wir schätzen das, was wir gewinnen, höher ein, als das, was wir verlieren.

Orpheus und Eurydike

Das schönste Liebespaar der Antike, der Sänger Orpheus und die Nymphe Eurydike sind in vollkommener Liebe vereint. Da stirbt Eurydike, und Orpheus, überwältigt von Trauer, isst nicht mehr, schläft nicht mehr und komponiert die ergreifendsten Trauerlieder. Singend erreicht er das Totenreich und erweicht mit seinem Gesang die dunklen Könige der Unterwelt: Persephone und Hades. Eurydike darf mit ihm zurückkehren unter der Bedingung, dass sich Orpheus nicht zu ihr umdreht, bis beide zurück in der Welt sind. Sie machen sich auf den Weg. Orpheus geht singend voran, Eurydike folgt ihm, indem sie auf seinen Gesang hört. Sie sehen schon das Licht der Welt, als Orpheus sich zu Eurydike umdreht, aus Angst, sie könne ihm nicht mehr folgen. Und verliert Eurydike für immer.

Gewinn aus Verlust

Warum nur hat sich Orpheus umgedreht? Ich komme nicht über diesen Punkt hinweg. Es gibt Stimmen, die sagen, er habe es absichtlich gemacht. Damit er weiterhin so schöne Trauerlieder komponieren und singen könne, die selbst die Steine erweichen.

Als «killing your darlings» hat diese Botschaft ihren Weg in unsere Schreibwerkstätten und in die Kreativwirtschaft gefunden. Das stimmt schon, aber nur, weil auch das Gegenteil wahr ist. Denn manchmal müssen Lieblingsideen obsessiv verfolgt werden.

Dem Verlust Ausdruck geben

Was dabei aber verlorengegangen ist, ist der Weg, den Orpheus bis zu dieser Erkenntnis zurückgelegt hat. Sein Verlust hat ihn ins Totenreich geführt.

Und genau das ist der Ort, um den es am heutigen Sonntag geht. Er ist nach dem Beginn von Psalm 27 benannt ist: Exaudi!

«Höre, Herr, mein lautes Rufen, sei mir gnädig und erhöre mich.»

Bedrängt von Gegnern und Feinden, belagert von Ängsten, Zweifeln und Not schreit er zu Gott und ruft sich die heilsame Rettung herbei, die er sich vom Himmel erwartet.

Auffahrt erzählt von Verlust und Entzug. Exaudi erzählt vom Schmerz, der von ganz unten bis zum Himmel schreit.

 

 

Photo by Gabriel on Unsplash

1 Kommentar zu „Auf Entzug“

  1. Hans Ulrich Jäger-Werth

    Apropos Auffahrt. Da steht aber Lk 24, 52 „sie … kehrten mit grosser Freude nach Jerusalem zurück.“ Warum? Ein Denkanstoss liefert Apg 7, 55f., wo der mit dem Tod bedrohte Stephanus Christus zur Rechten Gottes stehen sieht.

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